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Nach dem Prompt „Wellhornschnecke“ der Gruppe „Crikey!“
Zusätzliche Inspiration: Felix' Erzählung über die magische 'Wallhornschnecke'
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"Mommy, guck mal!" Ruben hielt die große Muschel mit beiden Händen hoch. So eine hatte er am Strand noch nie gefunden.
Seine Mutter beugte sich herab. "Oh! Eine Wellhornschnecke."
"Wallhornschnecke?"
"Nein, Well-horn-schnecke, Schatz. Die findet man sehr selten. Die Schnecken gehören ins Meer und das wissen auch ihre Häuser noch. Nur sehr selten verirrt sich eine an Land."
Seine Mutter wuschelte ihm durch das Haar, richtete sich wieder auf und drückte den Rücken durch. Der Rücken tat ihr weh, weil sie sich bei ihrer Arbeit so viel bücken musste. Auch jetzt suchte sie bereits wieder nach Muscheln. Dann drehte sie sich jedoch noch einmal zu Ruben um.
"Nein, nicht in den Sack!" Er hatte die Muschel zu seiner anderen Ausbeute stecken wollen. Seine Mutter lächelte sanft. "Behalte sie. Die verkaufen wir nicht."
Erstaunt drückte Ruben das hübsche Schneckenhaus an seine Brust. Er durfte etwas so schönes behalten? Er konnte es nicht fassen.
"Wellhornschnecke", murmelte der Junge andächtig.
Erst Jahre später lernte er, dass die Schnecke ohnehin wertlos gewesen war. Das Haus war leer, und hübsche Schneckenhäuser wurden in ihrem kleinen Dorf nicht gekauft, nur das, was zum Leben notwendig war. Doch das war egal. Längst war das Schneckenhaus zu seinem liebsten Besitz geworden, eine ständige Erinnerung an seine Mutter, die sein Leben trotz der harten Umstände stets mit Liebe gefüllt hatte.
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Doch eine Mutter konnte nicht alles verhindern, und so ließ sie ihren Sohn einige Jahre später allein zurück. Ruben zog zum Hafen, wo er sich mit Diebereien und einigen kleineren Arbeiten über Wasser hielt. Bis er vom Walfänger hörte.
Die Walfänger fuhren oft hinaus auf die See. Die großen, dunklen Schiffe mit knatternden Segeln und den riesigen Harpunen im Bug sahen einschüchternd und majestätisch aus. Sie jagten die Giganten der See: Wale, Seeschlangen und Riesenkraken. Eine gefährliche Arbeit, die nicht jeder überlebte. Doch wenn so ein Schiff mit besonders reicher Beute in den Hafen einzog, dann konnten die Seeleute an Land gehen und brauchten sich nie wieder zu sorgen. Sie konnten so feine Dinge wie Tee, Rum und Zucker kaufen, die Ruben nur als Gewicht der Kisten kannte, die er für wenig Geld schleppte.
Ja, die Walfänger lockten mit unvorstellbarem Gewinn. So heuerte auch Ruben schließlich an. Er behauptete, dass er bereits erwachsen wäre. Der Vorsteher musterte ihn einmal streng unter dichten Brauen hinweg, dann trat ein mitleidiges Lächeln auf seine Lippen.
"Pass auf dich auf, Junge." Er unterzeichnete und ließ Ruben damit an Bord. Vielleicht hatte der Matrose gesehen, wie mager und verzweifelt der Junge war.
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Die Arbeit auf dem Schiff war hart, aber ehrlich. Und es gab zwei warme Mahlzeiten am Tag, eine Hängematte unter Deck und keinen Ärger, wenn man sich benahm. Ruben vermisste das Land zwar, aber er dachte an das Geld, das sie machen würden, und hielt durch.
