Als ihre Majestät den Efeuvorhang ihres Thronsaals zur Seite schob und mit langsamen Schritten hervorkam, erhob sich die erste Stimme des ersten Chors. Dumpf und dunkel und doch laut genug, dass sie über den weiten Platz hinweghallte.
Langsam lief ihre Majestät entlang des Rinnsals des heiligen Wassers der Urquelle. Und als ein breites Lächeln ihre Züge erhellte und sie sich eine einzelne Strähne des langen Haares hinter ihr Ohr strich, folgte der erste Chor der ersten Stimme.
Kleine Tröpfchen der Urquelle begleiteten die Stimmen und schwebten durch die Luft. Thai wollte danach greifen, aber Ilaishir hielt ihre Hand zurück und strafte sie mit einem dunklen Blick.
Nicht jetzt, stand in seinen Augen. Thai kannte ihn lange genug, um ihn ohne Worte verstehen zu können.
Sie setzte ein entschuldigendes Lächeln auf und lenkte ihre Aufmerksamkeit vorbei an den Dutzenden anderen, die dem Fest beiwohnten, zurück zur ersten Stimme, die im Takt der Schritte ihrer Majestät die tiefsten Tiefen seines Gesangumfangs erreichte. Und als der blassblaue Rock ihrer Majestät die Wasser des Rinnsals streifte und entlang des Saums flammend Rote Flecken entstanden, stimmten auch die ersten Stimmen der anderen Chöre mit ein. Viel heller und klarer.
Eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus.
Irgendwann, dachte Thai, irgendwann werde ich auch dort stehen.
Sie würde nur ihre Ausbildung zur Wandlerin erfolgreich abschließen müssen - und sich dann durch die unbedeutsamen Chöre nach oben singen müssen.
Kleinigkeiten, versuchte sie sich selbst einzureden. Es würde so unheimlich schwer werden, dieses Ziel zu erreichen.
"Spürst du das?", Ilaishirs Stimme riss sie unvermittelt aus ihren Gedanken, "Es fühlt sich so unfassbar intensiv an!"
"Ja." Thai lächelte kurz und atmete tief ein. Die Luft vibrierte geradezu vor Energie und fast war es ihr, als hörte sie ein fernes Rauschen von den Tropfen, die um sie herum flossen.
Sie waren größer geworden und mehr, seitdem so viele weitere Stimmen dem Chor beigetreten waren. Und nun erkannte Thai auch ihren Ursprung: Sie entstiegen den Wassern der Urquelle.
Woher sollten sie auch sonst kommen?
Der Gesang erstarb abrupt und für einige Herzschläge war es, abgesehen vom leisen Rauschen der Tropfen, still auf der Wiese.
Ilaishir griff nach ihrer Hand, ein flüchtiges Lächeln auf seinen Lippen, das Thai nur kurz erwidern konnte. Sie war viel zu aufgeregt ob dem, was nun folgen würde.
"Freunde, ich heiße euch herzlich willkommen. Mögen eure Wünsche erfüllt werden." Ihre Majestät blieb inmitten des Weges stehen und breitete ihre Hände aus. Das Lächeln lag noch immer warm auf ihren Zügen.
So schnell, wie die Stimmen verstummt waren, so schnell gewannen sie wieder an Intensität. Doch dieses Mal blieben die Sänger nicht regungslos auf ihren Plätzen stehen, sondern amten Bewegungen nach, die die erste Stimme des ersten Chores vollführte. Kraftvoll und ungebändigt.
"Sie beginnen zu wandeln, Ilaishir!", rief Thai aus. Im nächsten Moment schlug sie sich die Hände vor den Mund, als unzählige Blicke zu ihr zuckten.
Die Tropfen verharrten still in der Luft, als auch der letzte Sänger in den Bewegungsfluss miteingestimmt war. Dann, als ob eine unsichtbare Hand sie führte, wirbelten sie umeinander, bis sie inmitten der Wiese einen Strudel bildeten, der langsam in die Höhe zog.
Das Rauschen wurde intensiver, je höher der Strudel schlug und als genug Tropfen sich vereinigt hatten, sah Thai Gischtströme daraus entspringen, die langsam in einem weiten Bogen zurück zu Boden floss und die Wiese und weite Teile des angrenzenden Waldes umspannten.
"Die Kuppel ist riesig." Thai nickte. Zu mehr war sie nicht mehr im Stande.
"Aber das muss sie auch sein, bei dem was noch kommt."
Thai nickte abermals.
Es war erst das zweite Mal, dass sie dieses Spektakel begleiteten - es kam viel zu selten zustande.
In der Ferne schälte sich der Phönix aus seinem Aschenhaufen - groß und majestätisch. Sie konnte den Blick kaum von ihm abwenden, obgleich er sich in all der Zeit kaum verändert hatte.
Obwohl... sie legte den Kopf schief und kniff die Augen zu einem schmalen Strich zusammen. War er größer geworden oder verzerrte die Oberfläche nur sein Abbild?
Mit einem gewaltigen Brüllen, das die wässerne Kuppel zum Kräuseln brachte, erhob er seine brennenden Schwingen.
Ein neuer Weltenzyklus hatte begonnen.