Fortsetzung von "Heimatlos"
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Tessa schüttelte den Kopf um ihn wieder etwas freier zu bekommen. Es war kurz vor Feierabend und sie konnte sich nicht mehr richtig konzentrieren. Sie saß mal wieder fest, an einem Freitag, in ihrem arsch-langweiligem Job, mit ihrem nervigen Chef und ihren unfähigen Kollegen und musste irgendwas bearbeiten. Meistens wusste sie selbst nicht mal so genau was sie gerade tat. Das war aber auch nicht weiter wichtig. Wichtig war, dass sie es scheinbar gut genug machte, um es nicht noch mal machen zu müssen.Ihre Kollegen um sie herum waren schon lange geistig im Feierabend und quatschten sie von allen Seiten zu, was sie am Wochenende vor hatte, ob es zur Familie ging und, und, und. Sie hörte gar nicht richtig hin. Um so eher sie diesen Papier-mist hier fertig hatte, um so eher konnte sie in den Feierabend. Und Feierabend hieß sie konnte sich aufs Bike schwingen und los fahren. Und das hieß... sie würde sie wieder sehen.
Der Gedanke an braune Augen motivierte sie wieder etwas und diesmal schaffte sie es, den Nebel in ihrem Kopf lange genug zu vertreiben um ihre Arbeit fertig zu machen. Sie speicherte schnell alles ab, druckte was gedruckt werden musste und noch bevor irgendjemand sie aufhalten konnte oder sie sogar zu diesem furchtbaren Team-Ausflug einladen konnte, den sie alle planten, war sie auf und davon. Sie schlich sich am Chefbüro vorbei, schob unauffällig ihre fertige Mappe auf den Tisch der Sekretärin und war weg bevor die ihr irgendwas dazu sagen konnte. Am ende bekam sie vielleicht noch mehr arbeit oder sie entdeckte einen Fehler der sofort korrigiert werden musste....
Dann war sie endlich in der Tiefgarage. Ganz hinten, hinter den dicken und schicken Autos der Chefs und der Angestellten und den Mittelklasse Wagen und Schrottkarren stand ihr Schatz. Rot glänzend, schlank, kraftvoll und zweirädig.
"Hallo Baby" begrüßte sie ihr Bike liebevoll, schob sich ihre Tasche auf den Rücken, zog die Lederjacke bis unters Kinn zu und setzte den Helm auf. Sie rollte gerade aus der Garage, als die ersten ihrer Kollegen diese betraten. Grüßend hob sie die behandschuhte Hand, gab Gas und... weg war sie.
Jetzt überließ sie sich dem Nebel in ihrem Kopf. Sie kannte den Weg von hier auswendig und ihr Körper reagierte automatisch auf alles was auf der Straße geschah. Sie dachte lieber an die braunen Augen, das sanfte Lächeln diese Haare... Gott, sie könnte die ganze Zeit mit ihren Fingern dadurch fahren...
Es war halb 5 als sie endlich ankam und ihr Bike genau vor dem Laden parkte. Wie immer war der Platz frei, wie extra für sie frei gehalten. Sie klemmte sich den Helm unter den Arm und ging rein.
Es war ein kleiner Starbucks, nicht viele Leute die hier arbeiteten, dafür sehr viele Kunden und mitten im Gewühl, wie üblich, stand Jamie. Das lange Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, ein Cappi auf dem Kopf, ein Lächeln im Gesicht, braune Augen und einer Schürze, in der sie einfach wie die Versuchung selbst aussah. Und wie immer fand sie Tessa sofort als sie den Laden betrat und ihr lächeln wuchs und Tessa vergaß einfach alles. Wie hatte sie nur solange ohne dieses Lächeln aushalten können?
Jamie winkte sie heran und sie schob sich so höflich sie konnte an den anderen Kunden vorbei zu ihr hin
"Hey" grüßte sie mit einem ebenso breiten Grinsen wie Jamie und die drückte ihr ihren Lieblingskaffee in die Hand. Jedenfalls hatte sie damals gesagt, das sei ihr Lieblingskaffee. Irgendwas mit Karamell und Schokolade und Sahne. Es schmeckte wirklich nicht schlecht aber damals war sie so von Jamie abgelenkt gewesen, dass es sie nicht weniger hätte interessieren können was für Kaffee sie trank.
