Der heutige Tag verlief genauso wie die letzten. Im Dunkeln aufstehen, versuchen den Weg zu finden und nicht aus versehen einen meiner Mitbewohner zertrampeln. Sie alle bestehen nur noch aus Knochen, ummantelt von ein bisschen Haut.
Auch ich bin ein wandelnder Gehstock. Zumindest genauso dünn.
Trotzdem versuche ich es zu vermeiden auf etwas menschliches zu treten. Auch weil man nicht weiß, wie weit der Verwesungsprozess schon vorangeschritten ist. Laut dem Geruch zu urteilen, war er schon lange dabei uns zu zersetzten.
Nichts lebendiges zu berühren ist schwieriger, als du es dir vorstellen kannst. Überall liegen Arme, Beine, Körper, die nur darauf warten von dir getroffen zu werden, um dich dann wie ein ausgehungertes Raubtier anzugreifen. Alles ist voller Fäkalien. Irgendwo dort zwischen liegen auch ein paar, die es nicht überlebt haben. Die Ratten und Maden machen es sich dort gemütlich, doch wir verjagen sie immer wieder, wenn wir noch genug Kraft haben. Auch wenn sie nachts schon mal versuchen an uns zu knabbern, meist begnügen sie sich an bereits gestorbenen Überresten.
Mich wundert es manchmal, dass die anderen sich nicht über die toten Kollegen her machen. Aber wer weiß, was sie im Dunklen tun. Das würde erklären, warum manchmal alles mit Blut verschmiert ist, wie nach der Mahlzeit eines Raubtieres. Und es würde die Bissspuren an den Knochen erklären. Es könnte auch von den Ratten sein, doch die Spuren deuten auf größere Raubtiere hin.
Denn genau das sind wir alle.
Ausgehungerte Raubtiere, die in viel zu kleinen Käfigen gehalten werden.
Zum Glück werden wir körperlich an unsere Grenzen getrieben und bekommen zu wenig Nahrung. Was würde passieren, wenn wir noch genügend Kraft hätten, um uns zu wehren?
Das wäre schlimmer, blutiger als das hier. Auch wenn es so nicht schlimmer gehen würde.
Eine Ratte huscht in meinem Blickfeld vorbei und verschwindet zwischen den Rippen eines toten Körpers.
Doch vielleicht wäre es auch eine Erlösung. So schlimm kann der Tod gar nicht sein. Es kann nur eine Verbesserung sein.
Doch warum sind wir dann hier und nicht tot?
Warum riskiere ich es dann nicht einfach?
Wovor habe ich noch Angst?
Ich habe nichts mehr zu verlieren!
Was ist der Sinn daran sich hier so lange zu quälen?
Damit andere ein besseres Leben haben, billige Kleidung. Wir hier haben nichts. Nicht mal genug Essen.
Ein Knurren hallt durch die Hütte.
Ob es ein Tier von draußen war oder von drinnen kam, lässt sich nicht sagen. Die Wände sind zu dünn.
Wahrscheinlich kam es von innen. Von einem der Raubtiere. Vielleicht war es auch nur ein Magen.
Es war viel zu dunkel, um dies mit Sicherheit sagen zu können.
Ich ziehe meine löchrige Decke enger um meinen Körper. Doch wenigstens habe ich eine Decke. Dann kann ich mir wenigstens einbilden vor dem Ungeziefer geschützt zu sein.
Überall habe ich Schmerzen, selbst das Liegen war eine Qual. Mittlerweile störe ich mich gar nicht mehr daran. Es war normal. Ich würde mir Sorgen machen, wenn ich keine Schmerzen mehr hätte.
Mein Magen war schon ganz still geworden, weil er wusste das es eh nichts bringt. Mein Magen hatte es verstanden. Ich nicht.
Eines muss ich ihnen lassen. Sie wissen wie man mit gefährlichen Raubtieren umgeht.
Sie können uns perfekt im Zaum halten, keiner kommt überhaupt auf die Idee etwas gegen die Dompteure zu unternehmen. Weil es nicht bringt. Kämpfen ist sinnlos.
