Schlag.
Es heißt ja immer, das Leben bestünde nicht aus den Momenten, in denen man atmet, sondern aus denen, die einem den Atem rauben. Schenkt man dem Glauben, so würde ich mir manchmal wünschen, dass mein Leben aus etwas weniger "Leben" bestehen würde.
Lähmung.
Es ist in jedem Alter das Gleiche. Es hängt nicht davon ab, wer du bist, was du machst oder warum es passiert. Ein Grund findet sich am Ende immer. Ich scheine es aus irgendeinem Grund aber überdurchschnittlich oft zu provozieren.
Ohnmacht.
Die Faust, die sich in diesem Moment aus meiner Magengrube löst, ist die gleiche wie immer. Sie trifft stets tief genug um keine gebrochenen Rippen zu hinterlassen und nicht fest genug um irgendwelche Innereien ernsthaft zu beschädigen. Was jedoch immer wiederkehrt ist das nesselnde Gefühl in den Lungen, wenn sich ihre Flügel taumelnd weigern ihrem Job nachzugehen. Die ansonsten reichlich atemdurchwanderte Nase verzichtet kurzzeitig zwangsweise auf den frequentierten Besuch.
Der Stiefel der sich nun in allzu bekannter Routine meinem Gesicht nähert scheint mir eben so vertraut, selbst wenn ich den Träger selbst noch nie getroffen habe. Er mich dafür gleich auf die Stirn. Das knirschende Geräusch lässt mich nostalgisch werden, der Geruch der Erde der sich auf meine Schädelhaut stempeln lässt, erinnert mich an frühere Zeiten.
Es ändert nicht viel, ob es das schöne neue Gewand der Mutter ist, das danach schreit. Oder das bunte Band, das man sich aus Stolz und Zugehörigkeit umgehängt hat. Oder der neue Anzug um bei der Arbeit zu beeindrucken. Der Funken, der den Hass zum Lodern bringt, ist schnell gefunden.
Das warme Gefühl, das sich von der getroffenen Stelle ausbreitet, fühlt sich wohl und vertraut an. Es versichert mir, dass alles abläuft wie es soll.
Ich blicke nach oben. Dort thront das Gesicht eines Fremden, der mir merkwürdig bekannt erscheint, weil sein Gesicht von demselben Ausdruck geziert wird, den schon so viele vor ihm trugen. Genugtuung. Gerechtigkeit. Ich liege am Boden und er empfindet es als richtig.
Es ist... meine Schuld. Ich löse es aus. Ich gehe durch die Gassen, durch die Schulgänge oder verlasse das Gebäude der Studentenvereinigung mit unverzeihlicher Freude. Ich strahle nach außen, vor Stolz und Wissen, personifiziere wie mein Leben sich gut anfühlt, gut ist.
Man lauert in Gassen und Seitengängen. Man sieht es mir an. Im Gesicht. In den Augen. Wie viel besser ich doch bin, wie viel mein Leben doch lebenswerter ist als das ihre. Ich blicke auf sie herab, ohne es zu merken. Ich mache ihnen bewusst, wie schlecht es ihnen doch geht, ich zeige durch meine Fröhlichkeit alle ihre Fehler und Schwächen auf. Ich verdiene es.
Der Plan muss nicht geschmiedet werden, ich lege den Pfad von ihrer geballten Faust bis zu meiner Nase ja selbst. Egal wie viele Menschen es sehen, es gibt für jeden von ihnen unumgänglich nur ein Ziel. Der Welt klar zu machen, dass auch ich kriechen muss, dass mein Leben nicht gut ist, dass sie, die mich in den Dreck werfen, gut genug sind um von oben auf mich herabblicken zu können.
Zur Abwechslung. Nur für einen Abend. Danach - im Alltag - wird es wieder hinfällig.
Sie lassen mich liegen. Ich kenne das Spiel. Ich gewähre ihnen einen Sicherheitsabstand, damit mein Mucksen ihre Tat nicht in Frage stellen kann. Sobald sie mich nicht mehr sehen können stehe ich auf und gehe weiter.
