Warnung: Tod, Verlust, Trauer
Dieses Jahr wird es 15 Jahre her sein. Im August vor 15 Jahren wurde sie gerade erst 9. Sie hatte lange blonde Haare und große braune Augen und schon immer ein wenig zu viel auf den Rippen aber damals galt das noch als Babyspeck und sah niedlich aus.
Heute war sie 23, wurde im August 24 und sie dachte immerhin nicht mehr jeden Tag an ihn. Eigentlich dachte sie sehr selten noch an damals. Es war auch nicht mehr besonders viel an dass sie sich erinnern konnte. Über die Jahre hatte sie große Teile vergessen, weil ihr Gehirn den Speicherplatz für vermeintlich wichtigere Informationen gebraucht hatte. Sein Gesicht war verschwommen in ihrer Erinnerung, seine Stimme hörte sie schon gar nicht mehr aber das Husten hörte sie immer noch. Rau und kratzig und viel zu laut. Irgendwas zwischen dem Bellen eines wütenden Hundes und einem verzweifelten Röcheln. Der Rauch seiner Zigaretten hatte ihm nie gut bekommen und letztendlich... hatte ihn das auch umgebracht. Lungenkrebs... sie konnte sich gar nicht mehr an die Diagnose erinnern, nur das es Lungenkrebs war. Sie hatte ihn wohl auch ein paar mal im Krankenhaus besucht aber nicht oft. Sie ertrug es nicht ihn dort liegen zu sehen. Nach einer weile war klar dass die Ärzte ihn nicht retten konnten und irgendwann... eines Morgens... wachte sie auf und er... nicht.
Sie fand ihre Mutter weinend im Schlafzimmer. Es dauerte lange bis sie die Informationen verarbeitet hatte, bis sie auch weinte und es dauerte noch länger bis sie es wirklich begriff. Ein Teil von ihr hatte es heute noch nicht begriffen. Damals war sie trotzdem zur Schule gegangen. Hatte sich abgelenkt und es ihrer besten Freundin erzählt. Sie war nicht einen Tag deshalb zu Hause geblieben. Was hätte sie denn auch tun sollen? Tränen brachten ihn auch nicht zurück.
Jetzt mit 23 war sie erst ein paar mal an seinem Grab gewesen. Er hatte einen Platz im Familiengrab und seine Frau würde ihm irgendwann Folgen, aber das schien noch Zeit zu haben, hoffte sie zumindest. Sie brauchte kein Grab um an ihn zu denken. Sie hatte ein kleines, altes Bild von sich als 2 jähriges Mädchen und von ihm wie sie beide die Gänse hüteten. Das reichte ihr. Er war 60 als er starb. Damals kam ihr das so unendlich alt vor, heute wusste sie, dass er eigentlich viel zu jung gestorben war. Er war gestorben und hatte sie allein gelassen in einer Familie die manchmal etwas... verrückt war. Es hatte wirklich lange gedauert bis sie ihren Platz gefunden hatte, wenigstens ein bisschen.
Er sah keinen Tag älter aus als 60 als sie ihn das letzte Mal sah. Etwa so groß wie sie, mit einem runden Bauch, einer Halbglatze und einer Zigarette im Mundwinkel. Sein wettergegerbtes Gesicht und seine rauen Hände. Er war wahrscheinlich kein wirklich liebevoller Mann gewesen aber sie wusste das er sie geliebt hatte. Die anderen sagten manchmal, dass sie seine Lieblings- Enkelin gewesen war und manchmal glaubte sie das auch. Aber sie war zu jung gewesen um sich daran zu erinnern. Und jetzt.. stand er da. In einiger Entfernung und einfach so, als wäre nie was gewesen. Links und rechts von ihm saßen 2 Schäferhündinnen, beide hießen Tina und sie wusste dass sie sich das alles nur einbilden konnte denn alle 3 waren seit langen Jahren Tod. Und trotzdem glitt sein Blick über sie als würde er jemanden lang vermissten das erste mal wiedersehen. Er betrachtete ihre kurzen, roten Haare mit den abrasierten Seiten, das Make-Up mit den knall roten Lippen, die halbhohen Stiefel und ihre schwarzen Sachen . Nicht zum ersten Mal fragte sie sich wie sie wohl gewesen wäre, wenn er länger gelebt hätte, wie ihre Familie sich entwickelt hätte und was alles nicht passiert wäre. Sie fragte sich, ob sie vielleicht glücklicher wäre aber war sie denn wirklich unglücklich? Sie fragte sich ob das Leben einfacher wäre oder ob das nur Wunschdenken war.
Sie starrte ihn immer noch an. Dann sah sie wie sich ein lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete und Falten auf seiner Haut schlug wie Wellen auf dem Wasser. Für sie war es in dem Moment, dass schönste was sie je gesehen hatte. Er nickte ihr stumm zu und sie wusste was er meinte. Sie lächelte und nickte zurück und als sie das nächste mal blinzelte und die Augen öffnete... war er verschwunden. Sie sah auf die Flasche in ihrer Hand und stellte sie beiseite.
Vermutlich war es gut, wenn sie erstmal eine Weile nichts mehr trank...