Die struppigen Haare fielen ihr vor die Augen, als sie sich unter dem Arm ihrer Mutter hervorwand und die winzigen Füße lautlos auf den morschen Balken aufkamen. Sie schob sich zwischen ihrem Lager aus Stroh und der Wand, die sich ächzend nach innen wölbte, vorbei, immer darauf bedacht, nicht die knarzenden Dielen zu belasten.
In der Dunkelheit tastete sie nach ihrem schwarzen Umhang, ihrem liebsten Kleidungsstück, das sie selbst vor dem rauen Wind auf offener See schützte. Mit ihm um ihren Schultern schlich sie auf nackten Sohlen zur Feuerstelle und tunkte ihre Finger in die warme Asche.
Die Wachen hatten Fackeln, sie würden sie sehen und dann die Flucht ergreifen.
Sie zog schwarze Striche unter ihren Augen entlang bis zu ihren Ohren, je einen weiteren auf ihren Wangen und einen von ihren Lippen über ihr Kinn. Dann wandte sie sich dem Tisch zu, kletterte auf den knarzenden Stuhl und tastete nach dem Messer, das ihr Vater immer für das Filetieren des Fisches benutzte.
Zischend zuckte sie zurück und biss sich sogleich auf die Lippe - die Schneide hatte ihrer Fingerkuppe einen Schnitt beigebracht.
Das Messer wog schwer in ihrer Hand, als sie die Tür aufschob und auf den Weg hinaustrat, der sie sonst immer Richtung Meer führte.
Heute würde sie in die andere Richtung gehen.
Die Kiesel bohrten sich in ihre Haut, doch das nahm sie schon lange nicht mehr wahr. Schnell war sie ins Flussbett gehuscht, und das leise Platschen ihrer Füße im kleinen Rinnsal wurde vom Zirpen der Grillen überlagert.
So schlich sie weiter, hielt den Kopf gesenkt, das Messer sicher in der Hand und den Blick entschlossen nach vorn gerichtet. Sie würde es nicht zulassen, dass ihre Mutter noch dürrer wurde, die Knochen noch mehr unter der bleichen Haut hervorstachen, weil sie auf Nahrung verzichtete, für ihre Tochter.
Sie passierte eine um die andere Fackel, die in der Dunkelheit patrouillierte und nichts bemerkte.
Alles nahmen sie ihnen. Ihr Dorf fuhr immer öfter und immer weiter auf die See hinaus, in der Hoffnung, überhaupt noch Fische zu finden und die Eintreiber nahmen sie ihnen mit teilnahmslosen Gesichtern, alle, bis auf wenige Fische. Nichts konnte ihr Herz erweichen, nicht der kranke Junge von nebenan, der ihnen jeden Tag mit gläsernen Augen hinterherstarrte, nicht sein Vater, der unter Tränen um Gnade bettelte.
Sie würde - sie musste - der Ungerechtigkeit ein Ende setzen. Sie hatte es beobachtet, hatte gesehen, wie die dünnen Menschen eines Tages verschwanden und nie wieder auftauchten, wie die Augen der Angehörigen auch die letzte Farbe verloren.
Sie würde nicht zulassen, dass ihrer Mutter dasselbe geschah.
Ihre eingefallenen Augen lugten über den Rand der Böschung und sie erkannte die Torwachen, die unbewegt den Weg hinunterblickten, die Spitzen ihrer Hellebarden blitzten im Schein des Mondes. Sie huschte bis zum Damm, der den Fluss des Wassers stoppte und die Burg mit einem Wassergraben segnete und kroch dann aus ihrer Deckung.
Es war so weit.
Sie atmete tief durch und blickte zurück. Das Meer glitzerte in weiter Ferne, davor erkannte sie die Umrisse ihrer alten Boote und der Hütten ihres Dorfes.
Dann betrat sie den Weg. Den Schaft des Messers mit beiden Händen umschließend hob sie es auf Brusthöhe und fasste die Wachen ins Auge, die sie noch nicht bemerkt hatten. Die kleinen Schultern strafften sich, die Schritte wurden fester und Ruhe überkam sie.
