„Was zur Hölle…? Wie zur Hölle…?“
„Könntest du das Wort „Hölle“ etwas differenzieren in meiner Gegenwart, bitte?“
„Was zum…?“
„Beendest du auch noch einen deiner Sätze oder wird das hier ein Ratespiel?“
„Was machst du da?“
„Ich mach Yoga.“
„Nackt?“
„Ja, man kann dann seinen Körper besser entfalten.“
Meint er das gerade ernst? Mein fünfzehnjähriger Bruder sitzt nackt in seinem Zimmer und macht Yoga. Das glaub ich ja jetzt nicht! Er ist eindeutig zum schnöseligen Gotteswanderer mutiert. Ich schließe die Tür mit dem gleichen Knallen, mit dem ich sie eben aufstieß. Eigentlich wollte ich nur einen Radiergummi von ihm leihen, weil ich meinen irgendwie verlegt hatte. Doch langsam glaube ich, dass mein Radiergummi in meinem Bruder versunken ist.
Ich war wütend auf ihn. Vielleicht auch wütend auf mich selbst, dass ich nicht schon so weit war wie er. Mein ganzes Leben lang hatte ich nie Zeit für irgendwelche Dinge, die mich interessierten. Mag vielleicht auch daran liegen, dass ich mich immer auf wichtigere Sachen konzentriert habe. Doch das versteht ja eh keiner. Schon gar nicht mein Bruder. Er geht jetzt jeden Sonntag um Punkt neun Uhr los, um pünktlich um zehn in der Kirche zu sein, zu der er wohlbemerkt höchstens zehn Minuten braucht. Okay, zwölf, wenn er Gegenwind hat und schleicht wie eine Schnecke. Was er in letzter Zeit öfters tut. Also das Schleichen. Er meint, man könne dann besser entspannen und Gott näher sein. Was faselt er da die ganze Zeit von Gott und seinem komischen Yoga? Ich dachte immer, das wären zwei ganz verschiedene Kulturen, die überhaupt nichts miteinander zu tun hätten. Mein Bruder ist wirklich zu einem hoffnungslosen Irren mutiert. Wie krieg ich ihn da bloß wieder raus? Er kann doch nicht ewig so bleiben? Das wäre dann nicht mehr mein Bruder, der da in seinem Zimmer sitzt und mit nacktem Körper Yogaübungen macht. Ich hab keine Lust mehr darüber nachzudenken und hau mir eine Heavy Metal CD rein und dreh sie auf volle Lautstärke. Sie übertönt meine Gedanken. Sie umfasst sie und saugt sie in sich auf, sodass ich nur noch den schweren Bass der Musik wahrnehme. Ich war eigentlich nie ein Heavy-Metal-Fan. Doch was soll man machen, wenn sich die ganze Welt verändert? Sie wird zu einem blutsaugenden Monster, dem man nur noch entweichen möchte. Doch wohin kann man schon fliehen? Wir sind auf der Erde gefangen. Immer wenn ich daran denke, wünsche ich mir, ein Astronaut zu sein. Die müssen es doch so gut haben. Einmal im Leben weg von der Erde sein. Weg vom Krieg. Weg vom Tod. Weg von all den Problemen, die man selbst auch noch verursacht.
Ich bin neunzehn. Sitze zu Hause in meinem Zimmer rum. Tue nichts als lernen. Wenn’s dir genauso geht, gebe ich dir einen Tipp: Hör auf! Es ist nicht schlau, in so jungen Jahren sein ganzes Leben zu verschwenden, um eventuell einen guten Job zu bekommen, der dann eh nur dein übergroßes Ego erfreut, aber dir überhaupt keinen Spaß macht. Also sage ich dir: erlebe etwas, irgendetwas Interessantes und Spaßiges, damit du nicht so endest wie ich, die neidisch auf ihren Bruder ist, weil er einen wirklichen Grund zum Leben hat und ich irgendwie nicht. Man sollte nicht neidisch sein, schon gar nicht auf seinen jüngeren Bruder, der sich mitten in der Pubertät befindet, aus der ich ein Glück schon längst raus bin. Doch manchmal wünschte ich mir, ich hätte sie noch. Denn dann könnte ich mich schneller umentscheiden und würde nicht groß über jegliche Konsequenzen nachdenken.
„Ich hätte SIE noch.“ Wie so eine Krankheit, die man unbedingt loswerden möchte, weil man sonst vermutlich an ihr zugrunde geht. Wer wünscht sich dann schon, dieses Zeug nochmal zu bekommen?! Im Grunde ist es wie eine Krankheit. Sie kommt nicht wieder, nur noch einmal später im Rentneralter. Ich glaube trotzdem, dass gerade das die schönsten Jahre im Leben sind, aber auch die schlimmsten. Man macht Sachen, von denen man denkt, dass sie super spektakulär sind, aber überhaupt nicht gefährlich und dann hängt man kopfüber an einem langen elastischen Seil an einer Brücke herunter und hofft, dass das Schicksal mit einem ist und man nicht geradewegs in den Tod springt. Man macht dumme Sachen, von denen man lernen kann, was man alles falsch machen kann im Leben. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte all die coolen, spektakulären, lebensmüden Fehler gemacht, die man machen kann. Doch jetzt ist es zu spät. Es hat eh keinen Sinn mehr.
Halt! Das sagt sich in dem Moment bestimmt jeder, oder? Aber wozu? Ich bin neunzehn! Ich hab mein ganzes Leben noch vor mir. Mit neunzehn ist man noch nicht zu zerbrechlich für den ganzen Bungee-Jumping-Kram. Warum also sagen „Es ist alles vorbei“? Ich brauche das nicht. Wenn ihr’s nicht bemerkt habt, ich verzweifle hier gerade. Diese ganze Scheiße von Erleben und Nichterleben macht mich total verrückt. Vermutlich bin ich einfach nur übermannt von dem Neid auf meinen Bruder. Ich denke, ich würde einfach sehr gerne wissen, wie es wäre, wenn ich nicht den ganzen Nachmittag an meinem Schreibtisch gesessen und Hausaufgaben gemacht hätte. Wie es wäre, wenn ich meine Freunde nicht immer abserviert hätte, sondern mit ihnen ins Kino gegangen wäre. Ich weiß nicht, wie es gewesen wäre. Denn es ist Vergangenheit. Ich kann mir nur vornehmen, dieselben Fehler nicht noch einmal zu machen. Mehr können wir alle nicht tun. Wie sagt man so schön? Man lernt aus seinen Fehlern.
Ein wundervolles Zitat aus dem Film „Frau Ella“ passt perfekt zu meinen überaus schnöseligen Gedanken: Später bereut man nicht die Fehler, die man gemacht hat, sondern das, was man nicht gemacht hat.