Sie saß in ihrem Bett und steckte sich eine frische Zigarette an der eben verglimmenden an. Ihre Hand zitterte. Etwas Asche fiel auf das weiße Laken. Mit der freien Hand versuchte Sofie vergeblich, sie abzukratzen. Das Ergebnis war ein unansehnlicher grauer Fleck, fast wie mit Kohle gezeichnet, aber lange nicht so kunstvoll.
„Egal“, dachte sie und lehnte sich zurück. Lange musste die Bettwäsche sicher nicht mehr dienen. Sie seufzte. Dieser Fleck ließ ihre Gedanken zurück schweifen. Damals als sie noch Kohlen aus dem Keller holen musste, um in strengen Wintern zu heizen. Damals hatte ihr Vater noch gelebt und auch ihre beiden Schwestern. Damals hatte sie noch nicht diese Damastbezüge besessen.
Sie strich über den schweren Stoff. Das gab ihr ein gutes Gefühl. Es markierte die Zeit, als sie begann selbstständig im Leben zu stehen. Für ihre Generation ungewöhnlich. Ihre Eltern hatten zum Glück auf einer guten Ausbildung ihrer Kinder bestanden. Nicht nur ihr Bruder war zum Gymnasium gegangen. Ihr Bruder – wo war er wohl geblieben?
Vermutlich lebte er nicht mehr. Wahrscheinlich schon lange nicht.
Der Krieg lag Jahrzehnte zurück. Auch der zweite.
Sie hatte die Kinder ihrer Schwestern aufwachsen sehen. Und deren Kinder.
Sie selbst hatte nie in Betracht gezogen zu heiraten. Warum auch? Ihr ging es ja gut. Sie hatte ihr Einkommen, wohnte im Haus ihrer Eltern. Nach deren Tod hatte sie ihre Schwestern ausgezahlt. Nun war es ihre kleine Villa. Ein Häuschen im Grünen. Vielleicht sollte das Dach mal erneuert werden. Egal. Sie liebte es.
Statt zu heiraten wie Lisa und Anna hatte sie die Welt erkundet. Zusammen mit ihrer Freundin, die auch Lehrerin geworden war, nutzte sie die Freiheit der langen Ferien und fuhr mal hier mal dorthin, wo es ihnen gerade gefiel. Zum Thuner See, nach Genf, zum Gardasee und einmal bis nach Venedig. Nein, einen Grund zum Heiraten gab es nicht. Eigene Kinder hatte sie nicht vermisst. Nur ihr ehemaliger Verlobter – naja. Fast-Verlobter. Der Schmerz war zu tief, um ihn zu fühlen. Er hatte ihr einen Ring geschenkt. Obwohl sie darüber gesprochen hatten, dass sie sich nicht verloben wollten. Nicht bevor er zurückkehrte. Dann war er abgerückt, der Herr Matrose. Sie seufzte. Er hatte so unglaublich gut ausgesehen in der Uniform. Sie drehte den Ring an ihrer linken Hand und betrachtete das Blitzen der Sonne auf dem Gold.
Eine Geste, mit der sie unmissverständlich alle Annäherungsversuche anderer Herren im Keim erstickt hatte. Sehr nützlich bei den Reisen mit Frieda, ihrer besten Freundin.
Die lebte nun auch schon lange nicht mehr. Wie lange mal noch? Egal. Es war eine gute Zeit gewesen. Sie waren weit herum gekommen. Das muss man sagen.
Mit einem Lächeln auf den Lippen steckte sie sich eine weitere Zigarette in den Mund. Erst das dritte Streichholz brachte die ersehnte Flamme. Die anderen waren abgebrochen. Sie schmiss sie in den ohnehin überfüllten Aschenbecher.
Wo Lukas wohl blieb? Sie hatte die genaue Uhrzeit vergessen, die sie mit dem jüngsten Enkel ihrer Lieblingsschwester verabredet hatte. Die war auch schon lange tot. Naja, wie das eben so ist. Er ging noch zur Schule, wohnte nicht allzu weit entfernt und verdiente sich gerne ein Taschengeld mit Besorgungen und leichter Hausarbeit. Im Garten half Jona. Er war der Älteste der Enkel-Generation und hatte Gartenbau studiert. Toll, was die jungen Leute sich einfielen ließen.