Sie würde es schaffen, ganz sicher.
Dann zeigten die Männer die erste Reaktion. Ihre Körper spannten sich an und ihre langen Waffen gerieten in Schräglage. Unbeirrt ging sie weiter, den Blick auf die im Schatten liegenden Augen gerichtet. Die beiden rührten sich nicht, als sie in Reichweite kam und auch ihr Kopf senkte sich nicht in der Bemühung, ihr mit dem Blick zu folgen.
Erste Unsicherheiten fluteten das kleine Herz, doch sie kämpfte die plötzliche Angst nieder und hielt nicht an.
Erst als sie zwischen ihnen stand und die Hellebarden weiterhin standhaft gen Meer zeigten, sanken ihre Hände und sie folgte ihren Blicken.
Dort, im Flussbett, war etwas, das die Strahlen des Mondes reflektierte und unter ihnen bläulich glitzerte. Es ragte in den Himmel auf, wie einer der Burgtürme und bewegte sich bedächtig auf sie zu. Seine Umrisse waren unbeständig, nahmen immer neue Formen an und besaßen das tiefdunkle Blau des Meeres.
Sie starrte ihm nur entgegen, viel zu sehr fasziniert von dem, was sie da sah, um Furcht davor zu verspüren.
Ein spitzer Schrei entfloh ihr jedoch, als die Männer neben ihr zu Boden gingen und ihre Rüstungen klirrend über die Kiesel schliffen. Ihre Waffen lagen nun auf dem Weg, zeigten nach wie vor klagend gen See und die Wachen rührten sich nicht mehr.
Das blaue Ungetüm war nun nur noch wenige Meter entfernt und war erstarrt, als warte es auf ihre Reaktion.
Ihre bebenden Finger umklammerten ihre Waffe und sie drehte diesem Wesen den Rücken zu. Der Gedanke, es würde ihr etwas antun, lag so fern, dass sie dies nicht einmal eine Sekunde in Erwägung zog. Sie wusste, es könnte sie töten, ohne ihr überhaupt nahe kommen zu müssen, wie es das gerade mit den Wachen getan hatte. Es würde so schnell gehen und doch vertraute sie ihm, ohne zu zögern, ohne zu zweifeln, ihr Leben an.
Sie schritt weiter voran, über das kühle Holz der Zugbrücke und schlussendlich auf den Platz, in dessen Mitte ein Brunnen stand.
Sie nahm die Schönheit dieses Ortes nicht wahr, denn sie fühlte sich eingesperrt, bedrängt, ihrer Freiheit beraubt. Sie verstand nicht, wieso man sich freiwillig in diesen Mauern einpferchen ließ und doch wollte sie es auch gar nicht verstehen können, denn hier wohnten die Menschen, die ihnen so viel Leid brachten, die sie ohne einen Gedanken an ein anderes Wohl als das ihrige ausbeuteten.
Ihre Lippen kräuselten sich, als sie die Säcke neben ihren massiven Türen entdeckte. Sie konnte nur zu gut deren Inhalt erraten, als sie das Funkeln in einem der geöffneten erkannte. Gold. Sie hatte es bisher nur von weitem gesehen - noch nie hatte sie einen anderen als die bronzenen Taler in der Hand gehalten.
Sie schrak zusammen als die Hörner erklangen und den Hof vor Gefahr warnten, beinahe ihre Trommelfelle zum Platzen brachten und sogleich die Stiefel der Soldaten im Gleichschritt über das Pflaster dröhnten. Erste Lichter kämpften gegen die Dunkelheit und die großen Feuerschalen der Türme warfen flackernde Reflektionen auf die glatten Steine.
Man erkannte sie und doch ignorierte man sie, jegliche Aufmerksamkeit lag auf dem, das ihr leise platschend gefolgt war.
Ihre Füßchen tappelten in die Richtung, aus der immer mehr Soldaten strömten - alle gingen sie geräuschvoll zu Boden, sobald sie sich ihr näherten.
Das Monster wachte über sie.
