Anm.: Zu diesem Prompt hat sich mir spontan ein kleines Bonuskapitel zu meiner Story "Andara-House" angeboten. So etwas in der Art wollte ich dazu schon lange schreiben. Viel Spaß damit.
Besuch aus der Vergangenheit
Er wurde alt. So gerne Shankar Divari noch so gerne den starken Mann herausspielte, er konnte nicht verhindern, dass die Natur seinen Lauf nahm. Immer öfter bemerkte er, wie ihm seine Gelenke schmerzten. Gerade so an einem Tag wie heute, wenn der Monsun das Land mit aller Macht zu ertränken versuchte.
Stur ignorierte er es, aber er kam dennoch nicht umhin, dass er Hilfe benötigte. Doch so viel wie er konnte, wollte er allein tun, auch wenn dies Sanjay immer wieder auf die Palme trieb. Sein guter Sanjay war der letzte von vielen Bediensteten, der ihm geblieben war und es würde auch niemand neues kommen. Er war der letzte, der von den Geheimnissen, die Divari stets zu hüten wusste, Kenntnis hatte. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft gewesen, die ihrem Herrn treu war, bis zum Schluss. Und nun waren alle fort – bis auf Sanjay und ihn.
Und Divari war nicht stolz auf sich. Er war alt und blickte auf ein Lebenswerk zurück, dass er bis aufs Letzte verpfuscht hatte. Seine Bemühungen seinem Herrn Schutz zu geben und ihm ein normales Leben zu ermöglichen, so wie es sein Vater gewollt hatte, waren fehlgeschlagen.
Dabei war er sich sicher gewesen, alles Mögliche getan zu haben.
Aber es änderte nichts daran, dass auch er fort war. Mike war fort und Divaris Herz brach erneut, wenn er an den Tag zurückdachte, an dem er das Telegramm erhalten hatte. Oder genaugenommen die zwei Telegramme. Wobei er dem von seinem Untergebenen mehr Gewicht gegeben hatte. Und es ihm mehr Hoffnung.
Denn das Erste kam von seiner Schule und besagte Mike sei bei einem tragischen Unfall ertrunken. Seine Hände bebten erneut, als er sich diesen Moment ins Gedächtnis zurückrief. Und nur ungern erinnerte er sich an die folgenden Stunden, in denen er auf eine Antwort von seinem Untergebenen in London wartete. Was wenn der Mikes Tod bestätigte?
Wie solle er weiterleben, wenn er seinen Auftrag nicht erfüllt und seinen Ziehsohn verloren hatte. Er beschloss, dass es dann für ihn vorbei wäre. Sein Leben war vorbei, wenn Mikes endete. So einfach war das.
Aber die Antwort kam schon bald – zwar nicht von dem, von dem er sie erwartete, aber sie kam. Sie ließ ihn aufatmen und entsetzte ihn zugleich. War die Zukunft nun absolut ungewiss. Und nicht nur seine oder Mikes Zukunft. Eher die, der ganzen Menschheit. Nun hin alles von einer Person ab und auch wenn Divari ihm vertraute, hatte er Angst.
Wieder wartete er. Erst Wochen, dann Monate und schließlich Jahre. Er hörte nie wieder von ihm und auch nicht von Mike. Doch alles in ihm weigerte sich, zu glauben, dass die beiden tot waren. Nein, er spürte, dass sie lebten und er würde da sein. Er würde hierbleiben, in der Hoffnung, dass sie ihren Weg zu ihm fanden.
Und selbst wenn nicht, hoffte er, dass es ihnen gut ginge. Außerdem flüsterte eine leise Stimme in ihm, die bangte, dass Mike ihm verzeihen würde. All die Lügen …
Divari bereute sie nicht, dennoch schmerzten sie ihn. Aber er musste verschweigen, Lügen, Tatsachen verdrehen. Es war alles zu seinem Schutz gewesen.
„Sanjay!“, rief er, als ihm klar wurde, was er wollte. Schnelle Schritte näherten sich seinem Zimmer und die Tür wurde leise geöffnet.
„Was kann ich für Euch tun?“, fragte Sanjay förmlich, sodass ein schiefes Lächeln auf Divaris Gesicht erschien.
„Erst solltest du aufhören mich zu betrachten, als sei ich ein König. Du weißt, dass wir auf gleicher Stufe stehen. Daher benenne mich mit meinem Namen.“ Divari wusste, dass es durchaus Dinge gab, die sie trennten. Der Stand in der Gesellschaft bei ihrer Geburt, aber das gemeinsame Geheimnis verband sie auf eine besondere Weise. Außerdem, er spürte, dass seine Zeit bald vorbei war. Und waren sie vor dem Tod nicht alle gleich?
Sanjay nickte unterwürfig und rang sich sichtlich unwohl das ‚du‘ ab.
