Die 12. Fahrt
Er hatte sich entschlossen, es noch einmal zu versuchen. Ein letztes Mal. Er war nicht mehr der Jüngste mit seinen 68. Die Reise war anstrengend, das wusste er aus seinen vorhergehenden Besuchen. Und Ägypten war weit. Er hatte das Gefühl, dass hier in Deutschland unruhige Zeiten anbrechen würden.
Letztes Jahr war seine Schwester verstorben. An Sylvester hatte sie noch zu ihm gesagt: "1933, eine Schnapszahl - wird ein gutes Jahr". Er hatte niemanden mehr hier. Und er hatte das Gefühl, dass er nicht mehr wiederkehren würde.....
Es waren alle Dinge hier geregelt, für den Fall daß.
Es würde seine zwölfte Fahrt werden ins Land der Pharaonen. Er hatte schon immer gehofft, etwas Besonderes dort zu finden und in den letzten Monaten hatten sich diese Träume intensiviert. Die Königin. Er sah ihr Gesicht. Erst nur verschwommen, doch mit jedem Traum wurde es deutlicher. Er spürte eine besondere Verbindung zu ihr, so als ob er sie schon lange kenne würde - von früher eben....
Zwei Wochen später war er vor Ort. Er wollte wieder dort graben, wo er damals aufgehört hatte. Im Tal der Könige. Sie hatte ihn dorthin gerufen - in seinen Träumen - in Gedanken schalt er sich einen Narren und doch war die Anziehung zu groß gewesen. Nun war er also hier. Er hatte sich ausschließlich von seinem Gefühl leiten lassen, bei der Auswahl der neuen Grabungsstelle. Eigentlich ein No Go, ohne Fakten oder irgendwelche Informationen oder zumindest Vermutungen.
Yussuf, sein treuer Vorarbeiter, der ihn schon seit Jahren bei seinen Ausgrabungen begleitete, hatte ihn etwas verständnislos angesehen, als er die neue Ausgrabungsstelle sah. Aber trotzdem - hier musste es sein. Sie fingen mit dem Graben an und er schärfte Yussuf ein, dass jede Kleinigkeit wichtig wäre, auch wenn sie noch so klein war.
Zwei Wochen schon waren sie nun vor Ort, hatten Tonnen von Sand bewegt. Gefunden hatten sie nichts. Nicht den aller kleinsten Hinweis. Langsam machte sich Resignation breit und die Tage schienen zu allem Übel immer heißer zu werden. Es war alles sehr anstrengend.
Er war sehr erschöpft an diesem Abend und ging recht früh zu Bett. Er hatte sich nie recht an das einfache Feldbett in seinem Zelt gewöhnen können, aber heute war er dermaßen müde, dass es ihm wie das komfortabelste Himmelbett vorkam. Er schaffte es kaum noch, sich zuzudecken und war sofort eingeschlafen. Der Traum kam dann recht schnell...
Er sah sich in einer großen Halle. Fackeln brannten überall. Er sah an sich herab. Sandalen, altägyptische Kleidung. In seinem Gürtel steckte ein reich verzierter Dolch. Und auf seinem Kopf war das, was ihn als König von Unter- und Oberägypten auswies. Er war der Pharao!
Er ging in die Mitte der großen Halle. Er erkannte das Bett wieder. Es war ihr gemeinsames Ehebett. Ebenholz mit reichen Verzierungen an den Stützen, die das Dach trugen und rings herum wallte im leichten Luftzug ein luftiger weißer Stoff. Er wusste, dass dies sein Hochzeitsgeschenk gewesen war an sie. Seine Königin. Er spürte etwas Vertrautes in seiner Nähe und sah sich zur Seite um. Dann sah er sie. Sie war so wunderschön und hatte für ihn den Skarabäus angelegt, den er ihr geschenkt hatte.
Als sie sich 6 Monate zuvor das erste Mal gesehen hatten, waren sie beide sofort unsterblich ineinander verliebt gewesen. Heute war ihre Hochzeitsnacht. Der schwarze Skarabäus glänzte auf ihrer Haut. Skarabäus! Skarabäus! Skarabäus!
Ruckartig wurde er ins Hier und Jetzt zurück katapultiert. Verwirrt erwachte er auf seinem einfachen Feldbett. Yussuf strahlte ihn an und rüttelte immer noch an ihm. Skarabäus! Skarabäus!, rief er immer wieder. Er hielt einen Anhänger in die Luft. Ein schwarzer Skarabäus-Anhänger an einer Halskette!
