Geneviève war irgendwann in einen leichten Schlummer gefallen. Nach den Geschehnissen des vorausgegangenen Tages kam das einem Wunder nahe.
Erst die Geschichte mit den drei Betrunkenen, dann die Rettung durch den geheimnisvollen Schatten, und später die Ankündigung ihres Vaters, dass er sie mit dem Elsässer Adolphe Belfort zu verheiraten gedachte. Sie konnte es nicht glauben. Claude hatte sie tatsächlich an die Feinde des Königs verschachert! Aber das würde sie nicht einfach mit sich geschehen lassen. Darauf konnte er wetten. Sie würde niemals diesen süffisanten Mann heiraten, der sie bereits bei Tisch mit seinen Blicken auszuziehen begonnen hatte.
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als sie ein leises Klicken vernahm, das sich anhörte, als würde Metall auf Stein prallen. Sogleich erkannte sie, was die Ursache dafür war. Belfort schlug offensichtlich sämtliche Vorsicht in den Wind. Augenscheinlich wollte er das Problem einer schnellen Heirat durch ihre Entführung lösen!
Hellwach saß Geneviève auf ihrem Bett und lauschte den näherkommenden Geräuschen. Ein weiteres Klicken war zu hören. Wie konnten die Elsässer es wagen? Und warum tat ihr Vater nichts dagegen? Sie hatte immer gewusst, für ihn nur ein leidliches Anhängsel zu sein, aber dass er ihre Entführung duldete, setzte dem Ganzen die Krone auf!
Umgehend sprang sie aus dem Bett, lief zum Fenster hinüber und öffnete es. Anschließend blickte sie auf Wassergraben und Zugbrücke hinunter. Es war seltsam, dass man den Feind nicht hatte herannahen kommen. Das lag wahrscheinlich in der Tatsache begründet, dass die Hufe der Pferde mit Loden umwickelt worden waren. Nur so war es den Eindringlingen möglich gewesen, sich lautlos zu nähern und das Wachpersonal zu überrumpeln. Doch das Knarren der Zugbrücke sowie das Stimmengewirr waren unmissverständlich. Die Angreifer trugen keine Fackeln bei sich. Sie ritten in der Dunkelheit rasch über die Brücke in den Hof.
Irgendjemand von Belforts Männer musste im Schloss geblieben sein und die Zugbrücke herabgelassen haben.
Für einen Augenblick herrschte Stille. Der Mond hing tief, erzeugte in der Nacht eine Szenerie voller Illusionen und Schatten. Sein Licht spiegelte sich im Wasser des Grabens und beleuchtete das Schloss mit seinen zahlreichen Türmen und Zinnen.
Während sich eine Wolke vor den Mond schob, erschauerte Geneviève. Es war der Moment, in dem sie auf der gegenüberliegenden Seite einen Mann erkannte. Sein Gesicht lag im Dunkeln. Dennoch glaubte sie, ihn nicht das erste Mal zu Gesicht zu bekommen.
Wenige Minuten später schien der Mond wieder in den Raum hinein. Von dem geheimnisvollen Unbekannten, den sie zu sehen gehaben meinte, fehlte jede Spur. Hatte sie sich seine Anwesenheit nur eingebildet? Spielte ihr die Phantasie einen Streich?
‚Egal', dachte sie. ‚ich muss mich schützen.’
…Deshalb würde sie fliehen.
Nachdem der Entschluss gefasst war, rannte Geneviève zur Geheimtür. Dieses Mal würde niemand da sein, der die Tür hinter ihr verschloss. Wenn man den geöffneten Eingang entdeckte, wäre das zwar bedauerlich, aber längst nicht so schlimm wie die Ehe mit einem Mann wie Belfort.
Sie drückte auf den Stein. Doch nichts geschah. Die Tür wollte nicht nachgeben. Scheinbar versagte der Schließmechanismus.
„Oh, nein!", rief sie verzweifelt aus und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Mauer.
Nachdem sie merkte, wie unsinnig ihr Tun war, hielt sie inne.
Gespenstische Stille erfüllte den Raum, die kurz darauf von einem weiteren klickenden Geräusch unterbrochen wurde…
Belforts Männer waren ins Schloss eingedrungen und näherten sich ihrem Zimmer.
Schnell lief sie zum Fenster zurück, blickte in die Nacht hinaus und zum Schlossgraben hinunter. Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte es einfach nicht tun.
Plötzlich sah sie in der Finsternis etwas aufblitzen. Hatte sie den Verstand verloren? Diese Frage beantwortete sie sich mit einem klaren Nein. Dort drüben stand tatsächlich eine große, völlig in schwarz gehüllte Gestalt, schwang den Degen gegen die Angreifer und schaute zwischendurch zu ihr herüber…
Geneviève erwiderte den Blick des Mannes. Wie war er hierhergekommen?
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