Links und vorn gähnte ihnen die Schwärze eines Abgrunds entgegen, rechts drohte eine steile Felswand, sie zu erdrücken, und der Weg zurück war ihnen versperrt. Auch nur die kleinste Bewegung würde sie in den Tod stürzen. Gaucho verdrehte die Augen, wieherte seine Angst in die Nacht, dass es von den Felswänden widerhallte, dann riss er die Vorderläufe in die Luft…
Der Schrei ließ Hartwig Renner aus dem Schlaf fahren. Es dauerte Sekunden, bis er begriff, dass er selbst es gewesen war, der geschrien hatte. Zitternd richtete er sich auf, schob die viel zu warme Decke beiseite und quälte sich aus dem Bett. Er schlurfte ins Badezimmer, stieß sich unterwegs einen Zeh am Türrahmen, fluchte leise und trocknete sich dann wieder einmal den Angstschweiß von der Innenseite seiner Oberschenkel. Immer nur die Oberschenkel, nirgendwo anders. Für einen Moment dachte er daran, sich wieder hinzulegen, aber der Schlaf würde ihn fliehen, wie immer in solchen Nächten. So tapste er, ohne Licht zu machen, in die Küche, goss sich einen dreistöckigen Bourbon ein, setzte sich auf den Balkon und atmete tief ein und aus.
Ein lauer Wind wehte vom Schweriner See her-über. Er brachte den Geruch von Wasser und Tang mit und, ganz leise, die Motorengeräusche der wenigen Autos, die in dieser Sommernacht noch auf der Crivitzer Chaussee unterwegs waren. Wie eine zärtliche Hand strich er über Hartwigs Haut, sickerte in seine Seele und verdrängte sanft die Angst daraus.
Schwerin ist schön. Selbst in einem Plattenbau auf dem Dreesch. Unmittelbar hinter Hartwigs Balkon begann der Wald und in ihm war, wie auch jetzt, niemals Stille. Ein Kauz schrie, das Blattwerk der Bäume rauschte und manchmal trällerte sogar zu Sonnenaufgang eine Nachtigall ihr Lied vor Hartwigs Schlafzimmerfenster. Obwohl sich der Mond noch hinter den Bäumen verbarg, wusste er, dass er im letzten Viertel stand. Wie Diamanten auf einem schwarzen Samttuch glitzerten die Sterne am Himmel, irgendwo zwischen ihnen war auch der Pferdekopfnebel, und wenn es ein Paradies für Pferde gab, dann waren zwei von den funkelnden Perlen darin die blitzenden Augen eines tapferen Grauschimmels mit einem großen Herzen. Hartwig hatte dieses Blitzen damals für Schalk gehalten und fast zu spät verstanden, dass es doch nichts anderes als Liebe gewesen war.
Wieder rollte die Panik von damals über ihn hinweg. Sein Atem raste, der Schweiß brach ihm erneut aus und wie auf einem Schwarzweißfoto sah er wieder die Felsen des Mijas vor sich. Der Mond hatte im letzten Viertel gestanden und in seinem kalten Licht hatte er begriffen, dass Gaucho sterben musste, damit er, Hartwig, weiterleben konnte.
Er holte tief Luft, hob das Glas zum Himmel, sagte laut in die Stille der Nacht: „Salute Gaucho!“, und fast augenblicklich verschwand das Zittern seiner Hände. Gaucho hatte ihn verstanden. Wie damals …
Weder der Herausforderung noch der Verführung hatte Hartwig widerstehen können – ein Internetprojekt hatte ihn gerufen. Eine Finca in Fuengirola unter Andalusiens brennender Sonne zu Füßen des Mijas, nur fünf Autominuten entfernt vom Mittelmeer und Alfred und seine Frau, hatten auf ihn gewartet.
