„Wir beenden das Ritual jetzt, hier und sofort!“
Mit vor der Brust verschränkten Armen starrte Hermine auf Tom hinab. Sie war ihrem Ausflug ins Dorf augenblicklich in den Slytherin-Gemeinschaftsraum zurückgekehrt, nur um dort von Abraxas zu erfahren, dass Tom ihr ausrichten ließ, er wäre auf einer Bank am See zu finden. Ohne auf den kalten Wind zu achten, der schneidend durch ihren dünnen Sommerumhang fuhr, war sie den Pfad über die Ländereien entlang geeilt, um ihn zu konfrontieren. Und nun stand sie vor ihm, vollkommen entschlossen, dem Spektakel ein Ende zu bereiten, und er schien nicht im Mindesten beeindruckt davon.
„Warum?“
„Es kostet mich zu viel Kraft!“, erklärte Hermine aufgebracht, ohne ihre echten Gründe offenlegen zu wollen: „Ich merke schon wieder, wie ich kaum noch die Energie habe, hier zu stehen und mit dir zu reden. Das geht nicht. Ich brauche meine Magie für andere Dinge. Wichtigere Dinge als das bloße Spiel mit Mitschülern.“
Tom lächelte sie bloß mit halb gesenkten Lidern an: „Was könnte wichtiger sein als das Studium der Dunklen Künste?“
Lange starrte Hermine ihn bloß an. Tom spielte mit ihr, in diesem Moment mehr als sonst. Sie fragte sich, ob sie ihm das einfach so sagen sollte, ob sie ihn darauf hinweisen sollte, dass sie ihn in diesem Punkt durchschaut hatte. Welche Version von ihr wollte er haben? Wenn er sie wirklich einfach nur als unterwürfiges, schweigendes Lamm wollte, wäre ein offener Konflikt jetzt kontraproduktiv und würde sie weit zurückwerfen. Andererseits war sie nicht länger bereit, diese Rolle zu spielen. Es war zu passiv. Wenn sie wirklich an ihn herankommen wollte, musste sie sich als ebenbürtig präsentieren, auch wenn ihn das nicht passen würde zu Anfang.
„Spar dir das, Tom“, sagte sie schließlich mit fester Stimme. Für einen Wimpernschlag huschte Überraschung über sein Gesicht, doch dann kehrte die wohlüberlegte Neutralität zurück. Immerhin blickte er sie nun voll an. Entschlossen, sich nicht von ihm aus der Ruhe bringen zu lassen, fuhr sie fort: „Du willst, dass ich mich vor dir in den Staub werfe und darum bettle, dass ich es beenden darf. Aber das werde ich nicht. Ich kann das Ritual auch jederzeit ohne deine Erlaubnis beenden.“
Ein überlegenes Grinsen trat auf seine Lippen: „Du könntest. Aber das würdest du nicht wagen.“
Sie bemühte sich, das Grinsen zu imitieren: „Vielleicht nicht. Vielleicht doch. Wir werden es nie herausfinden, denn Fakt ist, du willst das Ritual auch beenden.“
Er legte den Kopf schräg, immer noch lächelnd: „Was bringt dich auf den Gedanken?“
Hermine konnte nur mit den Augen rollen ob dieser unnötigen Nachfragen. Sie stemmte eine Hand in die Hüfte und erläuterte gelassen: „Du hast die Erinnerungen von Augusta sorgfältig manipuliert. Sie erinnert sich an die letzten Tage und Wochen, nicht jedoch an das Ritual. Sie erinnert sich an die Vergewaltigung, nicht jedoch an dich oder mich. Du hast dafür gesorgt, dass das Grauen noch immer da ist, dass sie aber den Ursprung nicht mehr kennt. Warum hättest du das tun sollen, wenn du noch länger mit meiner Macht über sie herumspielen willst?“
Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob Tom sich und ehe Hermine wusste, wie ihr geschah, hatte er sie in eine enge Umarmung gezogen: „Ach, Hermine. Wo bist du nur hergekommen?“
Sie verkniff sich eine Antwort darauf und erwiderte stattdessen die Umarmung. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie jeder Körperkontakt zu Tom Riddle ihr noch vor wenigen Wochen mehr als unangenehm gewesen war, doch das hatte sich geändert. Es war nicht so, dass sie seine Berührung genoss, doch sie gewöhnte sich daran. Ihr Körper gewöhnte sich an ihn. Und trotz des abscheulichen Verbrechens, das er gerade an Augusta begangen hatte, hatte sie doch inzwischen eines gelernt: Dieser Tom Riddle unterschied sich massiv von Voldemort. Er war zu einer viel größeren Breite an Gefühlen fähig, nicht beherrscht ausschließlich von Hass und Verachtung. Er war so viel menschlicher.
