3 Jahre später ...
„Mensch Per, was soll das?" Entsetzt stemmte ich die Füße mit aller Gewalt in den Boden. Wie ein Hund, der von einem duftenden Mauseloch nicht wegwollte. Eiskalt lief es mir den Rücken hinunter und meine Augen weiteten sich immer mehr in der Hoffnung, die Fata Morgana vor mir zu enttarnen. „Das da ist ein Friedhof!", kreischte ich schockiert.
Per war größer, stärker als ich, und zog, besser schleifte mich trotz meines Protests hinter sich her.
„Es dämmert schon!" Meine Hand schmerzte unter seinem festen Griff und rutschte trotz meines ausbrechenden Angstschweißes nicht aus seiner. Panisch sah ich mich um.
Wir waren mutterseelenallein mitten im Nirgendwo. „Was willst du denn hier!" Wie ein bockiges Kind versuchte ich, mich ihm zu entwinden. Mit meiner freien Hand einfach seine Finger von meinen zu lösen, eher wegzubiegen. „Ich laufe kein Stück weiter!", jammerte ich immer lauter und verlagerte mein Gewicht noch weiter nach hinten.
Erfolglos.
Wir hatten den Friedhofseingang erreicht und er schob das quietschende Eisentor langsam auf. Rost hatte sich überall auf den schwarzen Sprossen ausgebreitet und es sah so aus, als ob es beim nächsten Windstoß aus den altersschwachen Angeln kippen würde. Doch Per musste kräftig schieben, bis er es soweit geöffnet hatte, dass er mich hinterherziehen konnte, so dass mein erster Eindruck Lügen gestraft wurde. Zweifelnd sah ich die Gitterstäbe an, verwarf den Gedanken, mich daran festzukrallen aber dennoch.
Zehn Schritte weit hatte mich Per schon auf den geweihten Ort gezerrt. Die Sonne wärmte mit letzter Kraft meinen Rücken, für Mitte Februar bereits erstaunlich stark, und strahlte mit ihren rotgoldenen Strahlen das Felsmassiv vor uns an, an dessen Fuße dieser kleine Bergfriedhof angelegt worden war. Alles war so surreal.
Wie ein Traum.
Ein Alptraum.
„Jetzt sei doch nicht so negativ." Endlich stoppte der Mann, den ich zu kennen und zu lieben glaubte, drehte sich zu mir um und grinste schief. Der Mann, der von mir Freiheit einforderte, die ich nicht zu geben bereit war. Und es trotzdem tat. Das Piercing in seinem Ohr warf unschuldig blinkend das letzte Licht der untergehenden Sonne zurück. „Einfach locker bleiben! Lass es auf dich zukommen!" Verschmitzt zog er eine Augenbraue nach oben. „Überraschen lassen."
Wie ich diese Geste an ihm liebte! Doch danach war mir im Moment als Letztes zumute. „Per! Meine Begeisterung hält sich echt in Grenzen. Ich habe keinen Bock dadrauf, den Abend mit einer Horde Zombies zu verbringen." Wut und Gänsehaut ließen meinen Körper in einem heiß-kalten Wechselbad erschauern. Mein Magen klumpte zu einem riesigen Wackerstein zusammen und rutschte immer tiefer. Genauso mein Mut. Und in einer halben Stunde würde es dunkel sein.
Per hatte mich mittlerweile weiter über den halben Friedhof gezerrt. Vorbei an verfallenen Grabsteinen, umgefallenen Engeln und erodierten Grabeinfassungen. Es roch muffig, modrig und nach feuchter Erde.
„Ich will da nicht hin. Wo auch immer du hinwillst, ich will da nicht hin!" Weinerlich klang meine Stimme, zittrig und dünn. Ich wollte Per anbrüllen, ihn anschreien, ihm eine kleben, doch irgendwie traute ich mich nicht mehr, meine Stimme oder sonst irgendetwas zu erheben. Es war ein Friedhof. Ein Ort der Ruhe. Der Trauer. Des Abschieds. Hier war man nicht laut. Obwohl die Toten bestimmt nicht aufwachen würden.
Oder etwa doch?