"Danke" sie zwinkerte einer empört guckenden älteren Dame hinter sich zu und verzog sich in eine Sitzecke irgendwo am Rande des Cafés. Jamie musste noch gut eine halbe Stunde arbeiten und die Zeit nutzte sie gerne, um sie einfach zu beobachten. Zu sehen wie sie scheinbar mühelos hinterm Tresen herumwirbelte, die riesige Kaffeemaschine bediente und die Kunden bediente. Ihre Augen huschten immer wieder zu Tessa in die Ecke und die war sich dessen durchaus bewusst. Sie hatte die Lederjacke aufgezogen, den Helm und die Handschuhe neben sich auf die Bank gelegt und die Tasche dazu gestellt. Die kurzen Haare standen in alle Richtungen ab, wie vom Wind zerzaust und die blauen Augen konnten sich einfach nicht von der anderen Frau lösen, während sie ihren Karamell-Schoko-Irgendwas-Kaffee trank.
Trotzdem entging es ihr, wie Jamie sich nach hinten schlich und kurze Zeit später mit Rucksack und ohne Schürze und Cappi wieder hervor kam. Sie schreckte regelrecht zusammen, als sie auf einmal vor ihr stand und auf sie hinab lächelte.
"Ich bin soweit" verkündete sie vergnügt. Das lange Haar fiel ihr seiden glatt über die Schultern und in ihren Augen glitzerte es. Sie liebte es, wenn Tessa mit dem Motorrad kam.
"Na dann!" Diese stand auf, warf ihren Becher, den sie irgendwann ausgetrunken hatte, in den Müll und zog Jamie mit nach draußen.
Erst da, als keiner mehr so wirklich auf die beiden achtete und sie sich sicher sein konnte, dass sie nicht in Schwierigkeiten kommen würden, zog sie sie an der Hüfte zu sich ran und erlaubte sich, ihr einen kurzen aber innigen Kuss zu klauen. Sie konnte die Arme um ihren Nacken spüren und wie sich die schlanke Figur an sie schmiegte und musste sich förmlich losreisen, damit es nicht ausartete.
"Ich hab dich vermisst..." gestand sie leise, noch an den weichen Lippen der Anderen und konnte sehen wie sie wieder lächelte. Gott sie liebte das so sehr..
"Ich dich auch... dabei haben wir uns doch gestern erst gesehen"
Tessa löste sich ein paar Zentimeter mehr.
"Viel zu lange" schmunzelte sie und hielt Jamie dann den zweiten Helm hin. "Okay, aufsetzen Prinzessin, es geht los" bestimmte sie. Eine Sekunde länger und sie hätte sie wieder küssen müssen und dann wären sie vielleicht nie von hier weggekommen. Jamie schien ihre Gedanken erraten zu haben und setzte sich lachend den Helm auf. Tessa schwang sich auf das Motorrad und gleich darauf, konnte sie die 2 schlanken Arme spüren die sich um sie klammerten und wusste das Jamie bereit war. Die Maschine sprang mit einem Schnurren an und sie fedelten sich geschickt durch den Verkehr. Jetzt war Tessas Geist völlig auf die Aufgabe gerichtet, sie hier sicher durch zu bringen. Um sie selbst machte sie sich meistens wenig sorgen aber mit Jamie hinten drauf, war sie sehr viel aufmerksamer. Trotzdem, oder gerade deswegen, dauerte es nicht lange bis sie die Stadt hinter sich gelassen hatten und auf dem Hügel standen, auf dem Tessa vor wenigen Wochen selbst gestanden hatte, als Jamie sie zum Kino einlud. Sie hielt an und drehte den Kopf leicht.
