Anm.: Weil es gewünscht wurde: Hier die Fortsetzung zu "Eine neue Chance" ^.^
Heimatlos
Knarrend öffnete sich die Tür von Wentworth Manor und Nicholas konnte sehen, wie James jedes bisschen Farbe im Gesicht verlor. Grinsend schob er sich durch den kleinen Spalt im Eingangsbereich und hielt James die zweite Kamera hin.
„Ich kann nicht glauben, dass ich das tue“, murmelte James immer wieder in seinen nicht vorhandenen Bart. „Vor allem schon wieder. Wenn es das erste Mal wäre, okay. Aber du verwickelst mich andauernd in so seltsame Sachen. Ein Spukhaus und du hast nix besseres vor als Videos zu drehen.“ Sein bester Freund seufzte aus tiefster Seele, sodass Nicholas fast laut gelacht hätte. „Außerdem: Dir ist klar, dass das Einbruch ist? Ach was soll‘s! Bekloppter ist, dass du zu diesem zwielichtigen TV-Heini gehen willst. Und ich jetzt auch noch!“
Nicholas drehte sich in der verstaubten Eingangshalle, als wäre es sein eigenes Haus und freute sich auf die kommenden Aufnahmen. Er war sich sicher, dass sie bedeutend waren. Die Vergangenheit dieses Hauses würde eine glorreiche Zukunft für ihn einläuten.
„Ach komm, James!“, neckte er seinen Freund. „Wer war es denn, der mir immer die Ohren vollgejammert hat, wie langweilig so eine Kleinstadt ist? Das ist unsere Chance! Glaube mir!“
„Jaja!“, meckerte James. „Hab doch schon gesagt, dass ich dabei bin! Also, wo willst du anfangen?“
Suchend blickte Nicholas sich um. Er hatte schon recht viele Aufnahmen vom unteren Stockwerk und auch vom Keller. Aber die obere Etage hatte er noch nicht so oft besucht.
„Da“, sagte er schließlich und zeigte nach oben.
James folgte seinem ausgestrecktem Finger und schluckte schwer.
„Echt? Du willst da hoch? Die Treppe sieht nicht wirklich vertrauenserweckend aus, wenn du mich fragst.“
Ja, das mochte wohl so wirken. Aber die paar Male, an denen Nicholas die alten Schlafzimmer und Badezimmer besucht hatte, war alles gut gegangen. Es gab für ihn keinen Grund, warum das jetzt anders sein sollte. Daher setzte er mutig den Fuß auf die erste Stufe. Dann die Zweite, die Dritte und schließlich die Vierte. Triumphierend drehte er sich zu James um.
„Stabil! Na, habe ich dir zu viel verspr…?“
Ein spitzer Schrei entfuhr ihm, als er merkte, wie das Holz unter ihm plötzlich nachgab.
„Nicholas!“, hörte er seinen Freund noch schreien, aber der Schreck und der ganze Staub ließen ihn nichts mehr sehen oder klar wahrnehmen. Hart schlug er auf. So hart, dass er sich wunderte, dass er nicht das Bewusstsein verloren hatte.
Quälend hustete er und stand schließlich mit weichen Knien wieder auf. Nix gebrochen, alles noch dran, dachte er erleichtert.
„James!“, rief er nach oben. „Alles gut, mir ist nix passiert.“
Er wartete ein paar Sekunden, aber es kam keine Reaktion von James. Was wirklich seltsam war. Sein Freund musste sich furchtbar erschrocken haben und hätte sicher heilfroh reagiert, dass er noch mit ihm sprechen konnte. „James?“
Verwundert blickte er auf und riss erschrocken die Augen auf. Dann blinzelte er. Das konnte doch gar nicht sein! Über ihm gähnte kein klaffendes Loch. Er erkannte eine makellose Treppe und auch der Rest des Hauses erstrahlte in vollem Glanz. Die Wände waren mit sauberen Tapeten bekleidet, das Parket nagelneu, teure Teppiche und vor allem Möbel, die heil waren. Als wäre er gar nicht mehr im Jahre 2010 sondern …
Nein, er war sicher nicht durch die Treppe ins Jahr 1910 gefallen!
Laut lachte er auf, aber es erstarb als ein erschrockenes Frauengesicht vor ihm auftauchte.
„Was machst du noch hier?“, sagte sie aufgebracht und in ihren Augen standen Tränen. „Wenn mein Vater dich hier erwischt…! Er wird dich töten!“
„Was?“, machte Nicholas, der gar nicht verstand was hier eigentlich los war. Da hatte die Frau ihn schon bei den Händen gepackt und schleifte ihn hinter sich her die Treppe hoch.
„Schnell“, raunte sie ihm heißer zu. „Schnell, du musst hier raus!“
„Was soll das? Wer sind Sie?“
Nicholas versuchte sich aus ihrem Griff zu befreien, aber bei Gott oder Spongebob, die Frau hatte einen Griff wie ein Schraubstock!