Sie haben es geschafft uns zu zähmen.
Früher hatte ich die Menschen immer bewundert, die es schaffen wilde Tiere zu zähmen, aber mittlerweile kannte ich die Wahrheit. Ich habe selbst gespürt, wie sie es schaffen, wie sie jeden Widerstand ersticken. Wie es von außen den Anschein macht, als wäre das freiwillig. Als wäre es die beste Alternative, als wäre alles andere schlimmer. Selbst wir glauben es mittlerweile.
Zumindest fast alle. Doch es war egal. Es macht keinen Unterschied was wir denken oder fühlen. Warum tun wir es dann noch?
Warum gibt es überhaupt diesen Unterschied? Warum müssen die einen gequält werden, damit andere ein tolles Leben ohne Arbeit führen können?
Sie reden immer alle von Zusammengehörigkeit und so.
Aber wieso funktioniert es dann nicht?
Warum bedeutet Zusammenarbeit immer, dass andere die schlechten Arbeiten erledigen müssen?
Sie behaupten, es gäbe keine Sklaven mehr, verurteilen alte Völker, weil sie Sklaven hatten. Doch den meisten Sklaven ging es besser als uns.
Nur weil man uns Wanderarbeiter nennt, ist es gleich viel besser als Sklaven.
Alle erzählen immer davon, dass alle Menschen gleich sind, jeder hat die gleichen Rechte. Doch funktionieren tut es nicht. Es gibt nur keine Sklaven mehr. Sie heißen einfach anders und das Problem ist erledigt.
Man muss die Reichtümer gerecht verteilen, jeder muss die Möglichkeit haben seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen! Nicht geschenkt bekommen, sondern verdienen. Auch nicht trotz Arbeit verhungern.
Jeder muss die gleichen Rechte haben.
Es muss eine globale Zusammenarbeit geben, alle gegen ein Ziel.
Kein Krieg wegen irgendwelcher gekränkter Egos. Kein sinnloses Ermorden von anderen Menschen oder Tieren nur zum Spaß.
Kein Quälen anderer Lebewesen.
Keine absichtliche Zerstörung der Welt.
Aber das betrifft mich doch alles nicht.
Der Egoismus ist das Problem.
Wenn die Menschen, diesen Egoismus nicht überwinden werden, dann zerstören sie sich selbst.
Doch all das werde ich nicht mehr erleben.
Ich kann es nicht mehr.
Es ist egal, was ich mache.
Ich muss sterben, damit andere leben können. Dann will ich wenigstens den Maden und Ratten zum Futter dienen. Mehr kann ich wahrscheinlich eh nicht mehr tun. Doch ich kann es versuchen.
Ich springe auf, achte nicht mehr auf die Raubtiere. Lasse mich von ihnen zerfleischen. Hoffe, dass es Wellen schlagen wird. Hoffe, dass das Tagebuch Veränderungen bewirken wird. Damit nicht alles egal war.
Ich spüre den Schmerz, spüre wie Knochen brechen, schreie vor Schmerz. Spüre wie das Blut aus meinen Wunden fließt, wie die Kraft verschwindet. Spüre wie mir meine Organe aus dem Körper gerissen werden, wie der Schmerz sich in Erlösung verwandelt.
Denn das alles ist eine Erlösung im Gegensatz zu dem, was ich in der Fabrik erleben musste.
Meine Seele verlässt meinen leblosen Körper und beobachtet interessiert das Spektakel. Alles ist voller Blut und abgerissene Körperteile liegen verstreut, dort schlängelt sich ein Darm aus einem Körper, ein abgetrennter Kopf schaut mir aus seinen hohlen Augen hinterher.
Alles ist das ist überzogen mit roter Farbe. Der Farbe der Liebe. Doch auch der Gefahr. Einer wunderschönen und doch so schmerzhaften Farbe.
doch ob es etwas verändern kann, ist unklar. Wahrscheinlich nicht. Doch ich habe es versucht.
Alles was jetzt kommt ist besser als das Leben.
Wenigstens haben die Ratten und Maden nun genug zu essen.
Wir hatten es nicht.