Es war ein von silbrigem Tau bedeckter Morgen. Die sanfte Sonne blendete, die mit feuchtem Nebel umhüllten Grashalme umhüllten meinen Körper. Mir war es egal, dass das nasse Gras meinen Körper berührte. Mir war es egal, dass meine Ohren rot und meine Lippen blau waren. Mir war es egal, dass in der Küche der Herd an war und meine Nudeln jetzt vermutlich mehr als al dente waren. Mir war es egal, dass es letzte Nacht wie wild stürmte. Das einzige, was mir nicht egal war, ist, dass mir alles egal ist, weil du es mir nicht bist. Du bist mir nicht egal. Mir so etwas anzutun. Ich weiß gar nicht, wer dir das beigebracht hat. Von mir hast du das garantiert nicht. Ich laufe nicht weg. Ich stelle mich den Tatsachen. Und genau das und nichts anderes habe ich dich auch gelehrt. Du hast uns verlassen. Ohne nur ein einziges Wort zu sagen. Ohne dass wir überhaupt die Wahl hatten. Das ist nicht fair. Exakt ein ganzes Jahr ist es her, als ich dich zum letzten Mal sah. Ich vergesse nie dein Lachen. Es war immer etwas schnippisch aber gleichzeitig bewies es auch deinen Humor. Ich vergesse nie deinen Blick, der mich immer durchleuchtete und sofort wusste, was ich fühlte. Vor dir konnte ich nichts geheim halten. Manchmal nutztest du es aus, um ein Geburtstagsgeschenk schon vorher zu erhalten oder Papa und mich gegenseitig auszuspielen, besonders aber genoss ich es, dass du mir zuhörtest und mich tröstetest, als ich es brauchte. Ich vergesse nie deine Haarsträhne, die dir immer ins Gesicht fiel und die du gekonnt mit einem Kopfschwung an ihren Platz befördertest. Ich vergesse nie, was du als letztes zu mir sagtest: „Du bist nicht meine Mutter!“
Schiller sagte einmal: „Nicht Fleisch und Blut, das Herz macht uns zu Vätern und Söhnen.“ Das Herz macht die Familie, nicht das Blut. Ich weiß, es verletzt dich. Ich weiß, du findest es abstoßend, aber ich schrieb den Brief vor deiner Geburt. Und das ist der Punkt. Ich hatte die Gefühle, bevor du überhaupt auf der Welt warst. Ich wusste doch gar nichts von der Liebe. Schon gar nicht von der, die in einer Familie steckt. Aber kaum hielt ich dich in meinen Armen, kaum sah ich dein Lächeln, kaum spürte ich deine Haut auf Meiner, wusste ich was es war. Nie hatte ich nur den Gedanken gefasst, dich wegzugeben. Das war alles, bevor ich überhaupt wusste, welche Kraft du besitzt. Die Kraft der Liebe. Die Kraft des Zusammenhalts. Die Kraft der Sanftmütigkeit. Die Kraft der Freude. Die Kraft der Gesundheit.
Du hast den Brief gelesen, in dem ich dich für ein bisschen Geld einfach weggegeben hätte. Aber hast du den Brief gelesen, in dem ich dich für nichts auf der Welt hätte hergeben wollen? Den last du nicht. Der war dir scheiß egal. Er war auch in dem Briefumschlag, genau aus diesem Grund. Ich wusste, irgendwann hätte ich dir den Brief gegeben oder du hättest ihn gefunden. Und dann hoffte ich, dass du beide lesen würdest. Aber der andere war dir scheiß egal. Du hast schon lange an meiner Liebe gezweifelt. Du weißt doch, dass ich schlecht darin bin, meine Gefühle auszudrücken. Für mich reichten einfach Gesten aus. Ein Kuss auf die Stirn. Eine herzliche Umarmung. Eine Tafel Merci-Schokolade. Das war für mich die größte Bestätigung überhaupt, dass du mich liebst. Aber du brauchtest immer noch die Sprache dazu. Richtige Worte, die deutlich ausgesprochen wurden und dein ohnehin schon vorhandenes Gefühl bestätigten. Aber warum? Warum hattest du Zweifel an meiner Liebe? Warum zweifelst du an dir selbst? Du bist für mich das Beste, was mir je passiert ist. Glaube mir, ich wollte nie, dass du gehst. Ich wollte dich nie verlieren. Ich habe es in meinem Leben nie bereut, dass ich dich damals behalten habe, dass ich dich nicht weggegeben habe. Im Gegenteil, ich hätte es so sehr bereut, wenn ich genau das getan hätte, wenn ich dich damals nicht behalten hätte, wenn ich dich damals weggegeben hätte. Ich hätte es so sehr bereut. Du gibst mir Lebensmut, du gibst mir Kraft für jeden neuen Tag. Durch dich habe ich es geschafft, auch alleine jeden Tag für dich zu sorgen. Durch dein Lächeln konnte ich auch die schwersten Arbeitstage im Krankenhaus überstehen. Durch deinen Trost habe ich den Tod meiner besten Freundin überstehen können, da du bei mir warst. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Du warst immer da. Du warst immer an meiner Seite. Du hast mich unterstützt, wo du nur konntest. Du hast mir Halt gegeben in den schwersten Stunden. Doch jetzt, wo meine allerschwerste Zeit begonnen hat, bist du nicht da. Du bist nicht da, um mir Halt zu geben. Du bist nicht da, um mich zu trösten. Du bist nicht da, um mir mit deinem Lächeln neuen Lebensmut zu geben.
Mir ist es egal, dass das nasse Gras meinen Körper berührt. Mir ist es egal, dass meine Ohren rot und meine Lippen blau sind. Mir ist es egal, dass in der Küche der Herd an ist und meine Nudeln jetzt vermutlich mehr als al dente sind. Mir ist es egal, dass es letzte Nacht wie wild stürmte.
Das einzige, was mir nicht egal ist, ist, dass du glaubst du wärst mir egal. Ich kann mit diesem Gedanken nicht leben. Ich will nicht, dass du so über mich denkst. Ich hoffe, dass du irgendwann zurückkommen wirst. Ich hoffe, dass du irgendwann den zweiten Brief lesen wirst. Ich hoffe, dass du irgendwann verstehen wirst, warum ich nicht mehr leben konnte. Denn du warst nicht da, um mich zu trösten, weil ich so unendlich traurig war. Dein Lächeln war nicht da, um mich glücklich zu machen. Du warst nicht da, um mich in der schwersten Zeit zu halten, sodass mein Körper nicht das nasse Gras berührte, sodass meine Ohren nicht rot und meine Lippen nicht blau wurden, sodass der Herd in der Küche nicht das ganze Haus abgefackelt hätte, sodass der Sturm nicht alles nur noch verschlimmert hätte. Ich hoffe, dass du irgendwann verstehen wirst, dass ich dich liebe.
Ich schlief ein und wachte nie wieder auf. Mit dem Gedanken einzig und allein bei dir. Denn ich liebe dich.