Bei Chris und mir war bereits alles im vollen Gange. Aus meinem WG-Zimmer dröhnte die schrecklichste Halloweenmusik, die ich im Internet ausgraben konnte, während wir zwischen Bier und diversen Shots unsere Kostüme vorbereiteten. Wir waren voller Tatendrang und beinahe kindischer Vorfreude auf den Abend, der vor uns lag. Denn der gute alte Sam hatte uns zu einer seiner berüchtigten Halloweenpartys eingeladen. Was uns sehr gelegen kam, schließlich waren wir bereits zu alt für den Süßigkeitenmarathon in der Nachbarschaft und Sam hatte, was die Location anging, deutlich mehr zu bieten als eine abgewrackte Studentenwohnung. Wir wären auch schon die letzten Jahre zu seinen Partys gekommen, aber der gute Sam war durch seine Kifferei manchmal etwas verpeilt und hatte schlicht vergessen uns Bescheid zu geben. Der Nachruf der Abende aber – von wildem Rumgefummel über widerliche Kotzattacken bis hin zu hemmungslosen Ausschreitungen - waren noch Wochen danach auf dem Campus allgegenwärtig. Alle, die mitgefeiert hatten, konnten sich glücklich schätzen, bei solch einem epischen Ereignis dabei gewesen zu sein. Und die, die es nicht waren, bewunderten die Anwesenden aus vollem Neid.
„Gib mal das Blut rüber“, lallte Chris über die lautstarke Musik hinweg.
Kurz darauf stand er in der Badezimmertür, während ich versuchte, mir eine der verfluchten weißen Linsen ins Auge zu drücken. Chris hatte sich das Stachelkopfkostüm aus dem Film Hellraiser übergezogen und guckte mich in seiner schwarzen Lederkluft auffordernd an. Mit dem Kunstblut, dass aus meinen aufgeklebten und geschickt geschminkten Zombiewunden quoll, war ich mehr als zufrieden. Den Rest davon warf ich Chris für seine Fertigstellung zu, damit ich die zweite Kontaktlinsen in meine Augen pressen konnte, bevor ich vom Schnaps komplett benebelt war. Nach gefühlt unendlicher Zeit machten wir uns in unserer schaurigen Maskerade endlich davon. Wir grölten uns die fürchterlichsten Lieder aus dem Leib, während wir mehr torkeln als laufend den Weg zu Sams Haus nahmen. Chris mit der Wodkaflasche, ich mit einem übergroßen Schlachtermesser in der Hand.
Als wir uns dem Haus näherten, empfing uns dieses bereits hell erleuchtet. Den brodelnden Hexenkessel aus Plastik und die rot und grün leuchtenden Geisterfiguren auf dem Rasen fanden wir beide zwar ziemlich kitschig, aber drinnen würde uns sicher der pure Horror und eine menge Spaß erwarten. Ich schritt zur Eingangstür, als Chris mich kichernd zurückzog. Er war schon deutlich betrunkener als ich.
„Wie wärs...“, fing er an, brach jedoch prustend ab bis er sich wieder gefangen hatte. „Wie wärs, wenn wir denen da drin einen Schrecken verpassen?“
Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, grinste aber ebenso breit wie er. Mit einem Zeigefinger auf den Lippen führte er mich um das Haus herum. Wir kämpften uns durch die Büsche, bis wir auf der Hinterseite des Hauses im Schatten des dort liegenden Garten ein gutes Versteck fanden. Die Terrassentür war weit geöffnet und ebnete uns so unseren Plan. Einige lachende Stimmen waren zu hören, die aus dem hellbeleuchteten Wohnbereich nach draußen drangen.
„Und jetzt?“, fragte ich aufgeregt.
Chris zeigte auf eine Steckdose an der Hauswand.
„Wir stecken den Laubbläser an. Die Stromleitungen vom Haus sind uralt, und wenn man zu viel Zeug ansteckt, fliegt die Sicherung raus. Das hab ich schon miterlebt. Und hier ist heut ganz schön viel angesteckt.“
Ich dachte an die buntleuchtende Halloweendekoration im vorderen Teil des Hauses und nickte eifrig. Chris nahm den Stecker vom Laubbläser und steckte ihn ein. Der Plan ging auf: Sofort waren alle Lichter im Haus erloschen. Einige schrien kurz in einem schrillen Ton, sodass ich mir ein lautes Lachen verkneifen musste. Was für Weicheier.
Chris und ich schlichen zur offenen Glastür und machten uns für unseren Auftritt bereit. Jeden Moment musste jemand die Sicherung wieder eindrehen. Ein kurzes Flackern und schon stürmten wir mit einem ohrenbetäubenden Geschrei und mit gezückten Messern und Flaschen ins Haus.
Doch sofort trat wieder Stille ein, als wir erkannten, dass uns fremde Menschen und kleine Kinder aus großen Augen anstarrten. Ein paar der Prinzessinnen und der Pikachus klammerten sich sogar weinend an ihre Eltern.
Der gute alte Sam hatte wohl verpasst uns zu erzählen, dass er bereits seit einem halben Jahr umgezogen war.