„Es ist nicht mehr weit." Per blieb stehen und zog mich sanft an seinen Körper. Seine muskulösen Arme umfingen mich mit einem warmen Gefühl der Geborgenheit. Umgeben von seinem Duft und seiner Stärke fühlte ich mich sicher. Ich vergrub meinen Kopf an seiner Brust und schloss die Augen. Nichts von dieser unwirklichen Umgebung wollte ich sehen. Einfach Per spüren. Mich in seiner Wärme verlieren.
„Per, was machen wir hier?" Ich wollte nicht jämmerlich klingen, aber die schluchzenden Worte, die ich mühsam von mir gab, klangen mehr als erbärmlich. „Ich will hier weg. Bring mich einfach nach Hause!"
„Nur noch ganz kurz Geduld. Gleich." Lächelnd küsste er meine Haare und hob sanft meinen Kopf, sodass er meinen Blick gefangen nehmen konnte. „Vertrau mir."
Widerwillig schluckte ich meinen Protest hinunter. „Jetzt sag schon ..." Kläglich sah ich ihn an. „Wie lange willst du mich denn auf die Folter spannen!" Ich wollte das Ganze Was-auch-immer so schnell wie möglich hinter mich bringen und den verfallenen Friedhof besser gestern als heute verlassen. Da ich nicht mehr in Pers schützender Umarmung eingeschlossen war, kroch die Gänsehaut wieder mit ihren eisigen Spinnenfingern meinen Rücken hinauf.
„Nur noch da vorn ums Eck." Nervös lächelnd sah Per mich an und zögernd ergriff er meine Hand. War seine vorher schon so kalt gewesen?
Irritiert ließ ich mich von ihm um das Gebüsch ziehen und stand vor einer riesigen Ansammlung grauer, verwitterter Sandsteine, die vor langer Zeit zu einem Gebäude aufgetürmt worden waren.
Vor uns erhob sich eine alte, verfallene Ruine. Ursprünglicher war sie vermutlich eine kleine Kapelle gewesen. Die Grundmauern standen noch, aber weder Fenster noch Dach waren vorhanden. Jemand musste sich um sie kümmern, den sie war nicht wirklich verfallen. Weder Bäume, noch irgendwelche anderen Pflanzen wuchsen aus den Mauervorsprüngen und forderten ihr ursprüngliches Recht auf Beherrschung der Natur ein.
„Da willst du jetzt nicht wirklich rein, oder?" Energisch riss ich mich aus seiner Umklammerung und starrte fassungslos die Ruine an.
Per nickte unsicher. „Doch, und zwar mit dir gemeinsam."
Kopfschüttelnd betrachtete ich ihn. Ich wollte vieles, aber bestimmt nicht in diese Ruine. „Was hast du vor? Eine schwarze Messe? Eine Totenséance? Heute ist nicht Halloween! Das ist nicht witzig!"
Aber was sollte ich tun? Was waren meine Alternativen? Allein wieder über den unheimlichen Friedhof zum Auto laufen? Oder allein in der Dunkelheit vor der verfallenen Kapelle warten?
„Jetzt komm", bat er. „Es wird dir gefallen ..." Zuversichtlich sah er mich an und ergriff wieder meine Hand. Seine schwitzte. „Hoffentlich", flüsterte er. Aber ich hatte es gehört.
Unsicher biss ich mir auf die Lippen. Vereinzelt zwitscherte ein müder Vogel und die Kälte der einsetzenden Nacht streckte ihre winterlichen Klauen aus. Nur noch ein spärlicher Rest der Sonne malte die Berggipfel dunkelrot an.
Langsam zog Per mich in Richtung Kapelle und betrat das Innere. Dicht an ihn gedrängt folgte ich ihm ängstlich. Mein Herz klopfte lautstark und rasend in meinem Hals.
Warmes Licht empfing uns. Staunend sah ich mich um. Überall brannten Kerzen. Die Kapelle war gar nicht so verfallen, wie es von außen wirkte. Die Grundmauern waren unversehrt, der Boden bestand aus glatten Felsplatten, der steinerne Altar und das Taufbecken waren zwar verwittert, aber intakt. Lediglich die Fenster waren nur noch gähnende, schwarze Löcher in die Dunkelheit. Das fehlende Dach ermöglichte einen atemberaubenden Blick auf den dunkelvioletten Abendhimmel, an dem jetzt immer mehr Sterne funkeln würden. Nur störte der Kerzenschein den ungetrübten Blick auf mögliche Sternschnuppen.
