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Nach dem Prompt „Gewöhnlicher Coquí [Tierische Pfeifgeschichten im Mondschein]“ der Gruppe „Crikey!“
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Fremdartige Laute erfüllten die schwüle Nacht. Zirpen, quäken und ein repetitiver Ruf, der wie 'Coquí' klang. Je länger Narius dem merkwürdigen Ruf lauschte, desto deutlicher schienen die Worte zu werden. Zuerst waren sie nur ein tierischer Laut gewesen, nun klangen sie mehr und mehr wie eine Stimme.
Coquí, coquí, coquí ...
Eine Fackel wurde in Narius' Versteck zwischen den dicken Blättern der Gummibäume geschoben. Dem in flackernde Flammen gehüllten Ast folgte Kapitän Windleser nach, der den jungen Elfen mit finsterem Blick musterte.
"Und?"
"Alles ruhig, Sir."
"Wieso antwortest du dann nicht auf meine Rufe?"
Narius klappte den Mund auf. "Häh?"
"Ich hatte doch gesagt, wenn ich wissen will, ob die Luft rein ist, rufe ich wie ein Pfeiffrosch. Und du antwortest dann entweder mit einem Krächzen wie ein Papagei oder einem Zirpen wie eine Grille!"
"Wie ... klingt denn ein Pfeiffrosch?"
Sorav Windleser schlug sich die Hand vor die Stirn. "Du Idiot! Komm mit!"
Narius folgte dem Kapitän durch das dichte Unterholz. Die Fackel schnitt die grüne Farbe der Pflanzen aus der Nacht, färbte die Ränder der Blätter orange, während die Oberseiten von Laub und Zweigen vom Mondlicht silbern bemalt wurden.
"Ich habe auf ein Pfeifen gewartet", erklärte er sich kleinlaut.
Der alte Zwerg grunzte, wurde aber nicht einmal langsamer. "Idiot!"
Narius nahm die Beschimpfungen des alten Seebären schon lange nicht mehr ernst. Er konzentrierte sich darauf, Sorav zu folgen. Trotz des Hinkens war der Alte auf dem unebenen Boden erstaunlich schnell unterwegs. Es ging einen Berg hinauf, wo sie auf die Wurzeln der vielen Bäume achtgeben mussten. Ein kaum erkennbarer Trampelpfad führte sie tiefer in den Dschungel. Das Rauschen des Meeres wurde leiser.
Schließlich gabelte sich der Weg vor einem moosbesetzten, verwitterten Findling. Sorav hielt die Fackel näher an den Stein und strich Ranken beiseite. Dann drückte er Narius eine Pergamentrolle vor die Brust. "Guck mal, was da steht, Junge. Mach dich mal nützlich."
Narius entrollte die alte Karte. Eine handgemalte Karte, deren Umriss diese Insel kennzeichnete. Im unsteten Fackelschein beugte Narius sich über die alte Schrift. Melerische Buchstaben, weshalb er sie lesen konnte.
"Ich denke, wir sind am Fuß der Weinenden Nonne, wie es hier heißt."
"Und?"
"Wir müssen nach links." Er drehte die Karte. "Bis zu einem Wasserfall, und dann offenbar hindurch ..."
"Das sehen wir uns an, wenn wir da sind." Sorav reichte ihm auch die Lederrolle, in der die zusammengerollte Karte vor Umwelteinflüssen geschützt wäre.
Narius rollte die Karte zusammen und sah denn fragend zu Sorav, der sich immer noch nicht rührte. Stattdessen hatte der Castianer einen gekrümmten Finger vor die dunklen Lippen gehoben.
"Hm?"
"Hörst du, Junge? Das ist der Pfeiffrosch."
Narius legte den Kopf schief.
Coquí, coquí, coquí ...
"Das ist ein Frosch?"
Sorav nickte grinsend. "Es heißt, das Co ist, um andere Männchen abzuwehren, und das Quí soll Weibchen anlocken."
"Aha."
Im nächsten Moment stürmte der alte Kapitän voran, die Fackel sprang brausend durch die Nacht. Narius stolperte eilig hinterher, die Lederrolle mit der Karte unter dem Arm. Schließlich hielt Sorav an und drehte sich zu Narius um. Die Augen des alten Mannes glitzerten wie die eines Jüngeren.
