Rating: P16 für psychologischen Horror mit einem Hauch Blut
Datum: etwa 1742 nach Bernstein
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Jedes Mal, wenn ich jenen verfluchten Hain verließ, stand das Monstrum am Waldrand und rief mich mit einer Stimme, die wie meine eigene klang.
Windigo war im Herbst aufgetaucht, als die Regenzeit zu einer schönen Erinnerung verblasste und die Dürre der Wüsten hinauf in unser Gebirge zog. Es waren die Aramat im Westen der großen al Taskmadhia, wo wir unser Heim nahe den kühlenden Wolken errichtet hatten, und in Reichweite einer Tagesreise erhob sich ein Wald auf den steilen Hängen, dessen Schutz allerlei Getier suchte, da auf den offenen, kargen Wiesen Raubtiere lauerten. In jenem Wald ging ich oft auf die Jagd, er war es, von dem wir uns ernährten. Dem Boden war kein Leben abzutrotzen, alles Essbare in diesem Gebiet wuchs im Schutze der Bäume, deren schattiges Heim ich ebenso gut kannte wie die Holzhütte, die mit meiner eigenen Hände Arbeit entstanden war. Auch Händler kamen nur selten vorbei, manche Jahre gar nicht, und so lebten wir fern der Bequemlichkeit, aber auch fern allen Ärgers – bis zu jenem Tag, da Windigos Schritte ihn zu uns führten.
Eines Tages im Herbst nun, auf der Jagd, hörte ich Zweige brechen. Zu laut war das Krachen für eines der Bakaris, die ich hier oben jagte, und so erblickte ich ihn zum ersten Mal: Eine schwerfällige, baumhohe Gestalt auf zwei Beinen, mit zottigem, schwarzem Fell bedeckt, trat aus dem Gebüsch und auf eine nur von wenigen, großen Bäumen bestandene Lichtung, kaum einen Bogenschuss von mir. Seine Füße hatten spitze Fersen und endeten in einem einzigen Ballen und sein Geweih ragte noch über die Wipfel der Steineichen und Zedern, so zog er durch den friedlichen Wald wie ein Albtraum aus einer anderen Welt.
Er drehte den Kopf und sah in die Richtung, in der ich stand, jedoch glaube ich, dass er mich gar nicht wahrnahm. Unter dem Schatten der Baumkronen leuchteten seine Augen auf, zwei blutunterlaufen, vollmondgelbe Scheiben in einem Gesicht wie der Schädelknochen eines Hirsches. Mir stockte der Atem und der Bogen fiel aus meinen Fingern, so heftig ergriff ein kaltes Grauen von mir Besitz. Wie vom Donner gerührt von dem Blick dieses Untiers konnte ich mich erst regen, als er lange aus meinem Sichtfeld entschwunden war, und da drehte ich mich um und rannte den ganzen Weg bis zu der Hütte auf der Au zwischen zwei aufragenden Hängen. Zitternd und totenblass kehrte ich heim, wo meine Frau mich sorgenvoll fragte, was ich gesehen hatte. Flüsternd, wie um einen Schlafenden nicht zu wecken, berichtete ich ihr von dem Monster. Sie sagte kein Wort, doch nach meinem Bericht ging sie zu den Kindern und verbat ihnen, im Wald zu spielen.
⁂
Drei Tage später konnte ich es nicht länger hinauszögern und ich musste hinaus. Zugegeben, zu jenem Zeitpunkt erschien mir die Begegnung mit Windigo nicht länger so dramatisch wie in jenem unmittelbaren Augenblick. Auch hatte ich mir erfolgreich eingeredet, dass das schreckliche Wesen vorbeigezogen und längst hinter den Bergen entschwunden war. So ging ich guter Dinge mit Pfeil und neuem Bogen, um einen Braten zu erlegen, der die letzte Spur dieses Schreckens aus Herz und Geist spülen würde – ein Festmahl sollte es werden, und so suchte ich außer nach Fleisch auch nach Beeren und Pilzen. Zu diesem Zwecke baumelte ein Beutel über meiner Schulter, den ich zu füllen gedachte, damit wir eine köstliche Beilage zu unserem Braten haben würden.
Doch kaum unter den Bäumen angekommen, erfasste mich eine seltsame, erdrückende Stimmung und meine Hoffnungen verflogen. Die dichten Kronen schlossen das Licht aus, nur wenige Strahlen trafen den Waldboden und wurden verschluckt von dunkelbraunem Laub. Ich weiß noch, wie ich mich wunderte, dass ich keinen einzigen jungen Spross erblickte. Ich fand weder Pilz noch Beere, obwohl sie zu dieser Jahreszeit in Massen wachsen sollten.