Sofie fragte sich, ob sie wohl auch aus der folgenden Generation noch jemanden kennenlernen würde. Wahrscheinlich war es nicht. Sie lebte schon in drei Jahrhunderten, war die Älteste geworden. Obwohl sie die Zweitjüngste war von vier Kindern. Nicht schlecht, was? Da sage noch einer, Rauchen sei ungesund. Sie gluckste vor Lachen bei der Erinnerung, wie ihr Vater getobt hatte, als er sie einmal mit einer Fluppe erwischt hatte. Aber sie war schon 21 gewesen und er konnte es ihr nicht verbieten. Trotzdem bemühte sie sich, ihr kleines Laster geheim zu halten. Den alten Herrn wollte sie nicht unnötig aufregen.
Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Den Spiegel streifte sie nur flüchtig. Es war Zeit, ihn wegzuräumen. So hübsch war sie nun auch nicht mehr. Aber Lippenstift musste sein. Immer wenn die Pflegefrau kam. Wie hieß sie mal noch? Egal.
Am besten sie sagte Lukas nachher Bescheid, dass er das gute Stück wegräumte. Auf den Dachboden vielleicht. Oder war das zu schwer? Egal. Er konnte ihn einfach ins Nebenzimmer schieben. Dann wär' er auch nicht gleich ganz weg, falls sie sich doch noch mal hübsch machen wollte. Der Landarzt war eigentlich ein ganz netter Kerl. Naja, mit Glatze schon, aber sonst, ganz passabel. Für sie jedenfalls.
Sofie drückte ihre Zigarette aus. Dann griff sie nach der Zeitung, die auf ihrem Bett lag. Die Pflegekraft, die morgens und abends nach ihr sah, hatte sie dort wie immer hingelegt. Unschlüssig bnetrachtete Sofie die Titelseite. Irgendwas mit Geld. Weltwirtschaft. Ja, das Geld hatten sie ihr schon mehrfach weggenommen mit ihren Reformen. Und nun noch der Euro. Naja. Dagegen kann man wohl nichts machen. Sie hatte trotzdem immer genug gehabt für das Nötigste – und ihre Reisen. Ach ja, die würden ihr fehlen. Wie lange war es her, dass sie in München war? Ihre letzte Reise. Schon ne Weile her. Egal.
Sie rutschte etwas tiefer in die Kissen. Griff nach einer Zigarette. Ihre Augen fielen zu. Ein bisschen ausruhen. Ihre Haut spürte den Damast. Mmh. Wie lange war es her, dass sie die Bettwäsche gekauft hatte? 50 Jahre? Länger? Egal. Sie kam manchmal mit den Zeiten durcheinander. Aber an die Situation erinnerte sie sich genau. Damals hatte sie noch überlegen müssen, was sie anschafft. Die Wäsche hatte sie mehrfach bewundert, war immer wieder hingegangen in den neuen Laden, gleich neben ihrem Lieblingscafé. Das konnte sie sich auch nicht oft leisten. Nur einmal im Monat. Als der neue Laden eröffnet hatte, hatte sie auch den Kuchen gestrichen, den sie sich manchmal gönnte. Sie hatte es sich genau ausgerechnet und drei Monate gespart. Dann konnte sie sich den Damast leisten. Und hatte sogar noch etwas übrig, von dem sie Flo etwas Stoff für ein neues Kleidchen kaufen konnte. Flo, eigentlich Flothilda, war ein Waisenkind gewesen, das in der Nachbarschaft bei einer Pflegefamilie untergekommen war.
Schenken war Sofies zweite Leidenschaft gewesen, neben dem Reisen. Es machte ihr noch immer Spaß. Aber jetzt konnte sie nicht mehr einkaufen gehen. Sie kam nicht mehr aus dem Bett hoch. Schon eine Weile nicht mehr. Sechs Wochen? Monate? Egal.
Sofie schlief zum letzten Mal ein.