Das Mädchen war tot. Morgenlicht kam den Glockenkindern zuvor, die die Seele der Verstorbenen mit lieblichen Klängen in die Anderswelt führen wollten. Sie verscheuchte ihre Handlanger vom Leichnam mit einer einfachen Handbewegung. Verschreckt zogen sich die Glockenkinder zurück, niemals würden sie sich ihrer Schöpferin widersetzen. Denn dieses eine Mal war es wichtig, den Auftrag selbst zu erledigen.
Jene Seele war Morgenlicht schon von Beginn an aufgefallen, trug sie doch etwas wichtiges, etwas unumstößliches mit sich. Der Fluch, der das Mädchen von Geburt an begleitete, hatte sich entfaltet und war über sie hereingebrochen, wie von ihm vorgesehen. Aber lediglich ein Teil davon wohnte ihr inne. Der andere lag noch immer schwer in der Seele des Jungen, der in aller Hoffnungslosigkeit vor dem Tod seiner Geliebten davongerannt war. Er war der Schlüssel, der den Fluch in all seiner Monstrosität aufleben lassen konnte. Allein aus diesem Grund musste er überleben, musste seiner Bestimmung folgen. Zu gegebener Zeit dann würde er den Plan von Morgenlicht zu Ende führen.
Sie beugte sich hinab zum Körper des Mädchens. Die Kreaturen hatten sie schlimm zugerichtet, der Anblick des Leichnams zeugte von ihrem Leid der letzten Stunden. Mit ihrer Porzellanhand fuhr Morgenlicht über die Stirn der Toten, aus der sich sofort die Seele in rauchigem Weiß löste. Sie war soweit, es bedurfte keiner Überredungskunst, keiner Aufklärung. In die Anderswelt würde sie ihr folgen, damit ihre Seele aufgesplittert werden konnte. Und unbemerkt würde Morgenlicht den Fluch, gefangen in einem der Seelensplitter, an sich nehmen.
„Seit wann bist du wieder in der Welt der Schöpfung unterwegs?“, meldete sich eine männliche Stimme hinter ihr.
Sie lächelte in sich hinein.
„Der Wichtigkeit halber, Bruder.“
Skeptisch betrachtete er die Seele in ihrer Hand. Bis das flüssige Gold in seinen Augen gefror.
„Der Fluch. Ist es das, wonach du gesucht hast?“
In einer liebevollen Geste, wie über Wolken, strich sie über die Seele.
„Er ist das Schloss“, murmelte sie wie hypnotisiert.
„Dann hältst du an deinem Plan fest? Was ist mit Arion?“
Ihr zartes Gesicht verzog sich im Zorn. Ihr Bruder war schon immer der ängstlichere von ihnen. Doch sich einer anderen Gottheit als ihrer zu unterwerfen, widerte sie an.
„Vergiss nicht, wer dich erschaffen hat, Abendrot“, zischte sie.
Er senkte den Kopf.
„Wie könnte ich. Die Aufgabe, die uns Mutter hinterließ, knechtet uns seit jeher.“
Ihre Gesichtszüge wurden wieder sanfter. Zärtlich strich sie ihrem Bruder über das Haar.
„Aber das wird bald ein Ende nehmen. Mit diesem Fluch werden wir Mutter wieder aufleben lassen. Und alle werden sich ihrer Macht, der Macht Asaris, der Todesgöttin, unterwerfen“, sprach sie und beugte sich für den letzten Satz dicht an sein Ohr: „Und wir werden endlich frei sein.“
Seine Goldaugen blickten zu ihr auf, erwartungsvoll, doch auch furchtsam, denn der Zorn der anderen Götter hatte ihn gelehrt zu fürchten.
„Und wie möchtest du den Seelensplitter einsetzen? Asaris Macht ist schließlich in einem schwachen Menschen gefangen.“
Wieder umspielte ein geheimnisvolles Lächeln Morgenlichts Mund.
„Die derzeitige Trägerin hat sich vermählt“, hauchte sie. „In einigen Monaten wird sie eine Tochter gebären, die Asaris Macht erben wird. Und dieser werden wir den Splitter einsetzen. Der Fluch wird sich zur gegebenen Zeit entfalten, wenn der Junge in ihr Leben tritt, und die Göttin in ihr wird die Geschichte weiter lenken.“