Triggerwarnung: Psychische Erkrankung - Depression - Borderline (angedeutet), Selbstverletzendes verhalten (dargestellt, ohne Details)
Die Schöne und das Biest
Es ist ganz still. Die Stille der Erwartung und wie immer heiße ich dieses Gefühl, dass mich ergreift willkommen. Das Blut rauscht in meinen Adern und es reißt in mir. Ich will, dass sich der Vorhang öffnet. Will da sein, will es fließen lassen: Die Kunst, die durch mich Ausdruck gewinnt. In jeder Bewegung von Armen und Beinen. Die Menge ist mal gebannt. Mal schreit sie und ist begeistert. In diesen Momenten existiere nur ich. Die Schöne, wie ich immer sage.
Denn wenn ich hier auf der Bühne stehe, dann sehe ich mich so. Schön, vollkommen und vor allem frei. Ich bin frei von jedem Zwang, der mich niederkettet und mir zeigt wie zerbrechlich ich in Wirklichkeit bin. Niemand verurteilt mich. Im Gegenteil: Sie bewundern mich und das wichtigste ist, dass ich das auch kann.
Mich akzeptieren, das sind Wörter die zusammen nur hier in meinen Kopf kommen.
Die Musik spielt. Ich drehe und wirbel im Takt. Als wäre es nicht ich, die sich da bewegt, sondern meine pure Seele, die zum ersten Mal seit langem wieder atmen kann. Noch zehn Minuten hallt es aus einer dunklen Ecke in meinem Kopf. Noch zehn Minuten, dann bin ich wieder bei dir!
Mir wird schlecht, doch ich dränge es zurück. Will noch etwas frei sein und wenn es eben nur diese zehn Minuten sind. „Geh weg!“, schreie ich innerlich. „Geh weg und lass mich leben!“
Das Biest ist stumm, doch ich weiß es ist da und beobachtet mich. Bereit hervorzuspringen, wenn ich es am wenigsten erwarte und vor allem wenn ich es am wenigsten gebrauchen kann.
Der letzte Ton, die letzte Minute verhallt und das Publikum steht auf. Sie jubeln und klatschen mir zu. Vertreiben mit dem Lärm den sie machen das schreckliche Biest noch für ein paar Minuten. Noch wenige Minuten Luft. Doch ich weiß es wärt nicht ewig.
Sie verstummen. Ich tue es auch.
Das Licht geht aus. Der Vorhang fällt. Geschlagen drehe ich mich um. Sacke in mir zusammen, doch ich weiß es ist vorbei. Der Tanz ist vorbei, die Freiheit verwirkt – bis zum nächsten Mal.
„Aber wie oft werde ich es noch schaffen?“, frage ich mich.
Die Klinke unter meinen Fingern ist kalt. Mein Herz ist es auch und während die Schminke von mir läuft sehe ich es wieder: Das Biest.
Das Biest das in mir wohnt. Das Biest, das ich bin und dem ich nie entkomme.
Manchmal frage ich mich, wann es begann. Wann es zum ersten Mal da war und ob es überhaupt ein Leben davor gab. Existiere ich noch ohne das Biest, das in mir wohnt?
Wer bin ich ohne meine Krankheit? Brauche ich sie? Verschwinde ich ohne sie oder bin ich schon weg?
Ich nehme das Messer und fühle ich bin noch da! Das Biest schneidet tief, aber ich bin noch hier. Noch nicht geschlagen! Noch nicht tot!
Ich lasse das Messer fallen und versorge meine Wunden. „Heute hat es gewonnen“, denke ich.
„Heute war ich stärker!“, hallte es in meinem Kopf. Ja, heute.
Aber morgen! Aber morgen!
-Ende-