Sie besaßen zwei Pferde, eine sanfte weiße Ara-berstute und einen kleinen grauen, widerspenstigen Cartujano namens Gaucho, der immer den Schalk im Nacken hatte. Wenn er Lust darauf hatte, konnte ihn eine weiße Plastetüte auf dem Weg so sehr erschrecken, dass er auf die Hinterbeine stieg und seinen überraschten Reiter in hohem Bogen in die Luft katapultierte. Allerdings verriet er sich hinterher immer selbst, wenn er sich seinen Hals nach dem im Staub gelandeten Reiter verrenkte und wieherte, als hätte er einen richtig guten Witz gemacht.
Hartwig fand es weniger lustig, sich fast den Arm zu brechen beim Sturz und dafür von dem blöden Gaul auch noch ausgelacht zu werden. Damals fiel ihm nicht auf, dass Gaucho solche Anfälle nur bekam, wenn der Weg weich war, auf dem sie unterwegs waren. Trabten sie durch die gepflasterten Straßen Fuengirolas oder über die steinigen Gebirgspfade des Mijas, wurde Gaucho das trittsicherste Pferd der Welt und war durch nichts aus der Ruhe zu bringen.
Damals verstand Hartwig das nicht und hielt sich nach seinem zweiten unrühmlichen Abgang lieber an die sanftäugige Stute. Ohnehin war er kein besonders guter Reiter. Er hatte es nie gelernt und hielt sich mehr schlecht als recht auf dem Rücken der Tiere.
Dann kam der Abend, an dem er sich mit Alfred überwarf. Das Projekt lief nicht gut, die Verkäufe brachen ein und nicht nur der Haussegen, sondern auch ihre Freundschaft hing an einem seidenen Faden. Mitten in dem heftigen Disput zwischen ihm und Alfred sprang Hartwig auf und rannte aus dem Haus. Er wollte nur noch weg, nichts mehr sehen, nichts mehr hören und so führte ihn seine Wut zu den Ställen. Ausgerechnet Gaucho, den er seit Wochen nicht mehr geritten hatte, warf er den Sattel und das Zaumzeug über und ritt mit ihm in die Abenddämmerung, hinein in die Berge.
Zu Anfang fiel ihm nicht auf, dass Gaucho viel ruhiger dahinschritt, als er es bisher mit ihm erlebt hatte. Zu sehr wütete der Zorn in ihm und seine Gedanken waren noch bei dem Disput mit Alfred. Meistens hatte Gaucho schon Sperenzchen gemacht, wenn Hartwig ihm die Decke übergelegt hatte. Nicht so diesmal. Im Gegenteil, ruhig hatte er sich satteln lassen und trabte sittsam unter Hartwig dahin. Nur manchmal drehte er halb seinen Kopf und sah Hartwig mit dem linken Auge an, so, als wollte er sich vergewissern, dass alles mit seinem Reiter in Ordnung war.
Nichts war in Ordnung, ganz im Gegenteil. Nicht das Projekt zwang Hartwig in die Knie, sondern das Heimweh und das wollte er sich nicht eingestehen. Andalusien ist ein traumhaft schönes Land und er wäre gerne für alle Zeiten hier geblieben. Aber etwas in ihm rief ihn immer mehr zurück in die Heimat und das zerriss ihn innerlich.
Pferde sind keine Menschen, die so etwas fühlen und daraus Schlussfolgerungen ableiten könnten. Wie also hätte ein Pferd darauf reagieren können?
Mittlerweile war es dunkel geworden. Die Sterne leuchteten kristallklar am Nachthimmel, der Mond stand in seinem letzten Viertel und spendete genug Helligkeit, dass man bei seinem Licht noch hätte ein Buch lesen können.
Hartwig lenkte Gaucho in eine Gegend, in der er noch nie geritten war. Hauptsache, sie war weit genug weg von irgendwelchen Menschen und so erreichten sie irgendwann einen schmalen Bergpfad. Nach einigen hundert Metern verengte sich der Pfad, links begann eine Schlucht und rechts reckte sich eine Felswand in die Höhe. Gaucho wurde unruhig, blieb nach wenigen Schritten stehen und drehte seinen Kopf, als wollte er seinen Reiter fragen, ob er sich sicher war.
