Marie musste schmunzeln. Sie wusste genau, dass Fabian früher oder später sein Herz ausschütten würde. Sie stellte den Kasten Bier, den sie geholt hatte, ab und drehte sich erneut zu Fabian um. Er stand da wie ein kleiner Junge, der seiner Mutter beichtete, dass er sein ganzes Geld für Süßigkeiten ausgegeben habe. Sein Kopf war nach unten gerichtet, seine Augen aber blickten Marie genau ins Gesicht. Er stand leicht gebeugt da und wollte erneut etwas sagen, ehe Marie das Wort ergriff.
Marie: Es muss dir nicht peinlich sein, wirklich nicht. Ich meine, du hast keinem was getan, bist keinem etwas schuldig. Ich verstehe nur einfach nicht wie du schon seit Jahren so leben kannst!
Fabian fühlte sich ein wenig erleichtert, seine verkrampfte Haltung entspannte sich und das warme Lächeln, dass Marie ihm schenkte, beruhigte ihn.
Fabian: Ehrlich gesagt hab ich noch nie ernsthaft mit jemand darüber gesprochen. Weißt du, am Anfang denkst du dir, heute war ein schlechter Tag, oder ärgerst dich über dich selbst, weil alles nicht so läuft wie du es dir vorstellst. Du denkst dir, bald wist du schon neue Freunde finden, oder du wartest einfach bis das Schuljahr rum ist, um dann in einer neuen Klasse nette Leute kennenzulernen. Wenn dann aber Jahre vergehen und es immer schlimmer wird... dann verlierst du irgendwann den Glauben an dich selbst. Ehrlich gesagt war ich noch nie wirklich überzeugt von mir. Klar sind mir die ganzen Idioten relativ egal, aber auf Dauer erträgst du das irgendwann nicht mehr. Ich wollte nicht mehr von zuhause weg, wollte so wenig Leute wie möglich treffen, aber irgendwann kann man sich nicht mehr verstecken. Ich weiß, das ist krank...
(zögert ein bisschen)
Eigentlich wollte ich heute von vorn anfangen, einfach alles was in meinem Leben bis jetzt passiert ist vergessen und komplett neu anfangen, so eine Art Fabian 2.0... aber dafür ist das Sportheim hier einer der beschissensten Orte überhaupt.
Marie sah Fabian mit großen Augen an. Sie war erstaunt, dass Fabian auf einmal so viel preisgab. Sonst hatte er immer von sich abgelenkt und seine Probleme klein geredet. Irgendwie fühlte sie sich schuldig ihm gegenüber, und dachte, all die Jahre viel zu wenig für ihr getan zu haben. Sie fand das alles so traurig, dass ihr ein paar Tränen über die Wangen liefen...
Fabian war ihr mehr als dankbar. Allein die Tatsache, dass Marie ihn nicht mobbte, machte sie in seinen Augen schon zu einem liebenswürdigen Menschen. Das erste Mal seit Jahren wieder auf eine Party gehen zu können, jemand zu haben, dem er seine Probleme anvertrauen konnte, all dass hatte er nur ihr zu verdanken.
Marie war sich sicher, dass jetzt der Moment gekommen war, an dem Gesten mehr wert waren als Worte. Was hätte sie auch zu seinem traurigen Leben sagen sollen? "Tut mir leid"? "Bald wird alles besser"? ...Das hört sich doch alles beschissen an, dachte sich Marie und machte ein paar Schritte auf Fabian zu, der sich mittlerweile an die Wand gelehnt hatte. Marie öffnete ihre Arme und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Fabian stand neben sich, noch nie wurde er von einem Mädchen in seinem Alter umarmt. Einen Moment lang wusste er überhaupt nicht was er tun sollte. Diese Wärme, diese Geborgenheit hatte ihm außer seiner Mutter noch nie jemand gegeben. Langsam und vorsichtig legt seine Hände um Marie und genoss die Wärme ihres Körpers.