Es geht immer weiter. Egal welcher Moment einem den Atem raubt, atmen muss man ohnehin wieder. Zu viele dieser Momente würden dich umbringen. Ich zähle meine Verletzungen, vergesse die Zahl wieder um erneut zählen zu können. Es vertreibt die Zeit, während man wieder atmen lernt.
Auch am nächsten Tag vorm Spiegel scheint sich der Gehsteig noch an meine Wange zu schmiegen und die Faust in meinen Gedärmen zu ruhen. Der Stiefel hat Spuren hinterlassen, die man sehen wird. Dafür war er auch da. Der Schlag hätte gereicht um mich zu Boden zu bringen. Doch das ist nicht genug. Wenn man einem Menschen, der verstanden hat, etwas nochmal verdeutlicht, versteht er länger. Es macht klar, wer oben und wer unten ist. Es unterbindet das potentielle Aufrichten, auch wenn danach niemandem dürstet. Es ist eine Geste, die sich wie ein Brandmal auf meiner Stirn abzeichnet. Der Stiefel im Gesicht kann immer nur aus einer Richtung kommen. Von oben.
Es erfordert heute kaum mehr Selbstbeherrschung nicht auf die entsetzten Gesichter oder Fragen einzugehen. Ich kann es seit der Schule ohnehin kaum mehr. Und vielleicht haben sie schon gelernt, dass auf manche ihrer Fragen keine Antwort mehr erwarten dürfen. Das ist das Schöne am Büro. Man versammelt sich jeden Tag um nebeneinander für sich alleine zu arbeiten, man schafft das Gefühl der Wärme und der Gemeinsamkeit, während jeder für sich alleine der Arbeit ausgeliefert ist. Alleine arbeiten im sozialen Umfeld. Eine geniale, wie grausame Idee.
Von oben sehen Menschen anders aus. Die Stirn scheint wulstiger, der Kopf riesig. Und ganz gleich welche Mimik dieser Kopf trägt, wenn er hoch sehen muss, ist es immer unterwürfig. Es heilt die Narben von gestern und versichert dem inneren Egomanen, dass man wirklich und wahrhaftig der beste Mensch der Welt sei. Zumindest für einen Moment. Das surrende Neonlicht ist meine Dunkelheit aus der Ich zuschlage. Die Arbeitswelt um mich meine Gasse, aus der ich auftauche.
Meine Hand wiegt schwer. Sie zittert beinahe vor Anstrengung, doch ich genieße es. Ich hebe sie hoch in die Luft und lasse sie in Richtung des entsetzten Gesichtes sausen. Die Augen weiten sich in Ungläubigkeit, als die Akten auf dem Schreibtisch auftreffen.
Schlag.
Arbeit für Monate. Ich sehe, wie meinem Gegenüber der Atem entschwindet. Oder Gegenüber? Eher Gegenunter. Seine Person sackt in sich zusammen als die Erkenntnis seine grauen Zellen erreicht.
Lähmung.
Sein Hirn wird in Kürze ein paar weitere elektrische Ströme durch Synapsen jagen und über ein paar Hormonzentren schließlich die Konstellation eines spezifischen Gefühls zusammenmengen.
Ohnmacht.
Knirschend zerspringt das Bild der geruhsamen Wochenendenmalereien in seinem Blick.
Der Schlag würde ausreichen. Er liegt am Boden. Fehlt nur der Stiefel. Ich nenne das Ultimatum. Es wäre nicht notwendig, doch ich formuliere es aus und nenne die bereits bekannten Sanktionen, die auf ein Verfehlen folgen würden. Ich weiß, dass er sie kennt. Aber wenn man einem Menschen, der verstanden hat, etwas nochmal verdeutlicht, versteht er länger. Es macht klar, wer oben und wer unten ist.
Ich drehe mich um und gehe. Er kennt das Spiel und muckst nicht, bis ich ihn nicht mehr hören kann.
Es ist wohl vermutlich ein Teil des Lebens, diese Momente, die einem den Atem rauben.
Ich finde aber auch Leben in den Momenten, in denen ich anderen den Atem rauben kann.
Und den Atem raubt man jemandem nur aus einer Richtung.