Hartwig wachte für einen Moment aus seiner Lethargie auf und sprach mit dem Pferd, als sei es ein Mensch: „Was ist? Hast du Angst vor einem Bergpfad, du blöder Gaul?“
Gaucho schnaubte und Hartwig stieß ihm wütend die Fersen in die Flanken. Spürbar widerwillig setzte Gaucho sich in Bewegung und trabte den gewundenen Weg hinauf.
Als hätte ein Riese mit einer gewaltigen Axt eine Kerbe in den Fels geschlagen, wand sich der Pfad an der Flanke des Berges entlang. Links, nur einen halben Meter neben ihnen, ging es über einhundert Meter fast senkrecht in die Tiefe und rechts von ihnen rückte eine Felswand bei jedem Schritt immer näher. Manchmal streifte Hartwigs Stiefel bereits das Gestein, doch er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er Angst gehabt hätte.
Der Pfad machte eine Biegung. Eine Felsnase versperrte ihm den Blick nach vorn und Gaucho blieb stehen. Hartwig schaute über die Schulter zurück und überlegte. In den letzten fünf Minuten war der Weg immer schmaler geworden und Gaucho jetzt zu wenden, hätte einem ungeübten Reiter wie ihm Probleme bereitet. Zwar wusste er nicht, was ihn hinter dem Knick erwartete, doch schließlich hatten Menschen den Pfad in den Fels gehauen und irgendwann mussten sie wieder auf eine Straße treffen. Es konnte gar nicht anders sein. Wieder trat er Gaucho in die Seite und zwang ihn langsam und vorsichtig um die Biegung.
Die Falle war perfekt. Hinter dem Knick ritten sie auf einem Weg, der so schmal wurde, dass selbst ein Mensch Schwierigkeiten gehabt hätte, hier sicher zu gehen, und Hartwig musste sich blind auf die Trittsicherheit seines Pferdes verlassen. Er ließ sich vorsichtig nach vorne sinken, legte beide Arme um den Hals Gauchos und hoffte, dass der wusste, was er tat.
Sie schafften noch zwanzig Meter, dann endete der Pfad wie abgeschnitten vor einem Abgrund. Vor ihnen und links ging es senkrecht in die Tiefe und rechts erhob sich mehr als dreißig Meter hoch eine mit dürrem Gesträuch bewachsene, schräge Felswand, die Hartwig selbst auf allen Vieren nur schwer hätte erklimmen können. Der Pfad, auf dem sie standen, war so schmal, dass er nicht einmal hätte absteigen können, ohne Gefahr zu laufen, in die Tiefe zu stürzen. Es dauerte eine geraume Weile, bis er begriff, dass sie so gut wie tot waren.
Ein Pferd kann mit einem geübten Reiter rückwärts gehen, doch nicht auf einem nur fünfzig Zentimeter breiten Felsgrat um eine scharfe Biegung herum. Und ein geübter Reiter war Hartwig schon gar nicht. Sicher gab es etwas in ihm, über das er nie nachgedacht hatte und dass ihn dazu brachte, dass Tier unter sich wie ihn selbst zu fühlen und sich ihm anzupassen, als sei er ein Teil von ihm. Hartwig wusste nicht, dass es eine Gabe ist, um die ihn viele Reiter beneiden würden. Er wusste gar nichts damals.
Vielleicht hätte er auf Gauchos Rücken steigen und von da den Versuch wagen können, die rechte Felswand hinaufzuklimmen. Doch er hatte nur diesen einen unsicheren Versuch, und wenn er misslang, würde er in die Tiefe stürzen und Gaucho mitreißen. Gelang er, würde er Gaucho zurücklassen. Irgendwann würden dessen Beine vor Erschöpfung einknicken und er würde sich zu Tode stürzen. Niemand konnte das Pferd hier herausholen, selbst nicht mit einem Hubschrauber. Gaucho würde nervös werden, anfangen zu tänzeln, wenn so ein schwarzes Ungeheuer über ihm auftauchte, und würde in die Tiefe stürzen, bevor sie ihm irgendwelche Seile oder Netze umgelegt hätten.
