Winternacht
Du siehst die leuchtende Sternschnuppe nur dann, wenn sie vergeht. ~ Friedrich Hebbel
Wehmut lag in ihrem Blick, als sie mit klammen Fingern über die, in die bröckelnde Wand geritzten, Symbole fuhr. Tränen brannten in ihren Augen, lieferten sich einen Kampf mit ihren Lidern und hinterließen eine blasse Spur auf dem schmutzverschmierten Gesicht, als sie schlussendlich siegestrunkend ihre Wangen hinabkullerten. Ein Schluchzen drang ihre Kehle hinauf, drückte gegen ihren Kehlkopf und gewann den Kampf zwischen Verzweiflung und Vernunft ebenso wie ihre Tränen es getan hatten.
Es war, als würde sie selbst betrachten; Zusammengekauert an der Wand lehnend, zitternd, in tiefer Verzweiflung wimmernd. Gefangen in dem lächerlichem Wunsch, durch das einfache Nachfahren der Linien im Stein, durch simples aber inständiges Hoffen das zurückholen zu können, was diese Welt ihr genommen hatte. Fast so, als würde sie Hauptfigur in einem Drama spielen.
Eisiger Wind pfiff durch die schier endlose Anzahl an undichten Kanten und provisorisch vernagelten Fenstern, die dem stetigen Verfall zum Opfer geworden waren. Vereinzelte Schneeflocken wurden vom Toben des Wintersturmes in den, nicht als Trostlosigkeit versprühenden, Raum getragen und segelten dort in beinahe magisch anmutenden Figuren durch die Luft, bis sie schließlich am Boden ihrem langsamen Tod hingegeben wurden. Aus der Ferne durchdrang das festliche Läuten von Kirchenglocken das Tosen des Verhängnis bringenden Unterwetters, das durch seine gewaltige Macht nicht nur die Rauschwaden der Fabriken in alle erdenklichen Himmelrichtungen zerstob, sondern auch den Schwachen und Kranken jegliche Hoffnung auf ein erfülltes Weiterleben mit menschenunwürdiger Härte für immer nahm. Das festliche Läute von Kirchenglocken war es, das in seinen Ursprüngen als Danksagung für die Geburt des Messias‘ erdacht worden war, aber inzwischen zwangsweise mit dem Willkommensgruß des Todes einherging.
Zitternd rollte sie sich auf dem steinernen Boden zusammen, presste leise flehend die kleine, verdreckte Fingerpuppe, mit der sie ihn früher trotz allem immer ein Lächeln auf die Lippe hatte Zaubern können, fest an ihre Brust und wartete darauf, endlich aus dieser trostlosen Welt entfliehen zu können. Sie wusste genau, dass man ihre zaghafte, nach Gott flehende Stimme und ihr erbittertes Schluchzen vernommen haben musste, aber jeder Einzelne war so sehr mit dem Leid der eigenen Seele beschäftigt, dass kein Blick für das eines anderen mehr blieb. Sie hätte sich gerne damit gebrüstet besser gewesen zu sein: ein guter Mensch, eine liebevolle Schwester, ein Lichtschimmer in der ewigen Dunkelheit, die diese Welt gefangen hielt. Doch sie wusste, dass sie nichts von alle dem jemals gewesen war und würde es wohl, so realisierte sie beklemmend – nein inzwischen beinahe schon hoffend -, niemals mehr werden können.
Das Läuten der Kirchenglocken war lange in der Einsamkeit der Nacht verklungen, als die ersten Sonnenstrahlen den, stets zum Scheitern verdammten, Versuch wagten, der alles übermannenden Trostlosigkeit einen Hauch von Freunde zu schenken. Doch selbst das Bewundern des in der Sonne glänzenden Schnees schien in dem undurchdringbar anmutenden Grau, in das die Welt getaucht worden war, unmöglich zu sein. Zu viel Leid entblößte der hereinbrechende Tag, zu viel Schmerz, zu viele Zeichen der Allgegenwärtigkeit des Todes. – Denn wer betrachtete schon gerne ein auf dem Boden zusammengekauertes Mädchen, das mit der Leiche ihres nur wenige Jahre alten Bruders im Arm ihre letzten Stunden verbracht hatte.