„Tom“, flüsterte sie schließlich: „Was du heute getan hast … was wir getan haben … das war falsch.“
Abrupt rückte er von ihr ab. Seine Hände schlossen sich fest um ihre Oberarme, während sein Blick sich unerbittlich auf sie richtete: „Falsch?“
Hermine zwang sich, dem Blick standzuhalten, obwohl sie innerlich unendlich nervös war. Sie musste ihren Standpunkt deutlich machen, ohne dabei zu viel über ihr gutes Herz zu verraten: „Wir haben einer Frau Gewalt angetan. Die schlimmste Form von Gewalt, die es gibt. Das richtet nicht nur körperlichen, sondern auch seelischen Schaden an. So etwas kann einen Menschen brechen, für immer. Es war …“, kurz stockte sie, doch ihr Entschluss stand fest, „Es war berauschend, zu was wir … ich fähig bin. Das Maß an Kontrolle. Aber … Wozu? Augusta Bargeworthy erinnert sich an nichts mehr. Wir haben niemandem irgendetwas bewiesen. Wir haben nichts erreicht. Es war sinnlose Kraftverschwendung.“
Toms rechte Hand wanderte langsam ihren Arm hoch und legte sich unter ihr Kinn: „Sinnlos, mh?“
Für einen Augenblick noch verharrte er in der Position, schaute ihr tief in die Augen, als suche er nach was. Dann seufzte er tief und stieß sie so heftig von sich, dass sie haltlos zu Boden fiel. Verwirrt schaute Hermine zu ihm auf. Da stand er, beide Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben, und starrte auf den See hinaus. Sie richtete sich auf, blieb jedoch auf dem Boden sitzen. Sie hatte sowieso nicht mehr genug Energie zu stehen.
„Du bereitest mir Kopfschmerzen“, stellte er schließlich ausdruckslos fest. Er drehte sich nicht zu ihr um, schaute sie nicht an, stand einfach da, der Rücken zu ihr, der Blick in die Ferne gerichtet: „Du hast so viel Potential. Und doch lügst du ständig. Sag mir, Hermine. Als ich dich mit dem Buch über die Dunklen Künste erwischt habe … war es da nur wissenschaftliche Neugier, die dich getrieben hat, oder meintest du es wirklich ernst? Habe ich einen Fehler gemacht, dein Interesse ernst zu nehmen?“
Unwillkürlich griff Hermine nach ihrem Zauberstab und erhob sich vom Boden. Das war kein normales Verhalten für Tom Riddle. Er fragte nicht nach Wünschen anderer Leute. Er verlangt und er zwang. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken runter.
„Du hast keinen Fehler gemacht“, flüsterte sie, den Stab noch immer verborgen in ihrem Mantel in ihrer Hand. Ihr war, als ginge plötzlich erneut diese merkwürdige knisternde Energie von ihm aus, als könnte sie seine Magie in der Luft spüren. Und sie selbst war schwächer denn je.
„Du machst mich … so wütend“, presste Tom hervor, während er sich langsam zu ihr umdrehte. Sie hatte Recht gehabt. Sein Gesicht war vor Zorn verzerrt und seine Augen flackerten rot. Mit angehaltenem Atem erwartete sie seinen Wutausbruch.