Wieder sah ich mich in der Kapelle um. Nicht nur, dass hier lauter brennende Kerzen standen. Rosenblätter lagen überall verstreut auf dem Steinboden. Bisschen übertrieben für den Valentinstag. Essen gehen hätte vollkommen ausgereicht! Mal abgesehen davon, dass mir der Tag, an dem die Blumenverkäufer jubelten, völlig egal war. Per doch eigentlich auch! Stirnrunzelnd betrachtet ich das Ganze. So was von klischeehaft! Und so etwas von untypisch für den Typen, der mich vor nicht einmal einer halben Stunde über den uralten, verfallenen und zudem äußerst gruseligen Friedhof gezerrt hat.
„Per?" Fragend sah ich ihn an. Vergessen war meine Furcht. Sie war Verwunderung gewichen. Mein Herzklopfen hingegen war immer noch da. Sogar noch stärker als vorher. Aber nicht mehr aus Angst.
„Warte", bat mich Per leise und eilte auf die gegenüberliegende Seite der Kapelle.
Unschlüssig blieb ich zurück und beobachtete ihn angespannt.
Eine kleine Vertiefung befand sich dort in der Steinmauer. Vermutlich war da einmal der Beichtstuhl gewesen. Aber jetzt stand an jener Stelle etwas anderes.
War das, war das ... ein Klavier?
Bevor ich mir weitere Gedanken darüber machen konnte, nahm Per auf dem Klavierhocker Platz und begann, den Tasten wundervolle Töne zu entlocken. Die Akustik der Kirche war atemberaubend. Jeder Ton berührte mich. Streichelte mich sanft. Bis in mein Innerstes drangen diese verwunschenen Klänge und berührten Stellen in mir, die ich vor Per immer tunlichst verborgen hatte.
„Seit wann ...?" Fassungslos und völlig überwältigt trat ich in das Zentrum der Kapelle. Per konnte mich nicht hören, völlig vertieft war er in das Klavierspiel. Ich wusste gar nicht, dass er das konnte. Schließlich saß er immer am Schlagzeug. Schnell verscheuchte ich diese irritierenden Gedanken und konzentrierte mich nur auf Per, das Klavier und die wunderschöne Melodie.
Alles um mich verschwamm und ich nahm nur noch wahr, wie Pers Finger sanft über die elfenbeinfarbenen Tasten des Keyboards glitten. Zauberhafte Töne erfüllten den geweihten Ort und entführten mich in eine völlig andere Welt. Er spielte ein romantisches Lied. Voller Liebe, Hoffnung und Sehnsucht.
Die letzten Töne verhalten langsam im Raum, doch ich starrte immer noch gebannt und mit Gänsehaut zu dem Mann auf dem Klavierhocker. Langsam drehte er sich zu mir um. Stolz und Unsicherheit standen in seinen Augen.
„Per, das war unglaublich!" Strahlend lief ich auf ihn zu und zog ihn vom Hocker, um ihn zu umarmen. „Es war einfach wunderschön. Auch der Raum und die Akustik." Ich deute mit dem Arm in den Kirchenraum. „Es klingt unglaublich hier drin. Aber hättest du unbedingt so ein Scheißgeheimnis daraus machen müssen? Mich über diesen blöden Friedhof zerren? Und dann die vielen Kerzen und die Blütenblätter. Romantik liegt dir doch überhaupt nicht." Kopfschüttelnd betrachtete ich noch einmal das Ambiente. Wieso machte er das? Was steckte dahinter? „Woher wusstest du von diesem unglaublichen Raumklang und vor allem, seit wann spielst du Klavier? Warum das Ganze?" Neugierig und erwartungsvoll drehte ich mich wieder zu ihm.
„Ich habe ein bisschen geübt. Daniel hat mir das beigebracht." Es klang fast wie eine Entschuldigung.
„Daniel???" Verwirrt sah ich Per an. Gerade war ich noch in seinem wundervollen Klavierspiel gefangen und jetzt riss er mich dermaßen unsanft in die Realität zurück.
