Er sah aus dem Fenster. Draußen war alles dunkel, die Sterne waren kaum zu sehen hinter den dichten Wolken und auch der Mond erhellte kaum etwas von den regennassen Straßen. Er hasste Sturm und Regen. Er liebte die Sonne, das Meer, alles was mit gutem Wetter zu tun hatte. Wenn es nachts stürmte, konnte er einfach nicht einschlafen. Seufzend schlug er die Decke zurück und stand auf. Vielleicht wenn er sich einen Tee machte, oder nein. Doch lieber gleich irgendwas mit Alkohol. Er musste etwas suchen und kramen bis er irgendwas fand und alles was er noch hatte, war eine Flasche Glühwein von Weihnachten, also auch schon ein paar Wochen alt. Stirnrunzelnd betrachtete er die Flasche und beschloss dann, mit einem Schulter zucken, dass Alkohol nicht schlecht wird, sondern nur reift und goss einen großen Schluck in seine Tasse und stellt die in die Mikrowelle. Während sein Schlaftrunk sich aufwärmte, sah er aus dem Fenster und beobachtete weiter das Wetter. Ihm gegenüber war ein anderes Haus, so dass er nicht mehr als sein eigenes Spiegelbild im dunklen Fensterglas sah und dann eine Wand mit einem Fenster auf seiner Höhe. Dort wohnte niemand, hatte nie jemand gewohnt seitdem er vor ein paar Jahren hier eingezogen war und sein Studium begonnen hatte. Anfangs hatten seine Eltern seine Wohnung noch finanziert, aber seit einer Weile schaffte er es mit einem Nebenjob und ein paar Sparmaßnahmen, sich die Miete irgendwie selbst zusammen zu kratzen. Manchmal musste er dann halt eine Woche oder zwei von Instant-Nudeln leben aber es war besser als von seinen Eltern abhängig zu sein, die die Miete gerne benutzten um einfach unangekündigt hereinzuschneien... und am besten noch wenn er einmal in seinem Leben nicht allein zu Hause war.
Eine Bewegung aus dem Augenwinkel lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Fenster ihm gegenüber und er überlegte schon das Licht aus zu schalten um sich das genauer an zu sehen, als die Mikrowelle piepste und ihn aus seinen Gedanken riss. Er nahm seinen Glühwein und tapste zurück in sein Schlafzimmer/Wohnzimmer. Er hatte Glück mit seiner Wohnung. Er hatte immerhin eine extra Küche, auch wenn er Schlaf-und Wohnzimmer kombinieren musste, war das eine deutliche Verbesserung zu den Wohnungen seiner Kommilitonen. Seufzend nahm er einen Schluck Glühwein und ließ die Wärme und die leichte Säure langsam in seinem Körper wirken und wie erwartet, als er die Tasse leer hatte, war er vom Alkohol so müde, dass er einfach das Licht ausmachte und einschlief. An das Nachbarhaus dachte er gar nicht mehr.
Jedenfalls nicht bis zum nächsten Abend. Diesmal war es ein klarer Sternenhimmel und er konnte von seinem Fenster aus den Mond und die Sterne beobachten. Er tat das nur zu gerne. Irgendetwas daran beruhigte ihn und faszinierte ihn, er hatte so schon mehrere Sternschnuppen zu Gesicht bekommen und sich immer wieder was gewünscht. Er kam sich dabei wie ein kleines Kind vor aber vielleicht half es ja? Wer wusste das schon? Diesmal nahm er sich sogar die Reste des Glühweins und ging damit runter vor die Haustür, setzte sich auf die schmalen Stufen und sah hinauf. Er konnte sie nicht so klar erkennen wie bei sich zu Hause auf dem Dorf, aber es reichte um ein paar der helleren Sterne zu erkennen und manchmal sogar die Sternbilder, wenn man genau hinsah. Er saß eine ganze Weile so da, nippte immer wieder an seiner Flasche und betrachtete einfach die Sterne ignorierte die Welt um sich herum und war einfach... fasziniert.
Bis er nach der Flasche griff und sie nicht mehr da fand wo er sie abgestellt hatte. Verwirrt sah er runter und musste zu seinem Erstaunen feststellen dass er nicht mehr allein war. Neben ihm hatte sich, unbemerkt von ihm, ein junger Mann auf die Stufen gesetzt und hielt ihm gerade grinsend die Flasche hin aus der er gerade getrunken hatte. "Ich darf doch?" fragte er ganz unschuldig und irgendwas... war so.. sonderbar an ihm.
