Fortsetzung von Julius und Max aus "Flackern im Wind"
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"Hi" sagte Julius und hielt eine Flasche Glühwein hoch.
Max hielt inne. Starrte. Blinzelte, starrte wieder. Dann gewann der Ärger die Oberhand. Er schnaubte nur und drängte sich an ihm vorbei, raus aus der Tür und runter zu seinem Auto. Seine Freunde waren mit dem Rest schon vorgefahren um die Kisten in die neue Wohnung zu bringen. Gleiche Stadt, aber ein anderes Viertel. Max hatte jetzt eine gut bezahlte Arbeit, konnte sich eine bessere Wohnung leisten und hatte schon vor einer ganzen Weile sein Studium ziemlich erfolgreich abgeschlossen. Sein Leben war gut! Er hatte Spaß! Er hatte Freunde gefunden! Er hatte sogar kurz eine Beziehung gehabt! Und jetzt, nach 2 Jahren tauchte, dieser Mistkerl wieder hier auf? Er hatte schon angefangen zu glauben dass, das alles nur ein dummer Streich seines Gehirns gewesen war! Dass er in den ganzen einsamen Nächten, auf den Stufen seines Hauses, einfach jemand erfunden hatte, der ihm Gesellschaft leistete, schließlich hatte er ja wirklich genug Alkohol getrunken und vielleicht waren einige der Flaschen nicht mehr ganz so gut gewesen wie er geglaubt hatte. Also ging er einfach weiter. Sie hatten ja auch sonst nie geredet, da würde er jetzt nicht damit anfangen. Schon gar nicht, wenn er wütend war.
Er konnte die schnellen Schritte hinter sich hören und noch bevor er an seinem Auto angelangt war, nahmen 2 Hände ihm die Kiste ab und stellten sie auf den Boden. "Hey, warte doch mal..." dieser Trottel hatte tatsächlich die Frechheit beleidigt auszusehen! Und trotzdem... Max sah ihn jetzt das erste mal bei Tageslicht. Die braunen Locken hatten winzige hellere Strähnchen die im Licht der Sommersonne wie Gold glitzerten und seine Augen erschienen fast Bernstein gelb . Er hatte immer gewusst das sein nächtlicher Sterne-Guck-Partner gut aus sah aber... er war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass er SO gut aussah. Die Gesichtszüge waren beinahe symmetrisch, volle Lippen, und die Augen waren, auch wenn er gerade eher verwirrt aussah, freundlich. Der Körper war lang und fast schon drahtig, eindeutig sportlich aber nicht so muskulös wie er gedacht hatte, trotzdem fehlte Julius nichts an Eleganz.
"Was?!" zischte Max sichtlich angepisst. "Was willst du?" sichtlich erschrocken wich der andere ein paar Schritte zurück und hob die Hände.
"Uh... reden?" schlug er vor und sah jetzt doch tatsächlich entschuldigend aus. Immerhin schien er zu begreifen das Max sauer war. Gut. Der andere war also nicht ganz dumm.
"Reden?" Max verzog das Gesicht, hob seine Box wieder auf und stopfte sie endlich ins Auto. "Du sitzt wochenlang schweigend neben mir, dann verschwindest du 2 Jahre lang spurlos und kommst zurück und willst auf einmal reden?" er schaffte es tatsächlich höhnisch zu klingen. "Was glaubst du eigentlich was passiert, wenn du mit ner alten Flasche Glühwein vor meiner Tür auftauchst? Du sagst hi und ich vergesse alles was war? Du kommst rein und wir reden und lachen und besaufen uns und dann kannst du wieder verschwinden? Was wäre wenn mein Freund dir die Tür aufgemacht hätte? Was wäre wenn ich gar nicht mehr hier wohnen würde? Hast du jemals daran gedacht?" Er knallte die Tür des Autos lauter zu als beabsichtigt und irgendwo auf der anderen Straßenseite hob ein Nachbarshund träge den Kopf. Max beachtete ihn nicht.
Er hatte nur Augen für den jungen Mann vor ihm. Wie konnte dieser Vollidiot tatsächlich so gut aussehen? Er hatte danach Wochen lang von ihm geträumt. Monatelang jede Straße nach ihm abgesucht und sich nach jedem Lockenkopf, den er gesehen hatte umgedreht aber nichts. Nie hatte er ihn wieder gesehen. Bis jetzt. Und jetzt war er sauer. Er hatte gedacht er würde sich freuen aber um so mehr Zeit vergangen war, um so mehr hatte er sich geärgert. Über Julius und über sich selbst. Gerade wollte er noch etwas hinzufügen, da stand dieser Idiot genau vor ihm. So dicht, dass er sich nicht rühren konnte. In seinem Rücken spürte er sein Auto, vor sich war Julius und links und rechts von ihm dessen Arme. Der Andere war auch noch größer als er. Na toll. Jedes Gott verdammte Klischee erfüllt. Dachte er säuerlich.