Aber das konnte ich nicht zulassen. Nicht jetzt. Sofort verdrängte ich diese Gedanken. An diesen Arsch wollte ich nicht denken. Schon gar nicht nach allem, was er meiner besten Freundin angetan hatte. Oder auch nicht. Und dass er Pers bester Freund sein sollte, ging mir bis heute nicht in den Kopf. Zumindest sträubte sich in mir immer mehr gegen diese Tatsache.
Per musste mir meine Wut angesehen haben. „Nicht jetzt Lisa. Es war blöd von mir, ihn hier zu erwähnen." Seine Hand fuhr zärtlich über meine Wange und verharrte dort. Warm, kräftig, aber dennoch ein wenig zittrig. Ich schluckte und mein Herz begann erneut heftig zu klopfen. Per musste das doch hören, so laut war es.
Aber er sagte nichts, sondern legte seinen anderen Arm um meine Taille, sah mir fest in die Augen und hielt meinen Blick gefangen. Sekunden. Minuten. Stunden. Seine braunen Augen warfen die Lichter der brennenden Kerzen wie funkelnde Sterne zurück.
„Ich weiß", begann er ganz leise. Doch die Kapelle verstärkte jedes Wort mit einem unglaublichen Hall. „Es ist nicht einfach mit mir. Im Gegenteil. Ich weiß, dass du mich jeden Tag mindestens einmal auf den Mond schießen könntest. Ohne Rückfahrkarte. Ich bin unzuverlässig, chaotisch, verträumt und lebe in anderen Sphären. Ein Künstler eben. Aber ich weiß auch, dass ich ohne dich nicht leben möchte. Dass ich jeden Morgen neben dir aufwachen möchte. Bis in alle Ewigkeit."
Jetzt schluckte ich noch einmal heftig. Und mein Herzschlag beschleunigte sich erneut. So langsam auf ein bedenkliches Tempo. „Per, ich ..." Stotternd wollte ich ihm widersprechen.
„Schsch." Er schüttelte den Kopf. „Ich bin noch nicht fertig." Nach wie vor hielt er meinen Blick gefangen. „Ich liebe dich, Elisabetha Helena di Mertani. Möchtest du mich heiraten?"
Entsetzt sah ich ihn an. „Woher weißt du ...?"
Sein Daumen legte sich sanft auf meine Lippen. Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Beantworte einfach meine Frage."
Die Gefühle in mir fuhren Achterbahn. Mein Herz vollführte einen Salto nach dem anderen. Aber mein Magen klumpte sich zu einem Felsbrocken zusammen. Reißend strömte mir das Blut heiß durch die Adern, doch meinen Rücken kroch eine eisige Kälte hinauf.
Ich befreite mich hastig aus Pers Umarmung und starrte ihn fassungslos an. Wie oft hatte ich mir gewünscht, dass er mir seine Gefühle zeigte. Wie oft wollte ich wissen, ob ich nur seine momentane Lebensabschnittsgefährtin war, oder ob er doch mehr, tiefer für mich empfand. Ein einfaches ‚Ich liebe dich' hatte ich mir gewünscht!
Aber doch nicht so etwas. Gleich einen Heiratsantrag. Und auch noch mit meinem richtigen Namen! Was wusste er von mir? Von meiner Vergangenheit?
Per bot mir genau das an, was ich mir tief in meinem Innersten immer gewünscht hatte. Seine Liebe und ein Leben mit ihm. Auch wenn er ein Chaot war und nie erwachsen wurde. Ich liebte ihn. Seit ich in der Bibliothek meine Bücher über seinen Tisch verteilt hatte ...
„Lisa." Per lächelte nicht mehr. Seine Augen blitzten gefährlich. „Ich kenne dein Geheimnis. Vielleicht nicht in allen Einzelheiten. Du musst sie mir auch nicht erzählen. Aber ich verspreche dir, wir stehen das gemeinsam durch." Er trat wieder einen Schritt auf mich zu und schloss mich fest in seine Arme. „Du und ich gegen den Rest der Welt", flüsterte er in meine Haare.
Tränen schossen mir in die Augen.
Per legte seine Hand liebevoll unter mein Kinn und hob meinen Kopf. Heiß kullerten die Tränen unaufhörlich über meine Wangen. Sanft wischte er sie mit dem Daumen weg und sah mir in die Augen. „Werde meine Frau."
Schniefend wischte ich mir dir Augen trocken und sah Per traurig an. "Ich kann nicht ..."