"Uhm klar...." der Student wedelte mit der Hand und runzelte die Stirn wieder während er den Mann neben sich musterte. Kannte er ihn? Wer war er? Warum saß er da? Er war sicherlich keiner seiner Nachbarn im Haus, die kannte er alle.
"Wer sind sie?" fragte er deshalb gerade heraus. Er wollte zumindest wissen, mit wem er da seine eiserne Reserve teilte.
"Oh, sorry, ein bisschen unhöflich von mir" er lächelte ihn an und der Student merkte die Hitze in seinen Wangen aufsteigen und wusste das er gerade knall rot wurde. "Ich bin Julius. Ich bin gerade neben an eingezogen" er deutete mit dem Daumen auf das Haus in dem seit Jahren kein Mensch mehr gewohnt hatte. "Es ist noch etwas baufällig und ich hab noch kein Strom, aber das bekomme ich noch hin" versicherte er seinem Trinkgefährten und setzte die Flasche wieder an, bevor er sie schließlich zurück gab. "Wie heißt du?" wollte er wissen. "Immerhin trink ich dir hier deinen Alkohol weg" er zwinkerte.
"Max..." kam die etwas undeutliche Antwort aber Julius schien ihn gehört zu haben denn er nickte nur und sah wieder auf zu den Sternen.
Max folgte seinem Blick und wenn er es nicht besser wissen würde, schienen die Sterne jetzt ein kleines bisschen heller und es schienen ein paar mehr zu sehen sein... aber das konnte auch einfach an der Zeit liegen.
"Schade... woanders würde man mehr sehen..." Julius klang ein bisschen enttäuscht aber als Max den Kopf drehte, starrte der andere immer noch auf, in den Himmel und schien genau so fasziniert zu sein wie er selber. Dann drehte er den Kopf als hätte er den Blick auf sich gespürt und grinste.
"Ich hab dich gestern schon gesehen. Am Fenster. Aber ich glaub du hast mich nicht gesehen, weil es bei mir so dunkel war und bei dir war überall Licht" er zuckte die Schultern. "Hattest ein hübsches Shirt an" grinste er und Max wurde noch röter weil er genau wusste dass er gestern nur Boxer getragen hatte, als er in der Küche war. Also hatte er sich doch nicht geirrt. Da war eine Bewegung!
"Spanner" murmelte er leise aber es war eher ein Spaß als ein ernsthafter Vorwurf und setzte die Flasche für einen großen Schluck an, bevor er sie Julius hinhielt.
Ihm gefiel der jetzt nicht mehr ganz so Fremde irgendwie. er war... erfrischend anders. Warme Hände berührten seine und er hätte fast vor Schreck die Flasche fallen lassen aber nur fast. Der Alkohol war schließlich wichtig. Das kichern neben ihm war leise und sanft und er konnte aus den Augenwinkeln sehen wie Julius die Flasche ansetzte und trank und sie dann zwischen sie beide stellte. Dann sahen sie wieder auf zu den Sternen und jetzt war sich Max sicher, dass sie heller waren und mehr als es sein sollten aber er sagte nichts. Er saß einfach so da, schweigend, mit Julius und sah in die Sterne und immer mal wieder tranken sie einen Schluck Glühwein der ein paar Wochen alt war und billig war und viel zu sauer aber sie beschwerten sich nicht. Und als der Wein alle war, blieben sie weiter sitzen bis sie einen steifen Nacken hatten und selbst dann... wagte sich keiner der beiden sich zu bewegen. Erst als langsam die schwarze Nacht einem dunklen Grau wich und irgendwo der erste Vogel anfing zu singen, erhob sich Julius schweigend und Max tat es ihm gleich. Sie sagten nichts. Sie sahen sich nur an, nickten sich zu und beide gingen in ihre Häuser, in ihre Zimmer und in ihr Bett.
Und als Max am nächsten Morgen aus dem Küchenfenster sah, konnte er eine kleine Kerze an dem Fenster gegenüber entdecken, in dem Julius wohnen musste. Der Gedanke, dass sein Sternguckerfreund so nah bei ihm war, ließ ihn lächeln. Es war schön einfach eine Weile mit jemandem zusammen zu sein ohne reden zu müssen. Einfach sitzen, schweigen und die Gesellschaft des Anderen genießen. Er hoffte, dass das Wetter heute Nacht wieder mitspielte. Er hatte gerade Semesterferien und er plante definitiv sie, wenn es ging, mit Sterne gucken mit dem neuen Fremden von nebenan zu verbringen, ganz egal was daraus wurde. Vielleicht... ganz vielleicht wurde da ja mehr daraus? Max schüttelte den Kopf, nein, soviel Glück hatte er nicht.