„Vom ersten Tag an!“, zischte er: „Es gibt keinen Tag, an dem du nicht irgendetwas tust, um mich zu provozieren. Habe ich dir nicht gezeigt, wozu du in der Lage bist, wenn du dich mir nur beugst? Siehst du nicht, was du von mir lernen kannst? Warum … warum strebst du so sehr danach, mich immer wieder zurückzuweisen?“
Ein überraschtes Keuchen entfuhr Hermine. Obwohl er schon öfter ähnliche Dinge gesagt hatte, ging ihr jetzt mit einem Mal auf, was sein eigentliches Problem war. Wenn sie genauer darüber nachdachte, war es beinahe unfassbar, dass ihr der Gedanke nicht schon viel früher gekommen war. Alles, was Harry ihnen über Voldemorts Kindheit erzählt hatte, passte genau dazu. Kopfschüttelnd ließ sie ihren Stab los und trat auf Tom zu.
Tom Riddle war ein Narzisst, wie ihn ein Psychologiebuch nicht besser hätte beschreiben können. Und sie hatte tatsächlich sehr viel Zeit darauf verwendet, seine Persönlichkeit in Frage zu stellen. Kein Wunder, dass er so emotional und widersprüchlich reagierte.
„Weißt du, was ich nicht verstehe?“, sagte sie schließlich, während sie vorsichtig an ihn herantrat: „Du kannst so höflich sein. Du zeigst Verständnis für andere Schüler, bist freundlich und aufmerksam. Vielleicht ist das nur eine Maske, aber du kannst das.“
„Und dein Punkt ist?“
„Warum kannst du das bei mir nicht? Zumindest für einen Moment, hin und wieder? Einfach mal versuchen, mir mit Aufmerksamkeit zu begegnen anstatt mich unbedingt in eine Richtung zu drängen, egal, ob ich das will oder nicht?“
Unglaube flog über Toms Gesicht, doch kaum hatte Hermine die Regung entdeckt, war auch schon wieder der ungeduldige Zorn zurückgekehrt. Kopfschüttelnd rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken: „Ich dachte, du magst Masken und Falschheit nicht? Ich dachte, wir hätten diese Ebene hinter uns gelassen? Muss ich dich genauso in Watte packen wie den Rest der Idioten?“
Schnaubend ließ Hermine ihren Stab los und verschränkte die Arme vor der Brust: „Erwartest du ernsthaft, dass ich dir abnehme, dass du mich so viel höher einschätzt als deine Mitschüler?“
Lange blickte Tom sie nur an, dann warf er ihr ein schiefes Grinsen zu: „Manchmal vergesse ich, wie scharfsinnig du bist.“
Das Grinsen verschwand und er drehte sich langsam wieder zum See um. Hermine wartete darauf, dass er noch etwas sagen würde, doch er schenkte ihr keine Beachtung mehr. Unsicher starrte sie auf seinen Rücken. Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass sich irgendetwas zwischen ihnen geändert hatte.
Tom Riddle hatte ganz sicher narzisstische Veranlagungen. Die Ablehnung, die sie ihm entgegen brachte, war für ihn unverständlich, weil er nicht in der Lage war, Fehler an sich selbst zu erkennen. Sie legte den Kopf schräg. Vermutlich dachte er tatsächlich, dass er das Recht hatte, über andere Menschen zu herrschen, weil er ihnen überlegen war. Seine Meinung über Freiheit und Moral hatte er ja zu Genüge dargelegt. Er wusste, die Morde an Myrte und an seinem eigenen Vater durften niemals entdeckt werden, aber echte Reue verspürte er darüber wohl nicht. Ebenso wie er zwar vorsorglich Augustas Erinnerungen verändert hatte, damit sein Verbrechen nicht aufflog, selbst aber keinerlei Schuldbewusstsein zeigte, tatsächlich etwas falsch gemacht zu haben.
Seine Vorstellung von Gut und Schlecht, von Richtung und Falsch war einfach ganz anders. Er war so gefangen in seinem Weltbild, in seinem Selbstbild, dass er gar nicht anders konnte, als so zu handeln. Und dann kam sie daher und stellte alles in Frage.
