Wenn Thaleos so durch die Gassen der Stadt streifte, überkam ihn das Gefühl, die Schatten hier seien unendlich.
Ganz gleich wohin er sah, irgendwo kletterte immer Schatten über den Stein, die Hauswände hinauf, versteckte sich zwischen Efeuranken und im Geäst der Bäume, die die Allee zierten oder tauchte eine Gasse in Tiefe Dunkelheit.
Er mochte den Anblick. Es war so... Herrlich und anders, dachte er. So anders, als jene Schatten, die man außerhalb der hohen Stadtmauern fand.
Auf weiten Wiesen, entlang einzelner Fahrstraßen oder Flüssen war kaum Schatten. Zumindest nichts, was mit dieser Ansammlung hier vergleichbar wäre. Nur Wälder könnten da irgendwie mithalten. Aber dort wusste man nie, was einen in den Schatten erwartete und das machte es für ihn nicht immer einfach, danach zu greifen und Magie daraus zu formen.
"Thaleos?" Indras Gesicht erschien vor ihm und sie sah ihn aus großen Augen an. Für einen Moment verlor er sich in ihrem Blau, dann schüttelte er eilig den Kopf und blinzelte. "Ja?"
"Hast du mir überhaupt zugehört?"
Sie hatte etwas gesagt? Thaleos runzelte die Stirn. Nein, konnte sie nicht.
Er hatte absolut nichts gehört. Trotzdem, die Art wie sie ihn musterte - mit schief gelegtem Kopf und vor der Brust verschränkten Armen - und der magische Papiervogel auf ihrer rechten Schulter seine Papierfedern aufplusterte, musste er irgendetwas verpasst haben.
"Äh..."
Indra stieß ein langes Seufzen aus und ließ ihre Arme ruckartig an ihre Seiten fallen. Die Bücher, die entlang ihrer weiten Hose an einem Gürtel hingen, stießen aneinander und erlangten dadurch kurz seine Aufmerksamkeit.
Es sind wieder deutlich mehr geworden. Er lächelte und irgendwie freute er sich darauf, sie nun wieder abends nach einem langen Tag mit der Nase in einem Buch sehen zu können. Indra wirkte dann immer so entspannt so... niedlich. Aber das würde er er niemals sagen.
"Die Schatten wieder?" Amüsement blitzte zwischen den Silben auf und glitzerte in ihren Augen. "Irgendwie sind es immer die Schatten, die dich interessieren, ganz gleich, wie farbenfroh oder einmalig die Umgebung ist." Sie kicherte leise.
"Ähm", stieß Thaleos leise aus und wollte sich mit der rechten Hand am Hinterkopf kratzen. Schatten waberten um seine Finger.
Er hatte nach den Schatten gegriffen! Himmel, das hatte er nicht einmal mitbekommen.
Thaleos sah zwischen seiner Hand und Indra hin und her, unschlüssig.
Sie lächelte ihm so warm entgegen, und diese blauen Augen!
Er mochte Indra mehr, als er zugeben wollte - Thaleos wusste nur nicht, ob sie in ihm mehr, als einen langjährigen Freund sehen konnte.
"Oh, nein das war... gewollt." Zumindest jetzt, ergänzte er in Gedanken und begann die Schatten zwischen seinen Fingern zu formen.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und ein Kribbeln nistete sich in seinem Magen ein, als die Schatten langsam die Form von Blumen annahm.
"Guck?", seine Stimme krächzte, "Für dich."
Indra lief bis hinauf zu den Ohren rot an und wandte eilig den Blick ab. "D-danke."
Der Vogel auf ihrer Schulter krähte höchst amüsiert.