Die Straße vor ihr erstreckte sich scheinbar endlos. Die Stadt hinter ihr war riesig und laut. Sie drehte sich noch ein letztes Mal um, sah auf die riesigen Häuser aus Glas und Stahl, die Schluchten die zwischen ihnen klafften und das Gewirr aus asphaltierten, schwarzen Straßen und bunten Menschen. Dann nahm sie ihren Helm, setzte ihn sich auf und klappte das Visier runter. Ihre Maschine sprang an und als sie Gas gab, schien die Straße unter ihr nur so dahin zu fliegen. Sie wusste noch nicht wohin es ging, sie wusste noch nicht wie lange es dauern würde und ob sie je wieder kehren würde, aber sie wusste eines: Diese Stadt, war nicht mehr ihre Heimat. Zu viel war geschehen, zu viel wurde gesagt und jetzt war sie fremd. Heimatlos. Eine umherreisende ohne Ziel.
Jedenfalls bis ihr Handy zum gefühlten hundertsten Mal klingelte. Genervt hielt sie an und musste erst den Helm abnehmen um ran zu gehen. Sie hatte keines dieser schicken Bluetooth-Geräte, mit denen sie auch unterwegs telefonieren konnte. Normalerweise rief sie auch niemand an. Sie war eher der SMS-Mensch.
"Was ist?" fragte sie genervt. Sie hatte sich gerade an das neue Gefühl von Freiheit gewöhnt, dass sie sich fürs das Wochenende erkauft hatte.
"Uhm... ähm... ich bin's Jamie." sofort wurde ihre Stimme sanfter und ihre Laune hob sich. Sie hatte Jamie erst vor ein paar Tagen kennen gelernt und hatte sich, wenn sie ehrlich war, Hals über Kopf in sie verguckt.
"Jamie" sagte sie und man hörte das Lächeln in ihrer Stimme. "Tut mir Leid, ich dachte du wärst jemand anderes. Was gibt es denn?" sie unterdrückte den Drang sie 'Süße' zu nennen. Soweit waren sie definitiv noch nicht.
"Alles okay... ich wollte wissen... naja... hast du dieses Wochenende vielleicht was vor? Ich mein... da kommt ein Film im Kino und ich dachte den... uhm..." Sie hätte am liebsten einen Freudentanz gemacht. Mit einem Motorrad zwischen den Beinen war das allerdings etwas schwer. Und dann war Jamie auch noch so knuffig verlegen! Fast hätte sie geschrien, so süß war das!
"Ich würde liebend gern ein Film mit dir gucken gehen Jamie" sagte sie deshalb sanft. Ihr Blick folgte der Straße vor ihr und als sie den Kopf nach hinten drehte, konnte sie am Horizont immer noch das leichte Glitzern der Hochhäuser erkennen. Die neue Freiheit musste wohl noch warten.
"Wann soll ich da sein?"
"Kannst du so in einer Stunde hier sein? Dann schaffen wir es noch ganz bequem zum Film"
Sie lächelte noch breiter "Na klar, das schaff ich mit links... dann.. sehen wir uns in einer Stunde" versprach sie.
"Bis in einer Stunde" Jamie klang jetzt selbst ziemlich aufgeregt und sie lächelte als beide auflegten. Sie drehte ihre Maschine herum, steckte das Handy ein und setzte den Helm wieder auf.
Manchmal, wenn sie von allem genug hatte, wenn der Stress zu viel wurde und sie am liebsten jeden und alles anschreien würde, tat sie so, als wär sie eine einsame Heldin, ohne Ziel auf Wanderschaft, ohne Heimat, ohne Verpflichtungen. Dann fuhr sie raus zu dieser Straße und gab einfach Gas bis ihre Gedanken wieder freier waren. Manchmal hielt sie unterwegs an den Tankstellen oder blieb über Nacht draußen und schlief irgendwo in einem Schlafsack. Die Nächste waren ja zum Glück warm genug. Sie mochte dieses Gefühl. Sie war ungebunden niemandem Rechenschaft schuldig und Frei.
Vor ein paar Tagen dann trat Jamie in ihr Leben und sie hatte entdeckt, das ein Blick in diese tiefen braunen Augen, den gleichen Effekt hatten, wie 2 Tage draußen in der Walachei mit nicht als der Straße und ihrem Bike. Und sie konnte so bei ihr bleiben und sich einfach mal entspannen. Sie würde Jamie immer jeder einsamen Tour vorziehen, dass wusste sie jetzt schon.
Plötzlich war dieses Gefühl der Heimatlosigkeit nicht mehr ganz so verlockend für sie wie noch vor ein paar Sekunden.
Als sie wieder auf die Stadt zu hielt, dachte sie an Jamie, an ihre braunen Augen und ihr kleines Lächeln und spürte die Schmetterlinge in ihrem Bauch.