Auch war es totenstill. Kein Lufthauch regte die Blätter und kein Tier kreuzte meinen Weg, sodass ich tiefer und tiefer in das Dickicht drang, weitab von den Pfaden, die ich üblicherweise nahm. Die Luft wurde schwül und schwer, als würde eine Schlinge sich um meinen Hals legen und mir den Atem nehmen. Ich dachte bereits daran, dass ich bald würde umkehren müssen – denn der Weg zurück wäre sonst zu weit, um eine erlegte Beute zu tragen –, da traf ich auf eine Senke und in ihrer Mitte erblickte ich vom Rand aus ein totes Bakari.
Nun bin ich kein Narr und ich weiß um die Gefahr der Qutrubs und Pumas, doch mich trieb die Not. Die Beute konnte ich unmöglich liegen lassen, selbst wenn sich in der Nähe ein Raubtier herumtrieb. Es dämmerte bereits, doch ich verharrte am Rand der Senke und betrachtete das tote Tier lange Zeit aufmerksam, um eine Gefahr zu entdecken. Es schien aber nicht gerissen worden zu sein, sondern an natürlichen Ursachen verendet, und ich sah auch keine Spuren, dass ein Fleischfresser die Beute für sich beansprucht hatte. So beschloss ich endlich, hinunterzuklettern.
Es war nicht das Festmahl, das ich erhofft hatte, doch ich war längst bereit, zu nehmen, was immer dieser Wald nur hergeben mochte. Immerhin würde das kleine Tier reichen, um uns zu ernähren, wie ein guter Rehrücken im Hause meiner Jugend in der alten Welt. So stieg ich, als ich mich sicher fühlte, hinunter und trat an den Leichnam heran. Ich war froh, ein unversehrtes Tier vor mir zu sehen, wenngleich ich mich sorgte, dass es vielleicht einem Gift erlegen sein könnte. Doch noch bevor ich es weiter untersuchen konnte, hörte ich Schritte nahen.
Oh, wie mich das Grauen packte! Noch Tage später schreckte ich aus dem Schlaf auf und sah die großen, blassen, blutunterlaufenen Augen vor mir wie in jenem Moment.
Windigo kam auf mich zu. Ein Schwall faulen Odems aus seinem Schlund schlug mir entgegen und ich sah die Blätter auf der Lichtung sich verfärben. Ich drehte mich um und floh, so schnell ich nur konnte, den Hang hinauf. Angst benebelte meine Sinne, sodass ich kaum mehr sah als den Pfad zu meinen Füßen. Den ganzen Weg zurück hörte ich seinen schweren Tritt hinter mir, langsam, jedoch unermüdlich. Keine Pause zum Atmen blieb mir, während ich Steigen überkletterte, die für ihn ein Schritt waren. Ich gestehe, dass ich schrie, weinte und flehte, er möge von mir lassen, so schrecklich packte mich das Grauen, und dieses Flehen muss es gewesen sein, das ihm wenig später neue Möglichkeiten gab, mich zu foltern. Ich wusste aber nicht, was ich tat, und bettelte wie von Sinnen um mein Leben. Doch er war unbarmherzig und hielt nicht einen Herzschlag an. Wann immer ich mich umdrehte, war er ein weiteres Stück näher gekommen.
Am Ende meiner Kräfte erreichte ich den Waldrand und fühlte, wenn diese Hatz noch weiter ginge, so würde er mich kriegen. Doch Windigo hielt am Waldrand an. Ich hörte seine Schritte verstummen und wandte mich um, ohne Verständnis, warum er diese leichte Beute entkommen ließ.
Seine blassen, großen, runden Augen sahen auf mich herab und die Zedern seufzten. Da erhob er eine Stimme und ein Schauer stieg kriechend meinen Rücken herauf. Denn es war meine Stimme, die Worte formte, welche ich ihm in Todesangst zugerufen oder gar nicht ausgesprochen hatte, und er verdrehte sie zu einem schrecklichen, widernatürlichen Singsang.
„Nein, geh nicht! Bleib hier, bleibe doch … Komm her, komm …“
So lockte er mich zarten Tones. Ich schrie und presste die Hände auf die Ohren, wusste ich doch aus den Erzählungen dieses wilden Landes, wie zauberkräftig dieses Wesen war und wie mächtig der Fluch, mit dem er jedes Wesen unter seinen Bann ziehen konnte. Keinen Schritt konnte ich tun, weder vor und zurück, für eine lange Weile. Wir standen einander gegenüber, Windigo und ich, sein Kopf über den Kronen der letzten Bäume und ich allein auf dem freien Feld der Auen kauernd.
Endlich setzten sich meine Füße stolpernd in Bewegung und trugen mich heim. Windigo und seine Rufe verhallten hinter mir, doch es blieb die Furcht, dass sein schrecklicher Zauber mich bereits zu packen bekommen hatte.