„Ich möchte auf die Terrasse, Sanjay“, erklärte er und schaute aus dem Fenster, wo es in Strömen regnete. Sanjay war seinem Blick gefolgt und zog die Stirn in Falten.
„Aber der Regen!“, begehrte er auf.
„Unter dem Dach der Terrasse ist es trocken“, widersprach Divari nachdrücklich und sein Blick ging wieder sehnsüchtig in den Regen hinaus. „Bitte erfülle einem alten Mann seinen Wunsch.“
Er wäre ja allein gegangen, ohne Hilfe, aber in letzter Zeit wollten seine Beine nicht mehr so gut und er war auf einen Rollstuhl angewiesen. Kleine Strecken im Zimmer lief er oft so und wenn Sanjay es nicht mitbekam, nur bis zur Terrasse würde er nicht schaffen.
„Aber natürlich“, sagte Sanjay, holte den filigranen Rollstuhl und ließ Divari hineingleiten. Als Sanjay die Tür nach draußen öffnete, schlug ihnen kühlere und wohlschmeckende Luft entgegen. Der Monsun milderte die Hitze der letzten Monate und man konnte fühlen, wie das Leben von Neuem erwachte. Vielleicht war das der Grund, warum er jetzt so gerne hier sein wollte.
Nachdem Sanjay den Stuhl gebremst und ihm noch eine dünne Decke über die Beine gelegt hatte, bedankte er sich. „Du kannst jetzt gehen“, wies er ihn mit einem Lächeln an. Aber bevor Sanjay sich umdrehte, hielt Divari ihn noch zurück. „Und danke für alles.“
Dann wurde es still und alles was er hörte, war das stetige Rauschen des Regens. Es war ein wunderschönes Geräusch wie er fand und er beschloss, dem Regen das anzuvertrauen, was sich in seinem Kopf herumtrieb.
„Es tut mir leid“, sagte er und hoffte, dass es da wo Mike gerade war, auch regnete und er es hören würde. „Vielleicht hätte ich dich retten können, wenn ich dir die Wahrheit gesagt hätte. Aber ich habe es nur gut gemeint. Dein Vater wollte immer, dass du ein normales Leben führen kannst. Und mit dem Wissen, vor dem ich dich schützen wollte, hättest du das nie gekonnt.“ Er stockte und kurz hoffte er auf eine Antwort. Aber natürlich war das Quatsch. „Manchmal denke ich, dass das ein Fehler war. Vielleicht hätte ich mich über seine Befehle hinwegsetzen sollen und es dir sagen? Aber hätte das wirklich etwas geändert? Vielleicht – ich weiß es nicht. Ich hoffe nur du lebst und dass es dir gut geht.“
Müde schloss er die Augen und hinter seiner Stirn formierte sich ein neuer, letzter Wunsch. „Wie gerne würde ich dich noch einmal sehen“, murmelte er. „Deine Stimme hören und wissen, dass alles gut ist.“
Ein Knacken im Unterholz ließ ihn überrascht Aufsehen und er spürte, dass etwas auf ihn zukam. Er wusste nicht was es war, aber verspürte dennoch keinerlei Angst. Aus dem Grau, in dem der Regen die Umgebung verwandelte, formierte sich langsam eine Gestalt. Sie kam immer näher und je mehr sie sich Divari näherte, umso plastischer wurde sie. Überrascht zog Divari die Luft ein, als er ihn erkannte.
„Mike“, flüsterte er mit zitternder Stimme. Die Person, die auf ihn zukam, war wirklich sein Ziehsohn. Er sah aus wie damals. Er trug sogar noch die Schuluniform. „Ein Geist?“, fragte Divari sich unweigerlich. Aber die Berührung an seinem Arm fühlte sich echt an. Als er bei ihm ankam erkannte er auch seinen Fehler. Mike sah deutlich älter aus – so alt, wie er jetzt sein sollte und die Uniform war nicht die einer Schule. Divari kannte die Uniform. Es war die von …
„Du bist hier!“, flüsterte er aufgeregt. „Du bist wirklich hier. Es tut mir alles so leid!“
Aber Mike wirkte nicht wütend – im Gegenteil.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte er. „Ich bin genau da, wo ich sein soll und es geht mir gut. Du kannst jetzt aufhören dich zu sorgen. Du hast alles getan und du hast es gutgetan. Ich bin dir dankbar.“ Die Umarmung, die Divari fühlte, war warm und sanft. Und sie sagte ihm, dass er jetzt loslassen konnte. Seine Aufgabe hier war erfüllt.
Als der Regen weiter vom Himmel prasselte trat ein leichtes Lächeln auf seine Lippen und die Augen waren entspannt geschlossen. „Wir sehen uns bald wieder!“, hörte er die Stimme, die sein letzter Wunsch gewesen war.
Ende.