Als er aufsah um ihm ärgerlich eine Ansage zu machen, dass er nicht vor hatte sich davon einschüchtern zu lassen, spürte er Lippen. Warme Lippen die sich nicht unangenehm auf seine legten. Ein süßer Geruch nach Glühwein und einer lauen Sommerbrise und Meer stieg in seine Nase und unwillkürlich schloss er die Augen. Er wollte es nicht aber sein Zorn verflog so schnell wie er gekommen war und als sein Körper sich merklich entspannte, verstärkte sich der Kuss. Es war eindeutig zu warm für soviel Nähe und Max fing an noch mehr zu schwitzen aber das störte ihn nicht. Erst als sie beide keine Luft mehr zu bekamen, löste Julius den Kuss und lächelte tatsächlich ein bisschen.
"Tut mir leid..." sagte er leise. "Es tut mir alles sehr... sehr leid..." er legte eine Hand unter Max Kinn und strich mit dem Daumen über dessen Lippen. "Lass uns reden... Lass es mir dir erklären... dann kannst du entscheiden ob du mir den Kopf abreist oder nicht okay?" Und dann legte er den Kopf schief und irgendetwas in Max zerbrach. Wie konnte ein erwachsener Mann so süß sein, nachdem er ihm gerade mit einem Kuss sämtliche Sinne geraubt hatte. Offenbar auch seinen gesunden Menschenverstand.
"Okay... aber drinnen" hörte er sich sagen und schob sich, zum gefühlt hundertsten Mal, an dem anderen vorbei und ging rein. Leise schritte zeigten ihm, dass Julius ihm folgte.
Die Wohnung war leer, nichts mehr da zum sitzen, keine Bilder, kein Fernseher, nichts. Im ehemaligen Wohnzimmer drehte er sich mit verschränkten Armen um und sah Julius abwartend an. "Und?" fragte er.
Der junge mann sah sich im Raum um, zuckte dann mit den Schultern und setzte sich einfach auf den Boden. Es sollte seltsam aussehen. Ein Typ der in einer leeren, fremden Wohnung einfach auf dem Boden sitzt aber... es sah... passend aus. Irgendwie. Seufzend setzte Max sich auch, ihm gegenüber und wartete weiter. Ein paar Momente vergingen, in denen keiner etwas sagte und langsam fing es an, sich an zu fühlen wie damals beim Sterne beobachten.
"Ich.. bin weggegangen" fing Julius schließlich an. "Die Wohnung neben an war nicht meine... Ich hatte sie besetzt, weil ich zu der Zeit keinen anderen Platz hatte zum schlafen... Ich... wollte nicht weg, besonders nachdem ich dich getroffen hatte, aber ich konnte auch nicht riskieren dass die Polizei mich in einer fremden Wohnung findet. Also bin ich irgendwann, notgedrungen weiter gezogen. Ich wusste nicht wie ich dir das sagen sollte... vor allem da wir ja nicht geredet haben... Ich hab einfach gehofft, dass du mich vergisst und... weitermachst. Das du denkst das war alles ein Traum" jetzt senkte er den Kopf und malte mit dem Finger kleine Kreise in den Staub vor ihm. "Ich meine ich war ja eigentlich nur ein Obdachloser" murmelte er leise und biss sich auf die Lippen.
Max wartete. Das waren alles noch keine Gründe sich so zu verhalten, wie er fand.
"Ich weiß ich hätte was sagen sollen aber... du hättest mir nicht helfen können, das weiß ich. Und das weißt du. Ich... ich hatte mich in dich verliebt gehabt und ich wusste ja nicht einmal ob du auf Männer stehst oder nicht und überhaupt... Und dann hast du vorhin deinen Freund erwähnt und ich war einfach so glücklich das ich dich küssen musste und... dabei... ich weiß ja nicht mal ob du nicht wirklich einen Freund hast..." er sah ihn an.
Hoffnung in den braunen Augen und Max brachte es nicht über sich ihm diese zu nehmen. "Hab ich nicht" sagte er leise. Das Gesicht des anderen hellte sich merklich auf und er rutschte ein kleines Stück näher zu ihm heran, aber nicht zu nah. "Ich... war kein guter Mensch Max... ich... ich war niemand mit dem du dich hättest einlassen sollen. Ich hätte mich nie zu dir setzen dürfen aber in dem Moment, in dem ich dich damals im Fenster gesehen habe.... ich wusste das du mein Verderben wirst... Ich hab einfach alles über Board geworfen, in jeder einzelnen Nacht die ich mit dir Verbacht habe. Du hast ja keine Ahnung" er klang leise. Max verstand nicht so genau was er damit sagen wollte und sein Gegenüber schien das zu verstehen. Langsam begann er seine Jacke auszuziehen, die er trotz dieser viel zu heißen Temperaturen trug und Max wollte gerade einen Kommentar abgeben, darüber was für ein schlechter Zeitpunkt es wäre, wenn sie jetzt über einander herfielen, als er die Narben sah. Kleine feine Linien auf jedem Arm, wahllos verteilt. Einige waren nicht ganz so zart wie andere, einige waren rot, andere schon weiß und manche sahen aus wie.. Max schluckte. Manche hatten genau den Durchmesser einer Zigarette.
