Die Glocken der nahen Kirche schlugen drei mal - es war eine Viertelstunde vor Mitternacht.
In dichten Flocken fiel der Schnee und bedeckte Strassen und Häuser. Ein kalter Wind blies.
Im Licht einer Kerze saß er am Tisch, über ein Blatt Papier gebeugt. Ohne Unterbrechung flossen nun die lang ersehnten Worte in seine Feder. Sie formten sich zu Sätzen, die Sätze zu einer Geschichte. Wie lange hatte er darauf gewartet! Gewartet auf eine zündende Idee!
Nun war sie da. In seinem Kopf war die Geschichte bereits greifbar.
Er seufzte, tunkte die Feder wieder ins Tintenfass und schrieb eilig weiter. Es galt, keine Zeit mehr zu verlieren. Eigentlich war er viel zu spät dran. Er wusste nicht, ob er es wirklich schaffen würde.
Das Glas Rotwein, sonst sein treuer Begleiter beim Schreiben, stand zwar auf seinem Tisch. Aber er fand nicht einmal die Zeit, sich einen Schluck zu gönnen. Er spürte, wie die Minuten zerrannen.
Er schrieb, wie er noch nie geschrieben hatte.
Acht Minuten vor Mitternacht legte er die Feder schwungvoll und mit einem tiefen Seufzer zur Seite. Geschafft! Zumindest beinahe. Nun musste er seinen Text nur noch zeitig zum Postamt bringen.
Er steckte den Text, auf welchem die Tinte kaum getrocknet war, in einen Umschlag, schrieb die Adresse darauf, suchte nach einer Briefmarke. Wo hatte er diese denn nur wieder hingelegt? Nervös wühlte er in seinen Papierbergen.
Fünf Minuten vor Mitternacht.
Er eilte zur Garderobe, schlüpfte in seinen Mantel und seine dicken Winterstiefel. Als er seinen Hut aufsetzte, flatterte ihm die Briefmarke entgegen. Ach ja... In weiser Voraussicht hatte er diese hier schon mal bereitgelegt.
Nun aber los!
Er verließ das Haus und eilte durch die stille Stadt dem Postamt zu. Dort war ein Briefkasten. Die Gehwege waren mittlerweilen voller Schnee.
Drei Minuten vor Mitternacht.
Er rutschte und ruderte mit beiden Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Als er beim Café "Feenzauber" gegenüber dem Postamt um die Ecke bog, fiel er der Länge nach hin. Fluchend versuchte er sich aufzurappeln.
Die Glocken der Kirche schlugen zwölf Mal - Mitternacht.
In diesem Moment öffnete sich die Türe des Cafés. Kleine, hübsche Wesen traten heraus. Nein, sie traten ja gar nicht, sie flogen heraus!
Erstaunt sah er sie an.
Eines dieser Wesen entdeckte ihn und näherte sich freundlich.
"Was ist denn mit dir los? Können wir dir helfen?"
Er schüttelte resigniert den Kopf.
"Wie wollt ihr mir denn helfen!"
Nun waren auch die andern Wesen auf ihn aufmerksam geworden. Sie waren alle geflügelt, glichen ansonsten aber winzig kleinen, jungen Frauen. Allerdings, so schien es ihm, waren sie etwas gar leicht bekleidet für diese Jahreszeit. Sie stellten sich vor ihm in eine Reihe.
"Unterschätze uns nicht!" sagte eine von ihnen mit klarer und gut vernehmbarer Stimme.
"Wir sind zu viel mehr fähig, als du dir überhaupt vorstellen kannst!" schmunzelte eine andere.
"Ach ja?" Er schaute sich die jungen Frauen genauer an. Seltsam, so klein sie auch waren - sie strahlten eine grosse Kraft aus.
Er räusperte sich verlegen.
"Nun ja... " Er suchte nach Worten.
Die jungen Frauen blickten ihn erwartungsvoll an.
"Dieser blöde Schnee... "
"Ja?"
