Meggis Beine baumelten aufgeregt hin und her, während sie auf der Mauer saß.
„Ich war quasi schon überall“, erzählte sie munter. „In Berlin und München und Hamburg. Zuletzt waren wir in Évreux. Das ist in Frankreich. Weißt du, was man in Frankreich macht, wenn man einen Laden betritt?“
Melvin hörte angestrengt zu, machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu, weil sie seine Antwort nicht abwartete.
„Man ruft ganz laut Bonjour“, plapperte sie weiter. „Das macht hier irgendwie keiner. Ich weiß gar nicht, warum, dabei ist das doch schön. So weiß jeder sofort, dass man da ist.“
Langsam ahnte er, warum niemand aus der Schule sie mochte. Sie redete zu viel. Aber vielleicht mochte man ihn nicht besonders, weil er zu wenig redete. Ganz genau wusste er es nicht.
„Magst du mir die Haare schneiden?“, platzte es plötzlich aus ihm heraus.
Ihr Redefluss verstummte und sie beugte sich interessiert zu ihm herunter, als hätte sie ihn nicht recht verstanden. Augenblicklich schämte er sich für die Frage. Die wohlbekannte Röte, die immer dann kam, wenn er mit einem Mädchen sprach, schoss in seine Wangen.
„Ja also... Weil ich ja nicht zum Friseur kann und so“, stotterte er.
Nachdenklich stutzte sie die Lippen.
„Ja, das ist schon verzwickt. Die würden sich ganz schon wundern, wenn da jemand auftaucht, der kein Spiegelbild hat. Was das wohl für ein Chaos auslöst.“
Er spürte, wie sich die Hitze in seinem Gesicht weiter ausbreitete und ein Klos in seinem Hals entstand. Womöglich lag es weniger an der merkwürdigen Bitte, die er einem Mädchen vortrug, das er kaum kannte, sondern eher an der niederschmetternden Tatsache, niemals wieder einen Raum mit vielen Spiegeln betreten zu können. Somit wäre er ständig auf jemanden angewiesen. Einem, der ihm die Haare machte und ihm sagen würde, wenn er etwas im Gesicht hätte. Und wie wäre es erst in einigen Jahren, wenn er sich das erste Mal rasieren müsste? Bis vor kurzem hatte er sich auf diese Zeit gefreut. Aber nun trieb es ihm Tränen in die Augen.
Meggi rutschte von der Mauer und legte ihre Hand auf seine Schulter. Jetzt konnte er es nicht länger zurückhalten. Tränen kullerten ihm über die fleckigen Wangen. Schnell wischte er sie mit dem Handrücken fort und zog die Nase hoch.
„Na komm“, sagte sie in tröstendem Ton, wie zu einem Vogelbaby, das aus dem Nest gefallen war. „Zuhause habe ich eine Schere. Das kriegen wir schon hin.“
Er nickte, schniefte ein weiteres Mal und folgte ihr über die Parkwiese. Egal, für wie merkwürdig die anderen Meggi hielten, Melvin war dankbar darum, sie kennengelernt zu haben. Sie war nicht nur irgendwer, der sein Geheimnis kannte, sondern auch die größte Hoffnung bei der Suche nach seinem verlorenen Spiegelbild. Und wenn das kein Band des Vertrauens zwischen ihnen knüpfte, was sonst?