"Ich war kein guter Mensch" wiederholte Julius und Max sah ihn wieder an. Scheinbar mit soviel Schock im Gesicht, dass der junge Mann schnell wieder seine Jacke anzog.
"Ich habe viele Fehler gemacht in meinem Leben. Ich habe viel falsch gemacht und ich habe dafür gebüßt. für jeden Einzelnen. Ich war ein braves kleines Opferlamm und habe alles wieder gut gemacht... mehr oder weniger. Ich bin immer noch kein guter Mensch. Ich weiß noch nicht einmal ob ich es je sein werde aber es gibt noch einen Fehler den ich mehr als alles andere in dieser Welt wieder korrigieren muss. Einen, bei dem ich um Vergebung flehen werde, wenn ich es tun muss" er sah ihn fest an und so entschlossen das Max nachfragen musste.
"Welchen?" fragte er leise.
"Dich zu verlassen..."
Max Herz machte einen kleinen Hüpfer. Das war wirklich ein furchtbares Filmklischee. Das wusste er. Aber er konnte es nicht verhindern. Jetzt war er es; der auf dem Boden an Julius heranrutschte und ihm wortlos die Jacke von den Schultern strich. Der Andere ließ es geschehen und zuckte auch nicht weg, als Max neugierig seine Arme berührte. "Will... ich es wissen?" fragte er leise und sah zu dem anderen auf.
"Nein... noch nicht..." die Antwort war leise und diesmal glaubte er ein wenig Schmerz in seinen Augen erkennen zu können. Julius war noch nicht bereit darüber zu reden. Seine Hände wanderten höher, bis zum Saum des T-Shirts und dann zu Julius Gesicht. Es war lächerlich aber jetzt erst war sich Max zu 100% sicher, dass da vor ihm kein Hirngespinst saß, sondern wirklich und leibhaftig ein lebendiger Mensch.
"Du bist ein Idiot" stellte er fest. "Du bist ein Dummkopf, ein Idiot und ich sollte dich hassen. Wirklich" Julius wollte den Kopf wegdrehen und aufstehen doch Max hielt sein Gesicht fest. "Du hast mich 2 Jahre Lang im Dunkeln gelassen. Hast mich glauben lassen ich hätte mir das alles nur eingebildet. Ich hab gedacht ich war einen Sommer lang so besoffen, dass ich halluziniert habe! Ich habe jedes verdammte Recht darauf, richtig richtig angepisst zu sein" stellte er klar und sah Julius ernst in die Augen. Dann aber stahl sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht.
"Tu das nie wieder!" warnte er leise und dann... küsste er ihn. Warme Lippen auf weichen Lippen. Der süße Geruch, der Geruch nach Sommer und dann 2 Arme die sich um ihn schlangen, ihn näher zogen bis er auf dessen Schoß saß und den Kopf leicht nach unten beugen musste, damit der Kuss nicht brach. Hände die sich in sein T-Shirt klammerten, als seine Finger sich in seine Haare gruben.
Diesmal stoppte er, als etwas nasses, salziges über seine Lippen rann. Verwundert sah er Julius an, der weinte. Er lächelte und kleine Tränen liefen über sein Gesicht und Max fing sie auf und wischte sie weg.
"Nie wieder" brachte Julius hervor und nickte. Seine Lippen zitterten und Max glaubte ihm. Sofort, aufs Wort und ohne zu zögern. Er glaubte ihm jedes Wort, dass er bisher von Julius gehört hatte.
2 Jahre Später
Max war jetzt 30, Julius 35. Die Wohnung in die Max gezogen war, war groß genug gewesen für 2 und er hatte ohne weiteres Julius bei sich aufgenommen, auch wenn der darauf bestanden hatte, das er mittlerweile ein eigenes Heim hatte. Seine Freunde waren anfangs etwas verwundert aber auch sie gewöhnten sich schnell an den Neuen und er wurde Teil ihrer kleinen Gemeinschaft. Allerdings trug Julius noch immer lange Sachen, egal wo er war, nur bei Max war er entspannter. Der hatte seinen ganzen Körper gesehen. Den vernarbten Rücken und die Brust die eine einzige Narbe zu sein schien. Es schien keine Stelle an diesem Körper zu geben, die nicht verletzt worden war und Max hatte jede einzelne Stelle liebkost und verwöhnt und sich eingeprägt, wie eine Landkarte seines zu Hauses.
Manchmal dachte er noch an diese 2 Jahre ohne Julius, als er dachte dass das alles nur Einbildung war und lächelte. Hätte ihm damals jemand gesagt, dass er eines Tages mit Mann und Hund in einer hübschen Wohnung, in der Neustadt leben würde und ein kleines Bilderbuch-Leben führen würde, er hätte denjenigen schallend ausgelacht. Aber irgendwie hatten sie es geschafft. Und noch immer saßen sie jede warme Nacht draußen, auf dem Balkon und tranken eine Flasche Wein. Der Glühwein war ihnen irgendwann nicht mehr bekommen, deshalb hatten sie sich auf einen halb-trockenen Rotwein geeinigt und genossen weiter das kühle Licht der Sterne und den hellen Schein des Mondes.