"Er ist kalt und nass, nicht wahr?" kicherte eine mit blondem Haar. Ihm schien, sie trage einen Marienkäfer unter dem Arm. Er musste verwirrt sein. Dabei hatte er doch gar keinen Wein getrunken!
"Nun? Heraus mit der Sprache!" Eine andere junge Frau näherte sich ihm nun energisch. Sie schien einen Schild zu tragen.
Er begann, an seinem Verstand zu zweifeln.
Er räusperte sich noch einmal, suchte nach Worten. Was sollte er diesen jungen Dingern schon sagen? Die würden ihn ja ohnehin nicht verstehen!
Da fiel sein Blick auf den Umschlag mit seiner Geschichte. Dieser war offenbar bei seinem Sturz in den Schnee gefallen und nun schon ganz nass.
Er versuchte, ihn an sich zu nehmen.
"Was ist denn DA drin?" Die junge Frau mit dem Marienkäfer wirkte auf einmal sehr interessiert.
"Ach... nichts..." Er schüttelte traurig den Kopf.
"Nichts? Und deswegen rennst du nachts durch die Gegend und badest im Schnee?" Die ganze Schar brach in fröhliches Gelächter aus.
"Da drin ist eine Geschichte!" sagte er auf einmal mit trotzigem Unterton. Diese geflügelten Wesen würden ja eh nicht verstehn, was das bedeutete, eine Geschichte. Noch weniger, was sie IHM bedeutete. Aber jetzt war ja alles egal und überhaupt hatte sein Gehirn bei dem Sturz vorhin vermutlich Schaden genommen.
"EINE GESCHICHTE?" riefen da all die kleinen Frauen gleichzeitig.
"Ja! Und?" Beleidigt schaute er in viele fragende Augenpaare.
"Du bist also ein Autor?"
"Ähm - ja..."
Nun verging ihm Hören und Sehen, denn die geflügelten Wesen begannen einen Freudentanz um ihn herum zu machen, lachten und klatschten in die Hände.
Er sass da im kalten Schnee, begann langsam zu frieren und verstand - nichts.
"Einer von uns", sang die hübsche Kleine mit dem Marienkäfer, "einer von uns, einer von uns...!"
Er sah an sich hinab. Eigentlich, so fand er, sah er sehr anders aus als diese leicht bekleideten Dinger. Und Flügel hatte er definitiv keine. Sonst hätte er ja vorhin zum Postamt fliegen können.
Siedend heiss fiel ihm ein: Mitternacht war nun wirklich vorüber, die Chance vertan.
Er nahm den Umschlag, öffnete ihn, nahm seine Geschichte heraus und machte sich daran, sie zu zerreissen.
"HALT!" Die grau gekleidete, energische Frau mit dem Schild stürzte sich auf ihn und entriss ihm gekonnt seinen Text.
Sprachlos sah er sie an.
"Wohin wolltest du denn eigentlich mitten in der Nacht mit deinem Werk?" fragte sie ihn.
"Zum Postamt. Um Mitternacht lief die Eingabefrist für die Winterchallenge auf Belletristica ab. Aber nun ist ja alles vorbei und zu spät!"
Wieder begannen die jungen Wesen zu lachen.
Er fand das gar nicht lustig.
Zornig stand er auf und schüttelte sich den Schnee von den Kleidern. Die kleinen geflügelten Frauen verschwanden beinahe unter den Mengen von nassem Weiss, welche da auf einmal auf sie herabstoben.
Aber auf geheimnisvolle Art und Weise gelang es ihnen, sich rasch davon zu befreien.
Fröhlich lachend drehten sie eine Runde um ihn herum und verschwanden dann im Schneetreiben.
Als er wieder zu sich kam, sass er an seinem Tisch. Die Kerze war beinahe heruntergebrannt. Die Schreibfeder war auf den Boden gefallen. Das Glas Wein stand nach wie vor unberührt neben ihm.
Die Geschichte aber, welche er geschrieben hatte, war - verschwunden...