Seelensplitter
Die Bilder vor ihm, schauten ihm entgegen, als würden sie ihn anklagen. Ihn stumm beschuldigen, dass er an ihrem Schicksal schuld war. Ein heftiges Zittern lief durch seinen Körper, als er sie betrachtete und nicht nur das sah, was sie waren.
Der kleine, dunkle Raum, in dem er sich befand, war vollgestopft mit lebensgroßen Bildern. Die Abbildnisse der Menschen darin, schauten ihn mit entsetzten Blicken entgegen. Die Augen weit aufgerissen und die Münder geöffnet, wie von erstickten Schreien.
Er wollte sich abwenden, doch sie waren überall und er entkam ihnen einfach nicht. Und er brachte es auch nicht fertig einfach die Augen zu schließen. Sie waren seine Freunde! Und er war für sie verantwortlich gewesen. Immerhin war das Ganze hier seine Idee gewesen.
Er hatte sie überzeugt hierherzukommen, obwohl jeder sie vor diesem Ort gewarnt hatte!
Die Seelen würden den Menschen entzogen, die es dennoch wagten dieses längst verlassene Dorf zu betreten.
Er hatte sie einfach ausgelacht und stolz über seine Ach so geliebte Wissenschaft geprahlt. Dumm seine die Dörfler, die nichts mehr fürchteten, als das Nachbardorf.
Oh nein, er war dumm gewesen!
Er hätte auf sie hören sollen und diesen Ort in der ewigen Ruhe lassen sollen. Aber woher hätte er wissen sollen, dass es alles gar kein Märchen war? Dass die Seele zu verlieren, nicht gleichzusetzen mit sterben war?
Die Hände zu Fäusten geballt, trat er auf das Bild zu, dass eins sein bester Freund gewesen war. Der sonst so lebensfrohe Mensch war nichts mehr, als ein zweidimensionales Gemälde aus Leinwand und Öl.
Mit heißen Tränen in den Augen, die ihn blendete, stützte er sich an dem Rahmen ab und beugte sich nach vorne. Überrollt von seinen Gefühlen, brachen schließlich seine Knie zusammen und er begann zu schluchzen. Teils aus Angst, weil ihm wohl das Gleiche bevorstehen würde, aber mehr aus tiefer Trauer um seine Freunde. Irgendwann erstarb sein Weinen und eine eisige Leere erfüllte ihn.
Er hielt die Luft an und horchte in sich. Begann es jetzt auch bei ihm?
Es vergingen weitere Minuten, in denen er einfach nur auf seine Hände hinabstarrte. Doch diese waren nach wie vor aus Fleisch und Blut. Nein, er war noch er selbst. Und er war zwar der letzte aus seiner Gruppe, dennoch wollte er sich jetzt nicht geschlagen geben.
Er durfte nicht aufgeben! Es musste einfach noch einen Weg geben, dass alles hier zu überstehen. Nicht nur für ihn, sondern auch für seine Freunde.
Entschlossen hob er den Kopf, blickte stur nach vorne und stutzte. Verwundert robbte er noch ein Stückchen nach vorne, sodass seine Nase fast das Bild berührt und betrachtete die Ecke. Es fehlte ein Stück der Leinwand! Es war winzig und man konnte es leicht übersehen. Aber es war eindeutig ein Splitter herausgebrochen!
Schnell sprang er auf und rannte zu den anderen. Auch bei ihnen fehlten an verschiedenen Stellen ein Teil der Leinwand. Das konnte kein Zufall sein, oder?
Bei einem Bild – okay. Aber alle.
Sicher war das die Lösung, schrie es durch seinen Kopf. Wie angestochen rannte er durch den Raum und suchte. Er wusste nicht genau, was er suchte, noch ob es etwas zu finden gab. Aber er fühlte neue Hoffnung. Vielleicht müsste er die fehlenden Splitter suchen und konnte so die Seelen seiner Freunde wieder zusammensetzen.
Der Gedanke war rein intuitiv und hatte sicher nichts mit Wissenschaft zu tun, aber sein Herz wollte glauben, dass es so war. Den Gedanken, dass es diese Splitter vielleicht gar nicht gab, schob er sofort beiseite.