"Der Wasserfall."
Narius nickte. Das Rauschen hatte sich schon eine Weile zum Flüstern der Baumwipfel gesellt. Ihr Weg traf auf einen kleinen Bach, der weiter oben über steile Klippen stürzte. Hinter dem Band, das im Mondlicht wie Silbergeschmeide leuchtete, war eine dunkle Öffnung zu sehen.
Narius rückte die Lederrolle zurück und machte einen Schritt vor.
"Nein." Sorav hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zurück. "Lass mich vorgehen. Du wartest hier. Halte Ausschau."
"Ausschau? Nach wem? Fröschen?"
"Bursche!", sagte Sorav warnend. "Vergiss nicht, was du deinem Mentor versprochen hast! Du wirst auf jedes meiner Worte hören. Und jetzt sage ich dir, dass du hier warten sollst!"
Narius fügte sich mit einem Seufzen in sein Schicksal. Der Kapitän löschte die Flamme im Wasser und trat durch den Wasservorhang. Narius hörte ihn prusten, dann entfernten sich die Schritte des Zwergs, wurden bald vom Wasserfall übertönt.
Wozu hatte Sorav ihn überhaupt geholt? Narius verstand den alten Kauz nicht. Den Wasserfall hatte Sorav sicher bereits ohne Hilfe gefunden. Mit Verfolgern mussten sie hier auch nicht rechnen. Deshalb hatten sie ihre Suche ja in der Nacht begonnen.
Coquí, coquí, coquí ...
Narius drehte den Kopf. Der Frosch war nicht weit entfernt, blieb jedoch unsichtbar.
Schließlich kam Sorav Windleser zurück. "Alles klar, Junge. Dann komm mal her."
Fröstelnd trat Narius durch das eisig kalte Wasser. Vermutlich sollte er froh sein, dass Sorav ihn diesmal nicht auf dem Aussichtsposten zurückgelassen hatte.
Auf der anderen Seite des Wasserfalls führte ein schmaler Tunnel in die Tiefe. Er war gefüllt vom Brausen des Wassers. Narius tastete sich blind und frierend nach unten, bis er an eine Kreuzung kam.
"Und jetzt?"
"Das frage ich dich, Junge." Sorav war ihm gefolgt. "Was machst du jetzt? Ohne Licht, um die Karte zu lesen?"
"Ich wollte sie ja oben lesen, aber du sagtest ..."
"Und was zeigt dir das? Du solltest nicht immer darauf hören, was andere Leute sagen!"
Narius schüttelte fassungslos den Kopf. "Ich habe Spyridon versprochen ..."
"Und siehst du deinen Mentor hier irgendwo? Eben!"
Mit zitternden Fingern holte Narius die Karte heraus. Der Tunnel wurde auf der einen Seite breiter, schwaches Mondlicht fiel durch einen gezackten Spalt, der offenbar bis an die Oberfläche reichte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es keine Stolperdrähte oder andere Fallen gab, hielt Narius die Karte ins Licht.
"Wir hätten nach rechts gemusst", entzifferte er mühsam. "Dann kommt ein Teich, wo man durch das Maul des Hais tauchen muss. Was immer das ist. Dann soll man in die geheime Höhle gelangen, wo sich hoffentlich der Schatz befindet - und nicht noch eine Karte!"
Er drehte sich um, als Sorav nichts sagte. Der Kapitän lehnte mit verschränkten Armen am Gestein. Seine Zähne blitzten beim Grinsen. "Sehr gut."
Narius rollte die Karte ein. "Du warst bereits dort, richtig?"
"Natürlich. Aber ich möchte trotzdem, dass du den Weg suchst. Du sollst das lernen."
Narius nickte und steckte die Karte ein. "Ist es wenigstens der Schatz?"
"Wo denkst du hin? Wir haben es mit Piraten zu tun!"
"Eine weitere Karte."
Sorav schlenderte fröhlich voran. "Ja, aber diesmal ist es nur eine. Und ich habe das Gefühl, dass es die letzte ist."
"Dein Wort im Ohr der See", murmelte Narius.
Sorav lachte. "Du klingt schon wie ein echter Matrose, Junge. Sehr gut."