Ein lautes Quietschen ließ beide zusammenzucken, die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich. Es war Lala. Marie und Fabian sahen erschrocken zur Tür und lösten reflexartig ihre Umarmung. Lala, die wahrscheinlich schon längst die Ein-Promille-Grenze übertrunken hatte, brauchte einige Sekunden, um Marie und Fabian zu erkennen. Sie musste dermaßen laut lachen, als sie die beiden sah, dass eine ihrer Freundinnen sie hörte und ebenfalls an die Tür kamen.
Chantal (beste Freundin von Lala): Alter, was ist denn bitte so lustig, dass du dir an dieser verfickten Tür die ganze Zeit einen ablachst?
Chantal hatte keine Antwort bekommen und ging ebenfalls zur Tür. Als sie neben der etwas rundlichen Lala ins Nebenzimmer blicken konnte, kriegte sie sich vor Lachen nicht mehr. Lala beruhigte sich zuerst und versuchte in mehreren Anläufen, die immer wieder durch kurze Lacher unterbrochen wurden, Marie etwas zu fragen.
Lala: Marie, ist das dein Ernst? Du schmust mit dem Opfer im Nebenzimmer rum? (sie musste wieder laut lachen) Weißt du eigentlich wie lächerlich du bist? Hättest du die Pickelfresse jetzt auf den Bierkästen durchgefickt oder was? (Lala und Chantal konnten nicht mehr vor Lachen, Marie war extrem wütend) Alter, ganz ehrlich, wie notgeil muss man bitte sein!
Lala und Chantal gingen drehten sich um und gingen wieder auf die Tanzfläche zu, die mittlerweile ziemlich dicht gefüllt war. Die anderen schienen von der ganzen Situation wohl nichts mitbekommen zu haben. Dies würde sich aber in den nächsten Sekunden ändern, sobald die zwei Lästermäuler Lala und Chantal ihre Entdeckung herumplöken würden. Marie fühlte sich von purer Wut erfüllt und fühlte sich von ihren zwei falschen Freundinnen derart hintergangen, dass sie mit ihnen nie wieder etwas zu tun haben wollte. Sie ging mit schnellen Schritten aus dem Nebenzimmer und bewegte sich in Richtung Ausgang. Fabian war verunsichert und hatte Angst alleine im Nebenzimmer stehen zu bleiben, also ging er Marie mit gesenktem Haupt hinterher. Sie drehte sich kurz zur Seite und sah ihre zwei kichernden "Freundinnen". Bei diesem Anblick wurde ihr fast schon schlecht, so abscheulich fand sie das Verhalten der beiden. "Ihre seid so widerlich", rief sie Lala und Chantal hinterher und ging zur Tür des Partyraumes. Fabian war etwas stutzig, dass Marie gerade dabei war, ihre eigene Party zu verlassen. Was wenn Marie auch mit ihm nichts mehr zu tun haben wollte? War er an allem schuld? Er machte sich selbst Vorwürfe und schämte sich dafür, dass die anderen seinetwegen Marie ausgelacht hatten . Während alle Marie nachblickten, die gerade die gerade die Tür des Partyraumes aufgerissen hatte, ging Fabian wie ein kleines Hündchen hinter ihr her, was hätte er auch anderes tun sollen. Marie war aus dem Blickfeld verschwunden und Fabian merkte wie nun auch er von den anderen gemustert wurde. Die paar Meter bis zum Ausgang fühlten sich ewig an. Diese Blicke demütigten ihn immer so, dass er am liebsten in den Erdboden versunken wäre. Er versuchte so flüchtig und unauffällig Marie zu folgen, wie es nur ging. Sie war mittlerweile den Flur entlang gelaufen und bewegte sich in Richtung der Eingangstür. Noch immer folgte ihr Fabian, was sie anscheinend noch nicht bemerkt hatte. Marie war hinaus gegangen und feuerte die Aluminium-Tür hinter sich zu, so laut, dass das Echo des Knalls im gefliesten Flur zu hören war. Fabian war etwas erschrocken, was ihn aber nicht daran hinderte, Marie mit gleichmäßigen Schritt zu folgen. Von den Partygästen schien sich wohl keiner für Marie zu interessieren, denn der Flur des Sportheims war komplett leer, als auch Fabian zur Tür hinausging.
