Eine Träne perlte auf das Papier. Zusammen mit ihren nicht gezählten Vorgängerinnen bildete sie bereits einen beachtlichen dunklen Fleck. Doppelt so groß wie das Siegel aus Wachs, das daneben prangte. Marion bildete sich ein, einen Drachen darin zu erkennen. Oder war es nur ein Tropfen, der versehentlich von einer Kerze getropft war? Sie rupfte ein Tuch aus der Pappschachtel auf ihrem Schreibtisch, schneuzte sich kräftíg und wischte dann ihre Augen mit dem Polyamid-Ärmel ihres Pullovers trocken.
Den Brief, den sie schon hundert Mal studiert hatte, faltete sie langsam zusammen und legte ihn in eine Schachtel. Die verschwand dann sorgsam in der untersten Schublade des Rollcontainers auf der rechten Seite des Schreibtisches. „So ein Kitsch“, rief sie in den leeren Raum und stand auf. Häufiger als Austens 'Stolz und Vorurteil', von dem ein zerfleddertes Exemplar neben ihrem Schlafsofa lag, hatte sie diesen Brief eines Verehrers ihrer Großmutter mütterlicherseits gelesen. Ob sie sehr auf diesen Brief gewartet hatte? Und der Verfasser, Egon, der seine Elisa so wortreich anzuschwärmen wusste, was hatte er gedacht, gefühlt? Ob er lange auf seine Angebetete gewartet hatte? Oder ob der Krieg ihn dazu gezwungen hatte. Womöglich hatte er auch nie erfahren, dass sie ihre Liebe einem anderen zugewandt hatte.
Hatte sie das?
Marion schüttelte sich. Sie grabschte eine Hand voll Erdnüsse aus einer halb leeren Aluminiumdose, die auf einem ihrer weißen Bausatzregale stand. Sie verabscheute alles Alte und hatte es nach dem Tod ihrer Eltern sorgfältig aus ihrer Umgebung verbannt. Alles, außer diesen Brief. Aber genau genommen gehörte er auch nicht zum Erbe.
Sie kaute und langte ein zweites Mal in die Dose. Eigentlich war dieser Brief ein Wunder. Nie hatte ihr jemand einen Liebesbrief geschickt, nicht einmal per SMS oder Whatsapp. So what. Schnell stopfte sie mehr Erdnüsse in den Mund. Andererseits, auch ihre Großmutter war sich sicher nicht verwöhnt vorgekommen. Ob sie etwas vermisst hatte? Oder – Marion kam der Gedanke schrecklich vor – ob sie vielleicht sogar erleichtert war, als sie so lange nichts mehr von dem guten, alten Egon gehört hatte? Armer Egon. Aber vielleicht war es das beste gewesen.
Sie stand auf und ging zum Fenster. Es regnete immer noch. Seit Tagen schon. Vielleicht sollte sie sich heute trotzdem noch raus wagen. Sie war ja nicht aus Zucker.
Das hatte ihre Mutter früher immer gesagt, wenn sie bei schlechtem Wetter nicht draußen spielen wollte. Marion fand den Ausspruch damals einfach nur dämlich. Heute lächelte sie darüber.
Sie wandte sich wieder dem Zimmer zu. Es war sehr schlicht eingerichtet. Ein Sofa, das nachts ausgezogen zu ihrer Schlafstatt mutierte, die Regale an zwei Seiten voller Bücher und Skulpturen, ein paar Grünpflanzen und der Schreibtisch. Alles entlang der Wände aufgereiht. Die Mitte war frei geblieben und bot ausreichend Raum für die kleine Tai Chi-Form, die sie vor über 50 Jahren gelernt hatte, und die sie seitdem mehr oder weniger regelmäßig praktizierte. Bei dem Gedanken daran nagte das schlechte Gewissen an ihr. Wie lange war es her? Zwei Wochen, drei, seit sie das letzte Mal die 'fünf Elemente' gelaufen war?
Sie wischte die Finger an ihrem Pullover ab und trat rasch in die Mitte. An die Stelle, wo der Teppichboden schon etwas abgewetzt war.
Die Füße etwa schulterbreit, den Körper aufgerichtet wie an einem Faden, der sie mit Himmel und Erde verband, die Arme an den Seiten. Sie lauschte in ihren Bauch und atmete ein paar Mal tief durch, bevor ihre Arme sich in überraschend fließender Bewegung hoben. Fließend senkte sie sie wieder und folgte der Bewegung mit einer Art Kniebeuge. 'Wecke das Chi und fließe dahin.' Marion dachte an die vielen Tränen, die sie in den vergangenen drei Tagen vergossen hatte. Wie eigentlich sinnlos. Sie kam wieder hoch und beschrieb mit den Armen einen weiten Kreis. 'Wachse wie ein Baum und finde deine Mitte.' Ein Glück, dass sie lebte! Und was für eins. Sie ließ ihre Hände eine Bewegung machen, die Feuer darstellen sollte. 'Gehe als Feuer nach außen und schau dein Leben noch einmal an.' Ihre Hände formten eine Geste, als lese sie in einem Buch. Oh ja, wie hätte alles anders sein können.
