In den Ruinen gibt es Tausende von Hütten. Einfache Holzhütten, die sich leicht bauen lassen und ebenso leicht durch Erdrutsche und Regengüsse vernichtet werden. Das Gesicht der Ruinen verändert sich ständig. Nur die Lehmmauern, die das ehemalige Hafenbecken bildeten, sind noch unverändert.
Ich laufe dieses Mal über den schlammigen Boden. Ich bevorzuge zwar, wie viele Cereceri, die flache Oberseite der Mauer, aber mit Misa an meiner Seite ist es einfacher, auf dem Boden zu bleiben.
Misa zieht neugierige Blicke auf sich. Obwohl sie verletzt ist und ihre Kleidung dreckig, sieht man ihr ihre Herkunft sofort an. Und jeder Cereceri riecht es.
Misa ist ein wenig blass. Die unterschiedlichen Gerüche meiner Welt haben ihr auf den Magen geschlagen. Es riecht nach vielen Menschen auf engstem Raum, nach unterschiedlichsten Tieren und aus dem Viertel der Handwerker kommen nochmals neue Gestänke hinzu. Gerbendes Leder, faulendes Fleisch und die scharfen Gewürze, die den Geschmack nach Ratte aus dem Essen vertreiben sollen. Bevor ich in Aitlyn-LaKitan war, ist mir nie aufgefallen, wie schlimm die Ruinen stinken.
Misa hat darauf bestanden, mich zu begleiten. Sie hält sich dicht bei mir, so ähnlich wie ich damals an meinem ersten Tag oben auf den Klippen. Ihre Hände umklammern meinen Arm. Jeder Cereceri starrt uns an. Ein paar flüstern meinen Namen.
"Das ist doch Phosphor Pyron!"
"Jeder sagt, er sei tot!"
"Phosphor Pyron und ein reiches Mädchen!"
Gerüchte wandern schnell durch die Ruinen. Es ist kein Wunder, dass meine Mutter mich vor unserer Hütte erwartet. Auch diese Hütte muss in meiner Abwesenheit mindestens einmal eingestürzt sein. Das Dach hängt tiefer als zuvor - außer mir braucht ja auch niemand Platz nach oben - und die Tür ist noch schiefer und weiter links.
Die kleine Frau vor der Hütte funkelt Misa aus kleinen, schwarzen Augen böse an. Dazu muss sie den Kopf weit in den Nacken legen. Sie ist rundlich und reicht mir bis zur Brust - Misa ist noch einen Kopf größer als ich. Auf den Ruinen sind alle etwas größer als die Cereceri.
Die Haare meiner Mutter sind schwarzbraun, mit weißen Strähnen an den Seiten. Ein dunkler Streifen Haut zieht sich über ihren Nasenrücken bis zur Stirn. Ihre Hände sind dunkel, geschickt und sehr klein. Sie ist eine Waschbärin.
Hinter ihr, aus dem Dunkel der Hütte, blinzeln verschreckte Augen. Meine Brüder, der Koala ohne Fell, eine Hyäne und ein Orang-Utan. Zwei Schritte vor meiner Mutte bleibe ich stehen, Misa hinter mir.
"Phosphor.", sagt meine Mutter und mustert mich von oben nach unten. Ihr Blick sorgt dafür, dass ich mich winzig fühle.
"Hallo Mutter.", sage ich kleinlaut.
"Hallo Dinai.", sagt Misa eingeschüchtert.
"Man sagte, du wärst tot.", sagt meine Mutter, ohne Misa zu beachten: "Aber anscheinden geht es dir gut. Während deine Familie hungert."
Ich senke den Blick: "Es tut mir leid. Es gab keine einfache Möglichkeit, wieder nach unten zu kommen. Es brauchte schon einen Magier, der mich umbringen wollte."
"Wieder nach unten. Aus LaKitan.", sagt meine Mutter. Natürlich ignoriert sie die Lebensgefahr, auf die ich anspiele. Ihre Stimme ist eisig.
Ich schiebe Misa neben mich: "Das ist Misa, Mutter. Sie hat mir das Leben gerettet. Zweimal."
Misa lässt meinen Arm nicht los. Mutter betrachtet sie, als würde sie Misa erst jetzt sehen.
"Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Frau Pyron.", sagt Misa und streckt eine Hand aus. Mutter sieht darauf, als wäre es ein giftiger Schlammmolch.
"Das hast du also getrieben. So ehrst du das Gedächtnis deines Vaters?", sagt Mutter eisig zu mir.
Ihre Augen bleiben an meinem Halsband hängen. Ich schlucke den Kloß herunter, der plötzlich in meinem Hals sitzt. Ich kann nicht antworten.
