Der Wanderer
In unseren Wäldern war ich viel unterwegs.
Manchmal traf ich Leute, die aus der Stadt
gekommen waren, um sich hier etwas zu
erholen. Vollgestopft mit jeder Menge
"Equipment".
Einmal traf ich auf Einen von hier. Siebzig,
achtzig Jahre alt schätze ich. Er erzählte mir
von einem Mann, den sie hier den "Wanderer"
nennen. Streift seit über 60 Jahren hier
durch den Wald. Kennt jeden Baum,
sagte er. Aber niemand weiß, wer er ist und wo
er her kommt. Ganz seltsamer Typ, meinte er.
Zwei Wochen später lief ich wieder eine Tour.
Elf - zwölf Kilometer schätze ich. Ich ging sehr
tief hinein. Sehr alte Buchen standen hier.
Mächtige Stämme. Gewaltige Kronen.
Ich sah eine kleine Lichtung und steuerte darauf
zu. Eine umgestürzte Birke, die dem letzten
Sturm nicht trotzen konnte, lud mich zu einer
kleinen Pause ein.
Ich holte meine Wasserflasche aus meinem
kleinen Rucksack, nahm einen Schluck und
goss mir einen Kaffee ein. Zwei Stück
Zucker. Nun noch den Löffel. Wo ist der Löffel?
Hatte ich ihn vergessen? Ich kramte überall
und konnte ihn nicht finden.
"In der linken kleinen Tasche" hörte ich eine
Stimme. Erschrocken fuhr ich herum. Ein alter
Mann, nein eher ein "Männlein" stand hinter
mir und grinste mich an. Ich hatte ihn weder
gehört noch gesehen, obwohl ich immer sehr
aufmerksam bin im Wald. Trotz seiner langen
Haare und seines langen Bartes machte er
einen gepflegten Eindruck auf mich.
Ich wollte Dich nicht erschrecken,
verzeih, sagte er.
Er setzte sich neben mich auf den Birkenstamm.
Ich weiß nicht weshalb, aber ich nahm
schon immer zwei Kaffeebecher mit, wenn
ich meinen Rucksack packte und bot ihm einen
Kaffee an, den er dankend annahm. Keinen
Zucker. Du hast immer noch nicht umgerührt,
sagte er. Linke Tasche. Woher weißt Du, wo
ich meinen Löffel hin gepackt habe?, fragte
ich. Hm, ich weiß es eben.
Woher kommst Du?, fragte er mich. Aus dem
Ort unten am Fluss, entgegnete ich. Du bist oft
hier, nicht wahr? Ja, woher weißt Du das? Hab'
Dich schon öfter gesehen hier. Bist nicht so, wie
die meisten.
Wie sind denn die meisten?, fragte ich ihn. Nun,
sie marschieren hier durch, ohne wirklich etwas
zu sehen. Du bist anders. Hälst inne. Schaust Dich
um. Fasst etwas an. Du setzt Dich irgendwo hin und
nimmst die Energie des Waldes auf. Das gefällt
mir. So so, sagte ich.
Und wer bist Du?, fragte ich. Mann nennt mich
den Wanderer, sagte er. Aha. Ich reichte ihm
den heißen Kaffee. Und woher kommst Du?,
fragte ich ihn. Ach, ich bin schon ewig hier - lebe
im Wald. Er gibt mir alles, was ich brauche.
Seine knorrigen Finger umschlossen die
Kaffeetasse. Sie sahen aus, wie kleine Äste.
Wie Borke. Und manchmal sogar Kaffee!
Er lachte mich an.
Du gefällst mir, sagt er. Das freut mich,
gab ich zurück. Weil Du mich an meinen Jungen
erinnerst. Ja, er ist leider früh von uns
gegangen. War erst acht. Hatte was ganz
Schlimmes. Na ja - lange her das alles. Ich
möchte Dir gerne etwas schenken, sagte er und
langte hinter sich. Er brachte einen Wanderstab
hervor. Gehörte damals meinem Jungen, sagte er.
Der ist schon so alt, damals standen diese
Buchen hier noch nicht. Ungläubig sah ich ihn an.
Nimm ihn, sagte er und legte ihn in meine Hand.
Er gehört jetzt Dir, mein Freund.
Ich betrachtete den Stab und merkte, das er
in meinen Händen scheinbar immer wärmer
wurde. Er mag Dich, sagte er. Verwundert sah
ich ihn an. Eiche, sagte er nur. Über 300 Jahre
alt. Er wird Dir gute Dienste leisten, sagte er.
Ich nickte ihm zu und drehte mich zu
meinem Rucksack zurück, um ihm einen Apfel
anzubieten, den ich eingepackt hatte. Als ich
mich zurück drehte, war er weg. Ich hatte es
fast geahnt - weiß nicht warum. War nicht mal
erschrocken.
Ich sah den Wanderstab an. Er kam mir
irgendwie vertraut vor. Da war eine Zahl
eingeritzt. 05.05.1795. Ich bin auch an
einem 05.05 geboren - allerdings etwas
später.... Mein Blick fiel auf den Kaffeelöffel.
Er lag auf der Birke.
Und hatte.... einen Knoten...
Tolkien