„Nicholas, hör auf mit den Späßen!“, zischte sie, als sie ihn in eine Ecke gedrängt hatte. „Das ist jetzt nicht die Zeit dafür!“ Dann drückte sie ihm einen Kuss auf. „Ich liebe dich! Und um nichts in der Welt will ich mich von dir trennen lassen!“ Aus großen Augen blickte er ihr entgegen und konnte nicht glauben, dass diese seltsam gekleidete Frau, die er noch nie zuvor gesehen hatte, ihn gerade geküsst hatte. Und dann wollte sie ihn lieben? „Mein Vater kann nicht verlangen, dass ich diesen Mann heirate! Ich liebe dich! Heute Abend, in Ordnung? Heute Abend fliehen wir. Aber wenn er dich jetzt hier findet, bist du tot!“
Vollkommend perplex schaute er ihr entgegen, während sie ihn in eine Wandschrank schob und die Lamellentür verschloss.
„Wenn die Luft rein ist, geh!“, flüsterte sie durch die Tür und drehte sich um.
„Lily! Komm her!“, donnerte eine Stimme und die gegenüberliegende Tür öffnete sich. Nicholas erschrak, als er den Raum erblickte. Es war das Arbeitszimmer, mit dem Blutfleck auf dem Schreibtisch.
Was ging hier eigentlich vor sich?
Das Mädchen – Lily – warf dem Schrank einen letzten kurzen Blick zu und folgte dann dem furchterregenden Mann in das Zimmer. Dummerweise ließen sie die Tür offen und in Nicholas wuchs ein schlimmer Verdacht. Alles in ihm schrie danach den Schrank zu verlassen, jedoch regte sich kein einziger Muskel seines Körpers.
„Lily, du wirst heute noch auf das Anwesen der Winterbottoms fahren! Ich habe beschlossen, dass ihr kommendes Wochenende heiraten werdet! Es ist das Beste für unsere beiden Familien.“
Lilys Körperhaltung versteifte sich und Nicholas erkannte wie sie dich Hände zu Fäusten ballte. Er wollte ihr beistehen, aber es ging nicht.
„Nein!“, stieß Lily mutig aus. „Das werde ich nicht! Du kannst mich nicht zwingen!“
In den Augen des Mannes sprühte es vor Zorn. Aber auch Überraschung spiegelte sich in ihm wieder. Er schien es nicht gewohnt zu sein, dass man ihm widersprach.
„Du machst, was ich dir sage! Dies ist mein Haus und alles darin gehört mir!“, donnerte er. Doch Lily wich nicht vor ihm zurück, machte sogar einen Schritt auf ihn zu.
„Nein!“, schrie Lily erneut. „Ich bin lieber heimatlos, als mir von dir mein Leben vorschreiben zu lassen!“
Dann ging alles so schnell, das Nicholas nicht genau sagen konnte, was eigentlich passierte. Der unheimliche Mann schnellte vor, etwas klatschte und dann stürzte Lily gegen den Schreibtisch. Benommen sackte sie zusammen und eine große Menge Blut bedeckte plötzlich den Tisch, an der Kante wo sie aufgeschlagen war. Und Lily … Sie rührte sich nicht mehr.
Erschrocken schloss er die Augen und sein Kopf begann zu dröhnen.
„Nicholas!“, hörte er einen erschrockene Stimme. Weit entfernt, aber sie rief seinen Namen. Voller schrecken. Kein Wunder. Bei dem was gerade passiert war. Der Mann hatte sie umgebracht! „Verdammt, Nicholas! Wach auf!“
„Lily!“, murmelte er und öffnete vorsichtig die Augen. Er erinnerte sich an ihre Lippen und wie gerne hätte er sie noch einmal geküsst! Er spitzte die Lippen und hoffte ihre warmen, weichen zu finden, als plötzlich etwas klatschte und heiß auf seiner Wange brannte.
„Verdammt, Nicholas! Ich bin nicht so!“, hörte er James empört rufen und blinzelte das Gesicht seines besten Freundes über sich an.
„James?“
„Ja, verdammt! Du hast offenbar wen anderes erwartet! Tut mir leid, ich bin‘s nur. Wollte dir helfen, weil du durch ne Treppe gestürzt bist. Na, aber dir scheint es ja gut zu gehen!“
Vorsicht setzte Nicholas sich auf und sah sich verwundert um. Hier war absolut nichts schick, heile oder nicht staubig. Das war eindeutig 2010. Er musste durch den Sturz wohl kurz bewusstlos gewesen sein und sein Kopf hatte sich Lady Lilys Geschichte zusammengesponnen. Blinzelt blickte er zu dem Loch hoch, durch das er gestürzt war. Er hatte verdammtes Glück gehabt und es war ein Wunder, dass ihm nichts passiert war. Ein Wunder oder er hatte etwas Hilfe.
„Danke, Lady Lily“, flüsterte er.
Verwirrt blickte James ihn an, während er ihm aufhalf.
„Hast du dir eigentlich den Kopf angeschlagen oder warum soll Lady Lily dir geholfen haben?“