Nun waren viele erfolgreiche Matrosen kürzlich an Land gegangen und nur wenige an Bord geblieben. Solche, die den Ozean und die Jagd liebten, sodass kein Lohn der Welt sie dazu bringen könnte, an Land mehr als einige Nächte zu verbringen. Diese lernten die Neulinge an, aber es geschah, dass einem der jüngeren Matrosen die Karte aus der Hand geweht wurde, als er diese dem Steuermann bringen sollte. Ein dummer Fehler, ja, denn die Karten sollte man aus diesem Grund nur gerollt transportieren oder kompliziert falten, sodass sie dem Wind nie ihre gesamte Größe als Angriffsfläche bot.
Niemand hatte das dem Jungen gesagt, denn für die älteren Seemänner war es selbstverständlich. Doch so verlor das Schiff seinen Kurs, noch dazu kurz, bevor der Kapitän aufgrund der schwindenden Vorräte umkehren gewollt hatte.
Sie suchten den Kurs zurück ans Festland. Doch die Tage zogen dahin, Fässer und Säcke leerten sich, und kein Land kam in Sicht.
Ruben saß auf der Reling und holte die Muschel hervor, die er noch immer bei sich trug. Während die Nacht über die Meereswellen sank und den Ozean in düsteres Feuer färbte, führte er die Muschel an die Lippen, um die Angst mit einem Lied zu vertreiben.
Wie die ersten Töne, leisen Hornrufen gleich, über die Wellen hallten, bewegten sich jedoch mit einem Mal die Spiegelungen der Sterne auf dem Wasser. Sie zogen sich zu einem Band zusammen, das schräg zum Schiff verlief. Als Ruben staunend das Horn sinken ließ, huschten die Lichter jedoch wieder an ihren Platz.
Nachdenklich sah er auf das Horn, hob es erneut und spielte einige Töne mehr.
Wieder bewegten sich die Spiegelungen und bildeten eine Linie, einen Strom, der Silberstraße gleich, der sie in die Nacht hinauszuziehen schien.
Ruben erinnerte sich an die Worte seiner Mutter. Die Muscheln gehörten ins Meer, das wussten sie. Sie kannten den Ort, an den sie gehörten. Dann rief er den Rest der Mannschaft aufgeregt zusammen und zeigte ihnen, was das Muschelspiel bewirkte.
Denn die Muschel wusste, wo in diesem endlosen Ozean ihre Heimat lag. Sie führte das Schiff zurück nach Kivehara, oder jedenfalls nahe genug an die Küste, dass der Walfänger den Rest des Weges alleine finden konnte.
⁂
Ein Jahr später hatte Ruben von dem mageren Gehalt nach der wenig erfolgreichen Fahrt ein Fischerboot gekauft. Ein Jahr lang hatte er Muscheln gesammelt, wie seine Mutter früher, sie über dem Feuer zubereitet und dann verkauft. Während die Muscheln im Topf brutzelten, spielte er ein Lied der See, eine klagende Weise, die von fernen Orten erzählte, und lockte damit die Kundschaft. Diese blieben wegen der köstlichen Muscheln, die er im Angebot hatte, seltene Wellhornschnecken, die nur er zu finden vermochte.
Nun, nach einem Jahr Arbeit, hatte er genug Geld, um einen kleinen Laden zu kaufen, ein Restaurant mit einer winzigen Küche und einem kleinen Ausschank, in einer Seitenstraße verborgen. Doch das Lied und der köstliche Duft würden die Kunden schon herführen. Bald würde er jemanden einstellen können, der ihm half, mit dem zunehmenden Strom der Gäste auszukommen.
Und schließlich konnte er Zucker kaufen, Tee und Rum, um seine Gäste damit zu bewirten. Das Muschelhorn jedoch, das ihm gezeigt hatte, wo er hingehörte, ihn auf den rechten Weg geführt hatte, hing über der Tür des wachsenden Ladens und manchmal, wenn abends der Wind genau richtig blies, tanzten die Sternbilder im Wasser.