Gemeinsam drangen sie ins Herz der Burg vor, die panisch fliehenden Bürger wiesen ihnen den Weg. Stattliche Banner prangten nun, nachdem sie ein weiteres, nicht ganz so gewaltiges Tor passiert hatten, an den unendlichen Mauern, das Giftgrün der sich um ein Schwert windenden Schlange, die mit aufgerissenem Maul auf sie hinab starrte, trieb ihr Tränen der Wut in die Augen, die sich kaum zurückdrängen ließen.
Sie blickte an einem mächtigen Gebäude empor, das das Zentrum der gesamten Burg darstellte. In den aufwändig gearbeiteten Fenstern brannte Licht, über dem Portal prangte das Wappen ihres Lehnherren.
Die Flügel des Portals wurden aufgestoßen und Kämpfer mit wehendem Umhang und Schild formierten sich vor dem Eingang. Die Ritter des Herren.
Einer dieser starrte ihr direkt in die blauen Augen, die Verachtung, die er für Menschen wie sie empfand, war in sein kantiges Gesicht gemeißelt.
In diesem Moment spürte sie es zum ersten Mal. Das durch seine Adern pumpende Blut, sein Herz, das immer wieder kontrahierte und die warme Flüssigkeit in Schwung brachte. Die plötzliche Furcht in seinen aufgerissenen Augen verriet ihr, dass er spürte, wie das Wasser in seinem Körper langsam gefror, wie sein Herz in seinem Brustkorb stolperte und von ihr immer weiter ausgebremst wurde. Er spürte, dass sie es war, die ihm langsam das Leben austrieb.
Dann sank das Schwert in seiner Hand, das Schild polterte auf den Boden und sein lebloser Körper folgte ihm auf dem Fuße, der grüne Umhang begrub ihn wie ein Schleier aus Gift. Die Ritter stürmten los, an ihrem gefallenen Kameraden vorbei, verbargen sich hinter ihren Schilden und streckten ihr mutig die Schwerter entgegen.
Sie atmete tief ein und sah zum Mond auf, der ihr wie ein gefallener Freund in weiter Ferne die Kraft, die sie gerade erst in sich entdeckt hatte, spendete.
Ihre Finger ballten sich zu Fäusten, bis ihre Knöchel so weiß wie der Himmelskörper über ihr waren. Die Ritter waren erstarrt, als hätte sie die Zeit angehalten und doch spürte sie die Kühle desjenigen, der ihr am nähsten gekommen war, auf ihrem Gesicht.
Ihre Finger lockerten sich und sie zuckte ob des darauf folgenden Polterns zusammen.
Als sie nun das Gebäude betrat und ihr die Stille entgegenschlug, schmeckte sie das Blut der Gefallenen auf ihrer Zunge. Sie fühlte es über ihre Haut rinnen und ein stetiges Tropfen begleitete sie bis in den Saal, in dem das Monster thronte, das ihnen so viel angetan hatte. Seine Leibgarde hatte sich um den im Licht der Fackeln funkelnden Thron geschart. Die Bereitschaft, ihrem Herrscher bis in den Tod zu dienen, schien selbst durch das mit eigenen Augen gesehene Grauen nicht erschüttert zu sein.
Sie schluckte, bevor sie das Zittern aus ihren Gliedern vertrieb und sich zu ihrer vollen Größe aufrichtete, sodass sie den Männern bis zur Hüfte reichte.
Dann schloss sie ihre Augen und beendete mit einem Ruck ihre von Befehlen gezeichneten Leben - ihr schauderte es.
Der Burgherr bebte unter ihrem Blick, er jammerte und flehte. Sank vor ihr auf die Knie und kroch um Vergebung bettelend zu ihren Füßen. Aus dem fleischigen Gesicht sahen verquollene Augen zu ihr auf, als er ihr sein gesamtes Vermögen versprach im Gegenzug für seine Verschonung.
Sie blickte nur stumm auf ihn hinab, auf diesen von Trieben beherrschten Mann, in dem sie nichts Menschliches mehr erkannte. Er war nur ein Tier, das im Angesicht seines Jägers winselte.