Natürlich ahnte ein Narzisst irgendwo tief in sich, dass sein Selbstbewusstsein auf tönernen Füßen stand, doch gerade darum reagierte er umso aggressiver auf jeden Versuch, das Selbstbild ins Wanken zu bringen. Dass er ihre anfängliche Ablehnung tatsächlich ertragen hatte, dass er ihr eine Chance gegeben hatte, war aus dem Blickwinkel mehr als erstaunlich. Und umso wichtiger war es, dass sie sich ihm weiterhin als wertvoll präsentierte. Doch sie musste ihm auch zeigen, dass sie seine Moralvorstellung nicht teilte.
Leise trat sie an ihn heran. Lord Voldemort mochte ein Monster sein, aber dieser Tom Riddle hier vor ihr war vor allem ein junger Mann mit einer schweren psychischen Störung. Vielleicht hätte sie Mitleid empfinden sollen. Die Geschichten, die Harry über Toms Zeit im Waisenhaus erzählt hatte, wären an sich schon genug, um Mitleid zu empfinden. Doch seine Gewalttaten waren zu grausam, als dass Hermine so fühlen konnte. Sie verstand, dass Toms Kindheit ihn geprägt hatte, doch welche Konsequenzen er daraus zog, hieß sie nicht gut. Dieser junge Mann hier hatte noch alle Zeit der Welt, sich für den richtigen Weg zu entscheiden, niemand in der Zaubererwelt diskriminierte oder verachtete ihn. Er musste nicht zu diesem Monster heranwachsen. Und doch war das die Entscheidung, die er getroffen hatte. Oder treffen würde.
Langsam überbrückte sie die letzte Distanz, schmiegte sich an seinen Rücken und ließ ihre Stirn gegen ihn sinken. Sie spürte, wie er sich kurz verkrampfte, doch er rührte sich nicht aus seiner Position.
„Tom“, flüsterte sie leise: „Ich werde jetzt das Ritual beenden. Ich bin mein eigener Herr, du kannst nicht jeden Aspekt meines Lebens kontrollieren. Aber“, fügte sie rasch hinzu, als er in offensichtlicher Wut seine Fäuste ballte: „Wenn du akzeptierst, dass ich ein eigenständiger Mensch bin, dann will ich gerne als Partnerin an deiner Seite stehen.“
Er drehte sich zu ihr um, das Gesicht wie immer ausdruckslos, doch Hermine war sich sicher, dass heißer Zorn in ihm wütete: „Als meine Partnerin?“
Sie wusste, sie musste ihre Worte mit Bedacht wählen, doch gleichzeitig wollte sie so selbstbewusst wie möglich rüber kommen: „Du kannst mir nichts vormachen, Tom. All dein Philosophieren über Moral und Freiheit, über die Fesseln, die die Gesellschaft uns auferlegt. Du träumst von etwas Größerem, nicht wahr? Du hast eine Vision. Du willst die Welt zu einem besseren Ort machen. Weih mich ein. Erzähle mir von deiner Idee. Ich kann mehr sein als ein bloßes … Spielzeug, wie du es so hübsch ausgedrückt hast.“
Kurz schien es ihr, als würde Tom mit sich selbst ringen, dann schließlich erwiderte er kühl: „Denkst du wirklich, dass du das willst?“
Natürlich wusste Hermine, dass sie das nicht wollte, doch gab sie lachend zurück: „Schlimmer als Grindelwald kannst du nicht sein.“
Wieder huschte ein überraschter Ausdruck über sein Gesicht: „Dass du darüber lachen kannst.“
Hermine war sich sicher, wenn sie nicht gewusst hätte, dass Grindelwalds Terror sehr bald durch Dumbledores Eingreifen ein Ende finden würde, hätte sie nicht darüber gelacht, doch offenbar war ihre lässige Einstellung zu diesem Thema genau das, was Tom überzeugte. Er legte ihre eine Hand auf die Wange und zog sie näher zu sich: „Wie du willst. Wir werden sehen, ob du tatsächlich bereit bist für meine … neue Welt. Wenn du gesehen hast, was ich dir zeigen werde, gibt es kein Zurück mehr, Hermine. Also überlege dir gut, worum du bittest!“