Sie schauderte bei dem Gedanken und zwang sich zur nächsten Geste ihrer Tai Chi-Form. 'Lass los...' Ob er sehr gelitten hatte? Oder sie? 'Werde voll wie die Erde'. Es war so lange her. Beide waren längst zu Erde geworden. Dieser Egon und ihre Großmutter.
Und sie, Marion, stand nun da mit all dem Liebeskummer, den vergeblichen Hoffnungen. 'Und es bleiben noch Wünsche und Sehnsüchte.' Die Arme reckten sich zur einen, dann zur anderen Seite. Ihre Großmutter - unerfüllt oder nur anders erfüllt? '...und so wecke wieder das Chi und gib dich dem Strom des Lebens hin...' Marion vollführte den nächsten Zyklus der Form.
Wäre der Brief früher gekommen...
Schlechtes Gewissen nagte an ihr, während sie ihrer Oma wünschte, dass sie nicht diesem Egon nachgetrauert hatte. Damals... Ob sie lange gewartet hatte? Und wie war es ihm ergangen, hatte er gelitten, hatte er von ihrer Heirat mit einem anderen erfahren? War er überhaupt aus dem Krieg zurück gekehrt? 'Und wieder bleiben Sehnsüchte wie Metalle' Sie wünschte ihm das Beste.
Während sie erneut das Chi in sich weckte und heran wuchs, stellte sie sich lieber nicht so genau vor, was gewesen wäre wenn... Ihre Großmutter war einen anderen Weg gegangen, als Egon sich offenbar erhofft hatte. Seufzend las Marion im Buch des Lebens und ließ den Kummer los, den ihr Nicht-Großvater vermutlich in der Folge mit sich genommen hatte. Sie wusste nichts über ihn, ja bis zu diesem Brief hatte sie nicht einmal etwas von seiner Existenz gewusst. Wieder blieben Sehnsüchte und Wünsche übrig und so rief sie ein neues Leben und floss wieder dahin als Wasser. Konnte Egon weinen, hatte er wieder geliebt, war er sauer, hatte er verziehen? Und wie lange mochte das alles gedauert haben. Sie las einmal mehr im Buch und ließ es los. Erstaunlich, wie sehr ihr der mutmaßliche Liebeskummer eines Mannes, den sie weder gekannt hatte, noch mit dem sie verwandt war, zu schaffen machte. Ob er wenigstens den Krieg überlebt hatte? Nun, jetzt wäre er ohnehin tot. Marion schalt sich wegen ihrer Gedanken, die sie überflüssig fand und doch nicht stoppen konnte. So begann sie ein weiteres Rad der Elemente, doch auch dieses Mal konnte sie keinen Frieden finden. Und das alles nur wegen diesem Brief. Schließlich gab sie es auf, verbeugte sich und griff mechanisch in die Erdnussdose.
Enttäuscht, dass die nur noch drei oder vier Erdnüsse hergab, machte sie sich auf den kurzen Weg über den Flur in die winzige Küche, ließ die leere Dose in den gelben Sack fallen. Erdnussmangel war ein Grund, dem Regen zu trotzen. Auch wenn es sonst nicht viele gab. Seltsam, was Menschen so bewegt, dachte Marion und griff nach ihrem Mantel. Das Portemonnaie war an der richtigen Stelle. Die Schlüssel behielt sie wie immer in der Hand, bis die Tür hinter ihr zugefallen war. Beim Hinausgehen schaute sie in den Briefkasten. Zum dritten oder vierten Mal heute. Mindestens. Obwohl sie selten Post bekam. War ja auch nicht mehr Mode. Bis vor kurzem hatte sie oft eine Woche verstreichen lassen, bevor sie wieder einmal nachschaute. Aber jetzt war alles anders. Seit drei Tagen genau genommen.
Auf dem Weg zum Supermarkt begegneten ihr nicht viele Menschen. Die meisten nutzten ja das Auto zum Einkaufen. Marion seufzte wieder. Schalt sich sentimental und dachte erneut an Elisa und Egon. Alles hätte anders sein können. Schuldgefühle nagten an ihr. Eigentlich war sie erleichtert, dass der Brief nicht früher gekommen war. Sie warf gleich ein halbes Dutzend rote und blaue Erdnussdosen in ihren Einkaufswagen. Eine Tüte Gummibärchen dazu und einen Salatkopf für das gute Gewissen. Sie grinste. Das alles hätte sie vielleicht nicht haben können, wenn... Ungewohnt beschwingt zahlte sie an der Kasse. Welche Wohltat, alle diese Gaben! Der Gedanke war neu. Alles war seltsam neu, seit dieser Brief vor drei Tagen in ihrem Briefkasten gelandet war.