Den ganzen Tag über warf er immer mal wieder einen Blick ins Fenster gegenüber aber nie erwischte er einen Blick auf Julius und als es Abend war und es dunkel wurde, hatte er schon fast die Hoffnung aufgegeben und sich eingeredet, dass alles nur ein Traum gewesen war. Ein bisschen enttäuscht tapste er die Treppe zur Haustür runter, öffnete sie und erstarrte einen Moment. Auf den Stufen seines Hauses saß eine Gestalt, groß und schlank, mit einem Lockenkopf und in einer Jeansjacke und sah hinauf zu den Sternen. Neben ihm stand eine Flasche Glühwein und Max setzte sich einfach dazu, nahm die Flasche und trank einen großen Schluck.
Es wurde ihr kleines Ritual. Jeden Abend, wenn das Wetter es zu ließ, trafen sie sich auf den Stufen zu Max Haus, tranken eine Flasche von diesem billigen Fusel den man als Student kaufen konnte und von dem jeder mal eine Flasche mitbrachte und sahen hinauf zu den Sternen. Und Max konnte schwören dass jeder einzelne Stern extra kräftig schien, jede Nacht, nur um ihnen zu gefallen. Und in den Nächten in denen es regnete und stürmte, stand eine kleine Kerze auf Julius Fensterbrett die im Wind flackerte und ums Überleben kämpfte auf dem zugigen Fensterbrett. Selbst als er Elektrizität hatte, blieb die Kerze an den stürmischen Tagen stehen und es machte sie für Max ein kleines bissche erträglicher, wenn er den Kerzenschein wie hypnotisiert beobachtete während er eine eigene Kerze auf seinem Fensterbrett anzündete.
Er wusste nicht wann es passiert war aber er wusste es mit Sicherheit: Er war bis über beide Ohren in diesen Kerl verliebt, der ihm seinen Alkohol weg trank und ihm jeden gesunden Menschenverstand beraubte, der ihm vorschrieb in der Nacht zu schlafen, statt Sterne an zu starren. Aber Max konnte das nicht egaler sein. Denn jeden Abend sah er diesen Lockenkopf auf seiner Treppe und sein Herz schlug viel, viel zu schnell.
Es waren schon mindestens vier Wochen seit ihrem ersten Treffen vergangen. Wenn nicht noch mehr, so genau wusste es Max nicht, er hatte völlig das Zeitgefühl verloren aber er wusste, dass ihre Zeit zu kurz gewesen war. Denn irgendwann kam Julius nicht mehr. Max wartete und wartete die ganze Nacht und leerte die Flasche alleine. Doch niemand kam. Auch die Kerze brannte nicht. Und am nächsten Tag auch nicht und auch nicht am darauf folgenden Tag. Da war nichts. Keine Spur mehr von Julius, als hätte es ihn nie gegeben. Er zündete an stürmischen Tagen immer noch eine Kerze an, doch das Fenster auf der gegenüberliegenden Seite... blieb dunkel und stumm und leer. Und auch die Sterne waren nicht mehr so hell. Er musste sich wieder anstrengen, sie überhaupt sehen zu können, als wenn sie ihn verhöhnten. Als wenn sie ihm nicht den Trost schenken wollten, den er brauchte.
Irgendwann... wartete Max nicht mehr. Er zündete keine Kerze mehr an, er hielt nicht mehr ständig nach ihm Ausschau und er ging nachts wieder schlafen. Er wartete nicht mehr, doch er vergaß ihn nicht.
All das, all diese Erinnerungen waren wie ein Flackern im Wind seiner Erinnerungen, eine Kerze die auf dem zugigen Fensterbrett ums Überleben kämpfte, eine Flamme die klein genug war um sie zu ignorieren aber die nie ganz erlosch.
2 Jahre später öffnete er gerade die Tür seiner Wohnung um die letzte Kiste heraus zu tragen, als vor ihm ein Kopf voller Locken auftauchte, braune Augen, ein verschmitztes Lächeln ein langer Körper in einer Jeansjacke.
"Hi" sagte Julius und hielt eine Flasche Glühwein hoch.