Sharall sah fasziniert auf die Drachenschuppe in ihrer Hand.
Vergilbt, wie ein altes Blatt Papier und durchzogen von vielen Wörtern, die zusammenhängende Sätze ergaben - und doch irgendwie unvollständig wirkten. Dennoch, dass sie von einem Drachen stammte, konnte man ihr eindeutig anerkennen. Für alle anderen beschuppten Tiere, war sie viel zu groß. Außerdem besaßen nur Drachenschuppen diese charakteristische Wölbung in der Mitte und drei Zacken an der Seite.
Es gab keinen Zweifel an diesem Fund und das stimmte Sharall alles andere als glücklich. Eigentlich hätte sie nicht existieren dürfen. Diese Wesen waren seit Jahrhunderten ausgestorben!
"Das ist unser erster großer Hinweis. Und du...", es ruckelte auf ihrem Rücken und dann klimperte etwas aufgebracht, "Du siehst immer noch so aus, als kämst du aus dem Wald!"
Das Thema schon wieder. Sharall seufzte leise.
War es das wert darauf zu antworten?
Doch noch ehe sie wirklich darüber nachdenken konnte, setzte er nach:
"Was sollen die Leute denken?"
"Ist das dein einziges Problem?", fragte sie und sah über ihre linke Schulter zurück, bis sie in die beiden Wackelaugen des Stabes sehen konnte. Für einen Augenblick lag ein Glitzern in den aufgemalten Pupillen, dass sie nur als fassungslos bezeichnen konnte. Dann war es wieder verschwunden und die Augen nichts weiter als dunkle Kleckse auf dem Holz. Dafür schoss der Stab in ihrem Geiste weiter:
"Natürlich! Das hier wird unsere Geschichte! Unser Epos, das noch in Jahrhunderten an Lagerfeuern erzählt werden wird! Und du... Du!" Er zuckte wild auf ihrem Rücken umher.
"Und ich sehe aus, als käme ich aus dem Wald", beendete sie seinen Satz.
"Genau!"
Sharall verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. "Ich komme aus dem Wald. Das ist die Kleidung meines Volkes."
Sie versuchte es ruhig, aber dieses Argument hatte er bisher noch nie verstehen können. Und im Grunde wusste Sharall auch, womit er kontern würde - und der Stab wusste, was sie darauf erwidern würde. Aber das hatte sie beide noch nie davon abgehalten, dieses Gespräch immer und immer wieder zu führen.
"Die dich aus dem Flussreich verbannt haben. Warum also trägst du noch ihre Kleidung? Du gehörst nicht mehr zu ihnen."
Sie hatte es geahnt. Trotzdem glitt ein Grinsen über ihre Lippen. Denn ganz gleich, wie laut der Stab auch in ihren Gedanken krakeelt hatte, dieses eine Argument hatte ihn immer verstummen lassen:
"Ich brauch dich nur zurückverwandeln, und alles ist wieder beim Alten."
Ob das wirklich so war, wusste sie nicht. Es war eine bloße Vermutung, die auf der obersten Regel ihres Volkes basierte - wandle stets zurück, was du gewandelt hast - und die sie in dem Moment gebrochen hatte, als sie sich weigerte, dem beseelten Stab in seine Ursprungsform zurückzugeben.
Sharall legte den Kopf schief und deutete nach links.
"Mh", machte sie, "Was hältst du von dem Fleck. Nicht zu sonnig, sieht aus, als ob genug Wasser da ist und vielleicht hast du ja Glück und einer der anderen Bäume hier ist auch beseelt!"
Der Stab blieb still. Wahrscheinlich schmollte er leise vor sich hin.
Sollte er doch! Dann hätte sie immerhin genug Ruhe, diese Schuppe weiter zu untersuchen.
Manchmal konnte Sharall einfach nicht verstehen, warum dieser Stab so versessen darauf war, dass sie ordentlich gekleidet war. Sie trug ein Band, das ihre Brüste bedeckte und einen Rock, der mit Blättern und Blüten verzieht war. Im Flussreich war das mehr als genug gewesen und obendrein die einzige Kleidung, in der sie sich wohl fühlte und angenehm bewegen konnte.
Reichte das denn nicht?
"Du solltest dir trotzdem etwas anderes anziehen. Etwas, dass schon von weitem schreit, dass wir eine wichtige Aufgabe haben. Dass wir Helden sind!"
Daher wehte also der Wind. Er und sein verdammter Wunsch Teil einer sagenumwobenen Geschichte zu werden!
Sharall griff nach dem Stab, holte ihn schwungvoll von ihrem Rücken und versenkte das Ende in der Erde. Er sank tiefer ein zwischen den Gräsern, als sie erwartet hatte, anmerken ließ sie sich dies allerdings nicht.
"Sag doch einfach, dass es dir hier gut gefällt."
"Das...", seine Stimme war laut und schrill in ihrem Kopf, "das wagst du nicht!"
Für einen Moment sahen sie sich nur gegenseitig an. Dann stieß Sharall ein langes Seufzen aus und die Wackelaugen des Stabes fielen klappernd zu.
"Puh!"
Natürlich würde sie das nicht tun. Das wussten sie beide.
Sie mochten streiten, sie mochten einander auf die Nerven gehen. Aber sie waren Freunde. Vielleicht sogar die besten.