Zuerst schob er jedes der Bilder ein Stück von ihrem Platz weg, um dahinter zu schauen. Aber das man die Splitter direkt dahinter versteckte, wäre auch zu einfach gewesen. Dann machte er sich an die halb vermoderten Regale und Schubladenschränke. Riss jeden davon gnadenlos auf, auch wenn sie davon erst recht zerfielen. Als er schon fast glaubte, nur einem Gespenst hinterhergejagt zu haben, fischte er aus der hintersten Ecke eines Regals eine verbeulte Blechdose.
Seine Finger bebten, als er den Verschluss zurückschnappen ließ und sie öffnete. Laut lachend und jubelnd betrachtete er den Inhalt. Viele kleine Stofffetzen, erstarrt zu harten Splittern, lagen darin. Der Ölgeruch, der ihm entgegenschlug, benebelte ihm dabei fast die Sinne.
Er hatte sie gefunden: die fehlenden Teile seiner Freunde!
Hastig lief er zu den Bildern zurück und breitete die Splitter vor sich auf dem Boden aus. Sie waren allesamt bunt und man erkannte nicht, was sie darstellen sollten. Dieses Bild würde sich erst mit ihren großen Gegenstücken vervollständigen.
Er seufzte, aber wie sollte er rausfinden welches wohin gehörte? Es waren so viele und er war noch nie gut gewesen im Puzzeln. Aber er musste es versuchen!
Entschlossen nahm er sich das erste in die Hand und prägte sich die Form und die Farben ein. Dann lief er beinahe kopflos durch den Raum. Hielt es hier und da an, bis er schließlich seinen Besitzer fand.
Als er den Splitter auf die Lücke legte, fügte dieser sich sofort wie von Geisterhand ein und das Abbild vor ihm wurde unscharf. Verschwand schließlich ganz.
„Was … was ist passiert?“, murmelte Janice, die gerade frisch einem Ölgemälde entstiegen war und nur den Rahmen zurückgelassen hatte. Sie schnüffelte auffällig an sich und zog die Stirn kraus. „Öl?“
„Du warst ein Bild, Janice!“, flüsterte er so rau, dass es ihr eisig den Rücken hinablief.
Nachdem er ihr auf die Füße geholfen hatte, ging ihr Blick unstet durch den Raum. „Oh mein Gott“, hauchte sie. „Das sind ja Harald, James, Leon und Sarah! Sie … sie sind alle …“
„Ölgemälde – ja“, bestätigte er. „Aber wir können sie alle retten und dann verschwinden wir von hier! Wir alle!“
Tränen strömten ihr über das Gesicht und perlten auf grotesker Weise ab, da ihre Haut komplett von einer dünnen Ölschicht bedeckt wurde.
„Wie?“
„Kannst du puzzeln?“, fragte er sie und zum ersten Mal seit Stunden stahl sich ein Grinsen auf sein Gesicht. Entsetzt blickte sie auf die Teile vor sich. Sie brauchten noch vier und da lagen viel mehr als das.
„Mein Gott! Waren das alle …“ Sie brachte es nicht fertig, den Satz zu beenden und es war auch fraglich, was mit alle diesen Bildern passiert war. Dann hastete sie nach vor und nahm sie zwei heraus.
„Das ist Leon!“, rief sie aufgeregt und rannte zum Abbild seines besten Freundes. Es passte und auch er stand wenige Sekunden später verwirrt, aber am Leben vor ihnen. Zusammen schafften sie es auch James, Sarah und schließlich Harald zu befreien.
Nachdem sich die Gruppe wieder gefunden hatte, fielen sie sich überschwänglich in die Arme.
„Es ist noch nicht vorbei“, sagte schließlich Leon und brachte sie damit alle in die Wirklichkeit zurück. Sie hatten es noch nicht überstanden. Sie mussten es erst aus diesem Haus herausschaffen und dann das Dorf verlassen. Wer wusste schon, was sonst noch alles hier auf sie lauerte?
Entschlossen durchquerten sie den kleinen Raum und fanden eine Tür am anderen Ende. Sie klemmte, doch als Harald sich gegen sie warf, zerfiel sie in 1000 Teile. Er stolperte in den großen Saal dahinter und nicht nur er erstarrte augenblicklich vor Entsetzen.
Nicht etwa, weil das dahinter mehr einer Halle glich. Nein, der Raum war voll. Vollgestopft mit Ölgemälden, die einer Parade des Grauen gleichkamen und nichts Anderes waren als gefangene Seelen. Die restlichen Seelensplitter in der Metalldose, erinnerte er sich. Aber die waren gar nicht genug: Um all diese Menschen zu befreien brauchten sie hunderte Seelensplitter!