Siodore hustete und spuckte Blut.
Der Blick des Mannes verschwamm zusehends und während er eben noch deutlich die zerklüfteten Höhlenwände vor sich sehen konnte, fiel es ihm schwer, einen Atemzug später noch den Fels vor seinen Füßen klar zu erkennen.
Er war stets ein überaus kundiger Magier gewesen. Kaum ein Zauber hatte sich ihm entziehen können und er hatte sich stets mit seinem Können gerühmt. Trotzdem wusste Siodore, dass ihn keine Magie der Welt mehr retten konnte.
Ein neuerliches Husten schüttelte seinen erschöpften Körper. Blut troff aus seinem Mundwinkel, verteilte sich auf seinen bleichen Händen und bildete dunkle Spritzer auf seinem Hemd. Sein Kopf wurde schwer. Die Wände um ihn herum schienen zu schwanken und seine Augen brannten. Nur, wenn er die Lider einen Moment lang schloss und nichts weiter wahrnahm als Stille und endlose Dunkelheit, schien das Rauschen seines Blutes nachzugeben und sich eine innere Zufriedenheit einzustellen, die Siodore selig gestimmt zurückließ.
Der Mann zog den Mantel, der nur noch in groben Fetzen auf seinen Schultern lag enger um den Körper. Er fröstelte und sehnte sich nach einem Funken Wärme, der seine schmerzenden Glieder beruhigte.
Als er die Überreste um die hagere Gestalt gewickelt hatte und sich sorgfältig Gesicht und Hände im Stoff abgewischt hatte, griff er in eine auf magische Weise unversehrte Manteltasche und zog ein klammes Büchlein hervor.
Ihn schockierte es nicht einmal, dass das Blut, welches er in seine Sachen gewischt hatte, nicht in der Kleidung verschwunden war, sondern in feuchten Pfützen auf dem Stoff schwamm. Es interessierte ihn nicht. Siodore wusste, dass es mit ihm zu Ende ging. Hatte es bereits geahnt, als der Bär mit seinen groben Pranken nach ihm geschlagen und mit einer Leichtigkeit alle magischen Schutzschilde durchbrochen hatte, die Siodore fassungslos und panisch zurückgelassen hatte.
Der Weg in diese Höhle hatte ihn seine letzten Kräfte gekostet und er war froh, den Ungetüm zumindest mit einem herbeigezaubertem Geheul vertrieben zu haben. Andernfalls wäre er wohl in diesem stinkenden Maul verendet.
Dennoch... er wollte nicht einfach auf sein Ende warten. Das war nie seine Art gewesen. Und egal, mit welch schwerer Verletzung Heiler ihn ans Bett gefesselt hatten, ohne eine gute Lektüre hatte er sich stets mehr gequält gefühlt, als es die Verwundung alleine hätte erreichen können.
Mit zittrigen Fingern schlug er das Buch in seinem Schoß auf und strich die Seiten glatt. Eine umgeknickte Ecke erinnerte an die Stelle, die er zuletzt gelesen hatte und auch wenn Siodore unter anderen Umständen nur zu gerne weitergelesen hätte, zog ihn doch eine gänzlich andere Stelle des Buches magisch an.
Siodore hatte dieses Werk unzählige Male gelesen. Jedes Mal unter einem anderen Aspekt und zwischen einzelnen Lektüren lagen mehrere Jahre. Trotzdem war es nicht der Inhalt allein, der Kampf einer holden Maid gegen einen Drachenschwarm, dem sie als Jungfrau geopfert werden sollte, um die Bestien gnädig zu stimmen. Sondern viel mehr die lieblich schöne Beschreibung der Frau, die Siodore immer wieder dazu veranlasste dieses Buch aus seinem Regal zu nehmen und in seine Manteltasche zu stecken.
Langes kastanienbraunes Haar, helle blaue Augen, die im völligen Gegensatz dazu standen. Ein ansehnliches Gesicht und Schalk in ihren Worten, der sein Herz immer wieder höher schlagen ließ und ein Schmunzeln auf seine Lippen zaubern konnte. Er war vernarrt in diese Beschreibungen.
Die Finger strichen über die Zeilen, die die Augen kaum mehr erkennen konnten. Worte flimmerten und verschwammen, Blut tropfte auf einzelne Seiten und ließ Sätze verschwinden.
Siodore wusste dennoch ganz genau, was auf dieser Seite zu finden war. Seine liebste Stelle in diesem Buch, die erste Begegnung zwischen Maid und Drachen, die die Wesen irritiert zurückließen, da die Jungfrau nicht kreischend um Gnade flehte, sondern mit frechen Worten um sich schlug und die Dreistigkeit besaß, Drohungen auszusprechen. Es war derart absurd in seinem Umfang, dass es ihn gleichsam begeisterte, wie ängstlich zurückließ.
Der Mantel wurde enger um den frierenden Körper gezogen, das Buch rutschte aus seinen weißen Fingern.
Wie oft hatte er sich schon heimlich gewünscht, dass dieses holde Wesen aus dem Buch entsteigen könnte, um an seiner Seite zu verweilen?
Er hatte den Gedanken stets in die hinterste Ecke seines Bewusstseins verdrängt. Zu absurd erschien sie dem Mann, zu viel Angst hatte er vor der Meinung anderer.
Und doch... was machte es für einen Unterschied, wenn er ihr Abbild hier, am Ende seiner Tage projizierte, um in ihren Armen friedlich einzuschlafen?
Ein Schulterzucken, kaum dass der Gedanke träge durch den schmerzenden Kopf gewandert war. Worte einer fremden Sprache, die wehmütig, falsch und flüsternd von den Höhlenwänden widerhallten, bis sie klanglos verstummten. Seine Stimme war viel zu heiser, als dass er der Beschwörungsformel genug Kraft hätte verleihen können.
Siodore wusste, dass er unsauber gesprochen und die Heiserkeit einzelne Silben verzerrt hatte. Er wusste auch, dass dies niemals ein gutes Zeichen war. Aber es war ihm gleich, sich über etwaige Folgen den Kopf zu zerbrechen.
Wozu auch?
Rascheln, Summen, Rauschen, Brüllen. Dann, ein schabendes Geräusch.
Als Siodore ein letztes Mal die Augen öffnete, erkannte er ihr durchsichtiges Lächeln vor sich. Sie flackerte und durch ihr Abbild konnte er vage Formen des Felsens und etwas viel größerem Unbekanntem erahnen. Dennoch reichte es aus, um sein Herz ein letztes Mal höher schlagen zu lassen.
Er stieß das Buch von sich und streckte ihr die kraftlosen Finger entgegen.