"Frau Pyron. Ich denke, ich schulde Ihnen eine Erklärung.", Misa tritt nach vorne, plötzlich selbstbewusst. Ihre Stimme ist förmlich, als würde sie mit den Arbeitskollegen ihrer Mutter reden. Gleichzeitig klingt sie freundlicher als in besagter Situation, und die Tatsache, dass sie mit meiner Mutter nicht wie mit einer Geisteskranken spricht (wie alle anderen Reichen mit Cereceri sprechen), lässt die dunklen Züge um Mund und Augen der Wäschbärin ein kleines bisschen aufweichen. Misa lächelt: "Ich bin MIsatyra Luminor. Meine Mutter Velaa Luminor ist die Spitzenkandidatin für die morgige Wahl. Wenn sie gewählt wird, ist mit ihr eine Cereceri-freundliche Politikerin an der Spitze der laKitanischen Politik. Unter anderem Ihrem Sohn Phosphor hier ist es zu verdanken, dass Velaa Luminor nicht einem feigen Attentäter zum Opfer fiel und sich die Situation für die Ruinen und die Cereceri bald signifikant verbessern wird."
Meine Mutter betrachtet Misa zum ersten Mal, als würde sie ihre Anwesenheit akzeptieren. Ihre Augen wandern wieder zu mir: "Ist das wahr?"
Ich kaue auf meiner Lippe: "Viel habe ich nicht getan. Aber doch, eigentlich schon-"
"Nein.", sagt meine Mutter: "Ich meinte: Ist es wahr, dass sie dein Leben gerettet hat?"
Ich nicke: "Zweimal." Ich werfe Misa einen schüchternden Blick zu.
"Dann musst du ihr dienen, wenn sie deine Dienste verlangt.", sagt meine Mutter. Ihre Worte sind hart, aber ihre Stimme klingt weicher. Ich kann nicht abschätzen, was sie von der Situation hält. Jedenfalls scheint sie Misa nicht zu hassen.
Misa grinst breiter: "Gute Idee! Wolf, willst du mein Leibwächter werden?"
"Ich?", schnappe ich nach Luft. "Aber - Leibwächter sind doch immer große Cereceri!"
Misa verschränkt die Arme: "Dann musst du dich eben mehr anstrengen, kleiner Hund!"
Ich will grade ergeben einlenken, da löst Misa ihre Haltung: "Ehrlich, Wolf. Nur, wenn du willst. Ich würde mich freuen, wenn du bei mir bleiben willst."
Daran hatte ich garnicht gedacht. Abzulehnen würde bedeuten, Misa zu verlassen.
"Natürlich!", sage ich schneller, als ich denken kann. Misa lächelt und meine Mutter, die uns interessiert beobachtet hat, wendet sich plötzlich an Misa: "Er ist ein guter Junge mit dem Herz am rechten Fleck, aber er verliert schnell den Kopf."
Sie wuschelt mir durch die Haare und dann zieht sie mich plötzlich in eine feste Umarmung: "Alle sagten, der Liger hätte dich getötet.", flüstert sie tränenerstickt. Ich halte sie für einen Moment und murmele: "Ich bin intelligenter als eine zu groß geratene Katze!"
Meine Mutter lacht, dann schüttelt sie tatsächlich Misas Hand. Ich kann förmlich spüren, wie die halben Ruinen die Luft anhalten.
Misa beugt sich über ihre Tasche und holt etwas daraus, was in weißes Papier gewickelt ist. Ich rieche Essen und sofort läuft mir das Essen im Mund zusammen, obwohl ich schon genug von dem Braten hatte. Ich könnte ewig essen, wenn man mich lassen würde.
Misa überreicht das schwere Paket meiner Mutter, die Augen und Mund aufreißt.
"Ich weiß, dass Sie keine Geschenke von den Reichen annehmen. Sehen Sie es als das Geschenk einer Freundin.", sagt Misa.
Meine Mutter muss das Essen ebenfalls riechen. Rindfleisch, Früchte und süße Beeren, ein bisschen Fisch und Reis. Wir haben Marc heute in die Oberstadt gebracht, aber als ich sagte, ich wolle meine Familie besuchen, hat Velaa uns alles mitgegeben.
Meine Mutter stellt das Paket ab und umarmt Misa für einen kurzen Moment. Sie bringt kein Wort heraus. Ich glaube, grade ist eine Art Wunder passiert.
Jetzt wagen sich auch meine Brüder aus der Hütte, um sich von mir zu verabschieden. Einer nach dem anderen drückt meine Hand.
Ich lächele, wenn auch ein bisschen traurig.
"Wir werden ab und zu vorbeisehen.", verspricht Misa. "Meine Mutter will mich als Botschafterin der Ruinen einsetzen - Phosphor übrigens auch - und wir werden regelmäßig überprüfen, welche Hilfen ihr braucht."
Meine Mutter lässt sie los und wuschelt mir nochmal durch die Haare: "Pass gut auf euch beide auf, Phosphor!", sagt sie und droht spielerisch mit dem Zeigefinger: "Diese Arbeit solltest du ernst nehmen."