Augenblicklich war er hellwach. Er nahm den Anhänger in die Hand. Ein wohliges Gefühl durchströmte ihn. Er hielt ihn sich unter seine Nase. Es schien ihm, als würde er den Geruch wahrnehmen. Den Geruch von ihr. Als wäre der Skarabäus gerade von ihrer Haut abgenommen worden und ihr wohlriechendes Parfüm haftete noch daran. Sehnsuchtsvoll sah er das Schmuckstück an.
Er musste weitersuchen - sofort. Das Frühstück ließ er ausfallen und machte sich mit Yussuf sofort auf den Weg, um sich die Fundstelle zeigen zu lassen. Drei Tage und Nächte gruben sie unentwegt immer weiter, bis sie endlich vor ihnen lag: Die erste Stufe einer Treppe! Er wusste, dass es 12 Stufen sein mussten und er hatte Recht. Nach der 12. Stufe gelangten sie an eine steinerne Tür. Auf der Tür befand sich ihr Zeichen: Der Skarabäus!
Vorsichtig wurde eine kleine Öffnung geschaffen. Dann ließen sie die Arbeiten ruhen. Es war spät geworden. Er, Josef, wollte noch einmal ausschlafen, bevor er sie wiedersah. Yussuf war mit der Bewachung der Grabungsstelle betraut worden. Er wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte. Kurz vor dem Ziel seiner Träume begab er sich in sein Zelt und legte sich auf sein Feldbett......
...... ein stechender Schmerz machte sich plötzlich in seiner linken Schulter bemerkbar. Kaum eine Minute später stand er wieder mitten in dem großen Saal. Nur Sekunden davon entfernt, seine große Liebe endlich in die Arme zu schließen zu können. Er ging auf sie zu und sah in ihr Gesicht. Entsetzen war plötzlich ihren ebenmäßigen Gesichtszügen gewichen. Ein stummer Schrei schien ihre Lippen zu verlassen zu wollen.
Dann spürte er, wie etwas in seinen Körper eindrang und ihm alle Kraft nahm. Er ging auf seine Knie nieder. Der Speer hatte ihn tödlich verwundet. Eine Verschwörung hatte sich bis in das Schlafgemach der Pharaonen vorgewagt und seinem Leben ein jähes Ende gesetzt. Nekhet-amun beugte sich über ihn. Der Skarabäus baumelte vor seinem Gesicht. Dann wurde es dunkel....
Doch der Traum ging noch weiter. Er sah, wie Nekhet-amun den Dolch aus seinem Gürtel zog und ihn in die Höhe hob. "Nur dieser - kein anderer" rief sie und folgte ihm nach.... Sie hatte gehofft, an seiner Seite bleiben zu können, doch nicht bedacht, dass man einen anderen Weg einschlägt, wenn man sein Leben selbst beendet. Und er sah, dass erst jetzt die Möglichkeit für ein Wiedersehen gegeben war.
Und er erkannte: 12 Inkarnationen später - zwölf Treppenstufen zu ihr.
Kurz darauf stand er vor der Tür, die nun vollends geöffnet war. Er bestand darauf, alleine hinein zu gehen. Yussuf mahnte zur Vorsicht. Die Petroleumlampe wies ihm den Weg. Die Kammer war in gutem Zustand, dass sah er sofort. Er entdeckte den Sarkophag. Auf dem Deckel ihr Zeichen - der Skarabäus. Er berührte ihn sanft und hatte dieses wohlige Gefühl. Am Ende des Deckels lag etwas. Er leuchtete mit der Lampe dorthin. Es war ein Dolch.
Nein, es war der Dolch! Behutsam nahm er ihn auf und wischte den Staub ab.
Ein seltsames Gefühl beschlich ihn. Da stand er nun nach über 3000 Jahren hier und hielt den Dolch in der Hand, der dazu führen sollte, dass sie sich nicht verloren. Und nun war er immer noch allein. Etwas irritierte ihn. Nein! Er war nicht allein!
Langsam drehte er sich um. Dann sah er sie. In ihrer ganzen Schönheit stand sie hinter ihm und lächelte ihn an. Sein Herz machte einen Freudensprung. Sie streckte ihre Hand zu ihm aus und sagte: "Komm', heute ist unsere Hochzeitsnacht!"
Es war nur eine Handbewegung... .. und dann waren sie endlich vereint.
Tolkien