Auf der dünnen Strohmatte drehte sich Kanja auf die Seite, um Miro anzusehen. Sie liebte es, in seine friedlichen Augen zu blicken, die anders als bei ihren Artgenossen in ihrem rubinrot weder stechend noch herausfordernd waren, sondern treu und einfühlsam. Alles was Miro ihr sagen wollte, konnte er allein mit diesen Augen sagen. Früher einmal hatte sie davon geträumt, dass ihr Bruder wieder mit ihr sprechen würde, einfach den Mund aufmachte und sie mit nur einem einzigen Wort verblüffte. Aber dieser Wunsch lag bereits so weit in der Vergangenheit, dass sich Kanja nicht mal mehr erinnern konnte, wann sie das letzte Mal daran gedacht hatte. Wenn sie es sich genau überlegte, hatte sie früher einige unsinnige Träume gehabt. Dass sie ein hübsches Kleid wie die Menschenfrauen tragen oder mit Miro zusammen die sprudelnden Flüsse von Tausendwasser bereisen könnte.
„Wir sollten keine Träume haben“, hörte sie die belehrenden Worte ihrer Mutter in Gedanken. „Sie lenken uns vom Wesentlichen ab und versprechen etwas, dass sie niemals einhalten können.“
Wie recht sie doch hatte. Keiner von Kanjas Träumen hatte sich bisher erfüllt, selbst die bescheidensten unter ihnen waren nicht in der Lage gewesen, sich zu entfalten und ihr ein klein wenig Glück zu schenken. Womöglich war es Dämonen nicht vorgesehen, auf ein besseres Leben zu hoffen. Und doch konnte Kanja nicht aufhören, sich ein kleines bisschen Frieden für sich und Miro zu wünschen. All ihre bisherigen Anstrengungen wären sonst undenkbar gewesen.
Sie erinnerte sich an die Worte der weisen Zazar:
„Träume schwimmen mit der Zeit, mein Liebes. Heute noch klammerst du dich an einen fest, doch am nächsten Tag schon wird ein Anderer auftauchen. Wichtig ist, welche Bedeutung wir ihnen beimessen.“
Aber welche Bedeutung konnten Kanjas Träume schon haben? Wie wichtig war die Flucht aus dieser Stadt und die Freiheit, die sie dadurch erlangen könnten? Welche Opfer müsste Miro und sie bringen, nur weil Kanja nicht in der Lage war, ihren Wunsch nach einem friedlichen Leben zu begraben?
Sie seufzte leise und zwischen Miros Augenbrauen entstand eine kleine Falte.
„Von was träumst du?“, flüsterte sie ihrem Bruder zu.
Er dachte einen Moment nach, dann griff er nach dem ausgefransten Büchlein unter seinem Kissen und zeigte darauf. Es waren die Geschichten über die Feen der Sonnenlande. Ihre Wanderungen vom frostigen Norden bis tief in den sumpfigen Westen des Landes hatte Kanja ihm dutzende Male vorlesen müssen. Dabei flimmerte immer ein Glanz in seinen Augen auf, den sie auch jetzt im Halbdunkeln erkennen konnte. Sie lächelte und legte ihre Hand auf den Buchumschlag.
„Wir werden das schaffen“, wisperte sie. „Wir werden entkommen und den Feen beim Tanzen zusehen. Das verspreche ich dir.“