Als sie in den Burghof hinaustrat, begegnete sie den Blicken der Frauen, die in ihren feinen Kleidern auf die Knie gesunken waren, aus Angst vor ihr.
Damals hatte sie noch den Fehler begangen, die Mündel und Diener der Herren für unschuldig zu halten und war einfach an ihnen vorbeigeschritten. Sie hatte einen der Goldsäcke aus der Ecke gezerrt und mit dem Messer ein Loch in die Jute gerissen.
Nun schliff sie ihn hinter sich her, den Pfad entlang, der zu ihrem Dorf führte und hinterließ eine Fährte des Geldes. Im Zentrum ließ sie ihn fallen. Für jedermann sichtbar lag dort nun ein Sack voll Gold, mitten auf dem freien Platz.
Sie selbst begab sich zum Fluss, der hinter ihrem Dörfchen ins Meer mündete. Ihre klebrigen Hände im Wasser badend beobachtete sie ihren stillen Verbündeten, ihren Lehrmeister, der am Horizont immer kleiner wurde und sich wieder mit der See vereinte, aus der er auferstanden war.
Als sie ihre nassen Hände ausschüttelte, flogen die Tropfen einer zähen Flüssigkeit nur so umher - ihn hatte das Blut genauso verfolgt, wie es sie in Zukunft verfolgen sollte.
Sie kehrte ihrem Dorf noch in dieser Nacht den Rücken zu, in dem Wissen, dass die Trauer ihrer Eltern nach einiger Zeit vergehen würde und sie mit dem Reichtum, der hinter den Burgmauern schlummerte, nicht mehr um ihr Überleben bangen mussten. Sie verwundete sie mit ihrem Verschwinden, das war ihr bewusst und doch konnte sie nicht bleiben.
Ihre Macht kontrollierte sie mehr, als ihr lieb war. Sie hatte schon die Oberhand gewonnen, als sie das erste Herz zum Stillstand brachte und führte sie in den nächsten Jahren in die entlegensten Ecken ihrer Welt, in denen das Leid wütete wie eine wilde Bestie. Das Blut an ihren Fingern konnte sie nie abwaschen, wie viel Seife auch immer sie bemühte.
Heute war ihr Gesicht so makellos, wie es selbst in jüngster Kindheit nie gewesen war. Hinter den blauen Augen herrschte eine göttliche Macht, die ihren Körper als bloße Hülle, als Gefäß missbrauchte und ihn doch beinahe bis zur Unkenntlichkeit gewandelt hatte.
Manchmal fragte sie sich, ob ihre Eltern ahnten, was aus ihr geworden war, ob sie ihr mit Verachtung entgegentreten würden, wenn sie es wüssten und doch war sie sich darüber im Klaren, dass sie, egal wie häufig sie sich darüber auch den Kopf zerbrach, es nie erfahren würde. Nie würde sie zu ihnen zurückkehren, sie konnte es nicht.
Ihre Hände berührten die Brust des Mädchens, dessen Augen ihren Blick bittend festhielten. Sie erinnerte sie so sehr an das Mädchen, das sie einmal gewesen sein musste, damals, als das Wasser sie noch nicht auserwählt hatte.
Heute folgte ihr der Ruf des Todes. Legenden und Mythen hatten sich über die Jahre im ganzen Land verbreitet, schon die Kinder kannten die Schauergeschichten über das Mädchen, das über den Tod herrschte. Alle sahen sie nur das Monster in ihr, das über die Güte jedes Herrschers richtete und gesamte Adelshäuser auslöschte. Doch das Wasser beendete Leben nicht nur, es konnte sie auch bewahren.
So beruhigte sich der rasselnde Atem der Kleinen unter ihren Händen und sie sah lächelnd in das schweißnasse Gesicht hinab, das noch so rein, so unbefleckt war.
Nur wenn sie Leben schenkte, erweichten sich ihre eisigen Züge, denn nur dann wurde sie selbst daran erinnert, dass sie nicht nur zerstörte.