Marie saß direkt neben dem Eingang, mit dem Rücken zur Wand und stützte ihren Kopf auf beiden Händen ab. Ein paar Meter weiter standen noch immer ein paar Raucher, die ihre Party vor der Tür zu feiern schienen. Es wirkte so, als hätten sie weder Marie, noch Fabian bemerkt. Wahrscheinlich hatten sie mittlerweile regenbogenfarbene Einhörner vor Augen.
Fabian hatte kurz nachgedacht, was er jetzt tun solle. Er hätte nach Hause gehen können, schließlich war er auch zu Fuß gekommen. Zuhause wäre er wenigstens sicher gewesen, sein Haus war einer der wenigen Orte, an denen er noch nie dumm angemacht worden war.
Von sich selbst überrascht setzte sich Fabian neben Marie, wenigstens um sich zu entschuldigen, oder so. Auch er lehnte sich mit dem Rücken gegen die weiße verputzte Wand des Sportheims. Keine von beiden sagte etwas, das einzige, das man hörte, waren das Gelächter der Raucher und das Zirpen der Grillen. Mittlerweile war es fast komplett dunkel, auch wenn in diesen klaren Sommernächten der Himmel noch dunkelblau schimmerte. Fabian blickte auf den geteerten Weg und war fasziniert davon, wie symmetrisch die Lichtkegel der Laternen auf den Weg fielen. Marie hielt ihr Gesicht immer noch in beiden Händen, die Arme wiederum, hatte sie auf ihren Knien abgestützt. Fabian war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte Marie schluchzen zu hören. Es tat ihm so unendlich leid, denn wusste genau, wie sehr sich Marie eine perfekte Party gewünscht hatte. Er hatte diesen Abend so früh versaut. Ihm ging immer wieder die Situation im Nebenzimmer durch den Kopf. Er war es ja gewöhnt, ausgelacht zu werden, aber Marie? Ihr musste es sehr weh getan haben, immerhin war es ihre eigene Party. Sie hatte alles organisiert, für alles gesorgt... und nun saß sie vor der Tür und weinte.
Noch immer hatte keiner von beiden etwas gesagt. Die Raucher schienen mittlerweile jenseits von Gut und Böse zu sein. Manche von ihnen versuchten auf die Musik zu tanzen, die man dumpf von drinnen hören konnte. Es sah äußerst merkwürdig aus, aber sie schienen mehr Spaß zu haben, als alle anderen.
Fabian wandte seinen Blick von den Rauchern ab, und schloss für einen Moment die Augen. Ihm ging so viel durch den Kopf. Nach Minuten des Schweigens, wandte er sich Marie zu.
Fabian: Es tut mir so leid, du hättest mich nicht einladen dürfen!
Es dauerte einen Moment, bis Marie ihr Gesicht, das sie immer noch in beiden Händen gehalten hatte, erhob, und Fabian in die Augen sah. Sie hatte geweint und das sprach für sich, denn wenn ein Mädchen hart im Nehmen war, dann Marie. Sie war nie eins dieser zerbrechlichen Mädchen gewesen, das in Tränen ausbrach, wenn ein Fingernagel abgebrochen war.
Als sie Fabian antwortet, schien sie ihre Tränchen schon wieder in den Griff bekommen zu haben.
Marie: Fabian! Jetzt hör bitte auf dich selbst zu bejammern, du bist ganz bestimmt nicht daran schuld, dass ich solch miese Freunde habe! Ich hätte besser die meine zwei falschen Freundinnen von der Gästeliste gestrichen, als dich...
Fabian war erleichtert, denn Marie schien ihm das ganze nicht so übel zu nehmen, wie er befürchtet hatte. Sonst hatte er immer für die Probleme der anderen herhalten müssen...