"Festhalten!" rief sie und die Arme klammerten sich gleich ein wenig fester an sie. Dann ließ sie die Maschine einmal laut aufheulen, die Räder drehten durch und sie schossen vorwärts. Natürlich nur in einem Tempo in dem sie noch alles im Griff hatte, und dennoch schneller als sie je mit Jamie gefahren war. Sehr viel Schneller. Hinter sich hörte sie sie laut lachen. Selbst durch 2 Helme gedämpft, konnte sie hören wie sie vor Freude schrie und lachte und das gab ihr nur noch mehr Mut.
Sie flogen fast, so schnell fuhren sie. Der Fahrtwind rauschte an ihnen vorbei, zerrte an ihren Sachen und spielte mit Jamies langen Haaren, die hinter ihnen her wehten wie eine Flagge. Tessa spürte das Blut in ihren Ohren rauschen, das Adrenalin in ihren Adern und hörte ihr Herz wie wild pumpen. Ob wegen der Geschwindigkeit oder wegen Jamie oder wegen allem zusammen wusste sie nicht, war ihr auch egal.
Erst als die Stadt ganz ganz weit hinter ihnen war und die Sonne schon tief stand wurde sie langsamer. Irgendwann, mitten im Nirgendwo hielt sie schließlich an. Sie kannte die Stelle gut, sie hatte hier oft übernachtet. Hinter ihr stieg Jamie mit leicht zitternden Beinen ab und Tessa folgte ihr, viel ruhiger als ihre Begleiterin, wenigstens nach außen hin. Als sie die Helme abnahmen, konnte sie das breite Grinsen auf dem Gesicht der Anderen sehen und noch bevor sie irgendwas sagen konnte, fiel die ihr um den Hals.
"Das! Das war unglaublich!" rief sie lachend und wirbelte einige Male mit ihr herum. Scheinbar hatten sie beide gerade einen ordentlichen Adrenalinrausch.
"Ich weiß!" grinste Tessa nur und ließ sich herumwirbeln, bis sie beide lachend und keuchend zum Stehen kamen und sie sich erstmal gegen einen Baum lehnen musste. Der kleine Wald um sie herum bot genügend Schutz vor den schlimmsten Unwettern und wenn man ein bisschen tiefer rein ging und einem Trampelpfad folgte, kam man zu einer kleinen Lichtung auf der man wunderbar übernachten und die Sterne beobachten konnte.
"Komm... es wird bald dunkel, wir sollten den letzten Rest gehen" sagte sie deshalb nach einer Weile sanft, um Jamie nicht zu sehr aus ihrer Freude zu reißen. Doch die ließ sich gar nicht beirren, schnappte sich ihren Rucksack und Tessas Umhängetasche und überließ es der Anderen das schwere Motorrad den Trampelpfad entlang zu schieben. Belustigt mit dem Kopf schüttelnd folgte sie den langen Haaren und schob das Motorrad neben sich her, bis sie an der Lichtung ankamen.
Irgendwie hatte Jamie ein kleines Zelt aus ihrem Rucksack gezaubert und Tessa hatte eine Thermosflasche und Snacks dabei. Natürlich hatte Jamie auch die Schlafsäcke dabei und ihr kleines Nachtlager war in Windeseile aufgebaut. Jetzt saßen sie im Gras und schauten in die Sterne, deuteten hin und wieder auf eine unbestimmte Stelle und riefen den Namen von irgendeinem Sternbild. Die Hälfte davon existierte gar nicht und die andere Hälfte war nicht mal zu sehen aber das interessierte sie herzlich wenig. Jamie lag in Tessas Armen als sie in dieser Nacht einschliefen und das war alles was zählte.
Als sie am nächsten Morgen aufwachten, geweckt vom Vogelgezwitscher und den leisen Geräuschen des Waldes, lag ein feiner weißer Nebel über der Lichtung und Tessa und Jamie tranken Tee aus der Thermoskanne und sahen schweigend und glücklich den Nebelschwaden dabei zu, wie sie lautlos ihres Weges zogen. Diesmal musste Tessa nicht den Kopf schütteln um den Nebel zu vertreiben. Sie genoss ihn und sie genoss Jamie neben sich.