Nein, es gab nur zwei Varianten: Von Gauchos Rücken und dann über die schräge Felswand oder sich hinter ihm herunterrutschen lassen und dann auf dem Pfad zurückzugehen. Doch beide Möglichkeiten standen nur Hartwig offen und waren auch für ihn lebensgefährlich. Minutenlang saß er regungslos auf Gauchos Rücken und konnte sich zu keiner Entscheidung durchringen.
Gaucho drehte seinen Kopf zur Seite, schnaubte leise und riss Hartwig aus seiner Lethargie. Mit dem linken Auge blickte er ihn an und in diesem Sekundenbruchteil geschah etwas zwischen Mensch und Tier. Hartwig konnte sich später niemals erklären, warum er auf einmal gewusst hatte, was Gaucho vorhatte.
Dessen Auge begann zu funkeln und schien riesig zu werden. Er wieherte wie die Schlachtrösser der römischen Reiterei, wenn sie die Linien des Feindes durchbrochen und alles niedergetrampelt hatten, was sich ihren Reitern in den Weg gestellt hatte. Sein Kampfschrei ließ die Felswände erzittern, und noch ehe das Echo zurückkehrte, schlug er nach hinten aus.
Hartwig fiel nach vorn und musste sich an Gauchos Hals festklammern, wollte er nicht in die Tiefe stürzen. Im nächsten Moment bäumte Gaucho sich vorne auf, machte eine wilde Vierteldrehung nach rechts und beide schwebten für einen Moment nur auf Gauchos Hinterbeinen über dem bodenlosen Abgrund. Und genau in dem Moment, als die Schwerkraft sie hinabreißen wollte, sprang Gaucho mit einem Panthersatz in die schräge Felswand.
Mit den Hufen krallte er sich in das Geröll der Steigung, mit wilden Muskelkontraktionen gewann er Meter um Meter, sogar mit den Zähnen biss er nach den dürren Sträuchern und nutzte ihren Halt, um sich und den Menschen auf seinem Rücken hinaufzuziehen.
Noch heute kann Hartwig an den Innenseiten seiner Schenkel die Kontraktionen von Gauchos mächtigen Muskeln unter sich spüren und die ungeheure Kraft, mit der sich das Pferd den Berg hinaufkämpfte. Für einen winzigen Moment sah er dabei wieder eines seiner Augen, und in ihm brannte nicht die irre Wut eines um sein Leben kämpfenden Tieres, sondern etwas ganz anderes. Es war der Augenblick, in dem Hartwig verstand, dass ihm nichts geschehen konnte. Weil dieses Pferd es nicht zulassen würde.
Es war nichts weiter als ein Gefühl. Fünfzehn Jahre, in denen er so manches Mal aus dem Schlaf geschreckt war, wenn der Mond im letzten Viertel gestanden hatte, mussten ins Land ziehen und er musste ein drittes Mal heiraten, um diesem Gefühl einen Namen geben zu können: Geborgenheit.
Die letzten Meter kämpfte Gaucho sich auf Knien den Felshang hinauf. Er blutete aus vielen Schürfwunden und seine Beine und der Bauch sahen übel aus. Hartwig fiel entkräftet von seinem Rücken und schloss die Augen.
Doch nicht lange. Gaucho erholte sich schnell wieder, senkte seinen Kopf, und schnaubte Hartwig seinen heißen Atem ins Gesicht. Hartwig schlug die Augen wieder auf. Direkt vor ihm bleckte Gaucho sein Gebiss und in seinen Augen blitzte bereits wieder der Schalk. Dann warf er seinen Kopf in den Nacken, schüttelte seine graue Mähne und wieherte in die Nacht. Noch heute wäre Hartwig bereit zu schwören, dass es ein Lachen gewesen war.
Hartwig hob wieder das Glas zum Himmel. „Salute Gaucho, wo immer du auch jetzt bist!“