Ich weiß, dass ich meiner Familie einen furchtbaren Schrecken einjagte, wie ich aus dem Dunkel der Nacht kam, viel zu spät und so bleich, als wäre der Tod persönlich mir gegenübergetreten. Erst am nächsten Tage konnte ich ihnen berichten, was geschehen war, und ich muss ihnen in jener Nacht eine ungehörige Menge Sorgen bereitet haben, nachdem sie Stunden auf mich warteten und ich in solch erbarmungswürdigem Zustand zu ihnen kam. Wir sprachen die wenigen Zauber, die wir kannten, zu unserem Schutze und hofften, dass sie wirken mögen.
⁂
Nun wussten wir also, dass Windigo bleiben würde. Dieses schreckliche Wesen hatte sich in unserem Wald eingenistet und würde nicht gehen, bis entweder es oder der Hain zugrundegegangen war.
Wir aber lebten von dem Wald, von seinen Pflanzen und dem Wild. Und so kam es dann auch, dass ich wieder und wieder hinein musste, auf der Suche nach Nahrung. Jedes Mal fand Windigo mich, und jedes Mal ein wenig schneller. Manchmal hatte ich Glück und konnte ihm mit einem geschlagenen Bakari entkommen, doch oft genug fand ich kein Tier und auch keine essbare Pflanze. Und so zog ich bald täglich los und täglich fand Windigo mich schneller und schneller. Egal, welche Umwege ich nahm, wie leise oder rasch ich lief, ob ich Zauber sprach, um mich zu schützen, oder ob ich mich von einer ganz anderen Seite näherte.
Immer fand er mich und jedes Mal trieb er mich hinaus. Ich floh gehetzt wie ein Fuchs vor dem Jäger, täglich schwächer vom Hunger, und er folgte mir auf jene langsame, geduldige, schreckliche Weise, mehr wie eine Naturkatastrophe als ein Lebewesen. Doch jedes Mal hielt er am Waldrand an und rief mir nach, ich solle zurückkommen. Selbst im Traum hörte ich seine lockende Stimme oft, und sah vor mir diese blassen, großen, blutunterlaufenen Augen; ich roch gar seinen faulen Atem! Ich fand viele Nächte keinen Schlaf und war auch tagsüber ein Gespenst meiner selbst, das vor jedem Schatten und jedem lauten Geräusch zusammenzuckte, furchtsam und verloren. Meine Gesundheit schwand rapide dahin, bis ich nur zwischen der Jagd und meinem Bette lebte, ständig erschöpft und doch zu ängstlich, um zu schlafen. Ruhe konnte ich keine finden, denn ohne Nahrung wäre bald alles zu Ende. Meine Frau tat, was sie konnte, und tatsächlich verdanke ich es allein ihrer Liebe, dass ich diese grausigen Wochen überstand und jeden Tag erneut den Mut fand, mich dem Wald und Windigo zu stellen, und an der Zuversicht festhielt, dass des Monsters Zauber keine Macht über meinen Geist gewinnen, noch mich zu einem seiner Art werden lassen konnte.
Fast hätte ich mich an ihn gewöhnen können. An unser schreckliches Spiel der Jagd, an Flucht und Suche. Doch die Wochen zogen ins Land und ich konnte keine Beute schlagen. Ich ging so weit, die Berghänge abzusuchen, doch hier gab es wenig Leben und jedes Getier erblickte mich von weitem und floh. Ich sah, wie der Hunger an meiner Frau und meinen Kindern zehrte. Des Nachts weinten die Jüngsten. Keine Ruhe fand ich und in meinem Herzen wuchs der Zorn auf dieses Monster, staute sich dort an, bis er herausbrechen musste, wie es an jenem schicksalhaften Tag letzten Endes geschah.
⁂
Als ich diesmal in den Wald kam, wollte er mich offenbar spotten, denn auf einer Lichtung fand ich, wie drapiert, ein sterbendes Bakari, dem das Blut noch aus dem tiefen Schnitt in der Kehle sprudelte. Ich wusste, dies könnte die Rettung für meine Familie sein, und eilte darauf zu. Da sprang Windigo aus dem Gebüsch und sein Gebrüll donnerte in meinen Ohren.
Aber ich zeigte keine Furcht vor ihm. „Verschwinde, du Monster!“, brüllte ich ihn an. „Das ist mein Fleisch, du kannst es nicht haben!“
Er sah mich an, mit diesen gelben, runden, blutunterschatteten Augen, und kam auf mich zu. Zwischen uns stieß das sterbende Tier röchelnde Schreie aus. Ich rannte auf das Fleisch zu, doch kurz, bevor ich es erreichte, riss er das Bakari an sich und schlang es im Ganzen herunter durch seinen grässlichen Schlund.
Das war zu viel nach alle den Wochen der Entbehrung. Ich brüllte vor Wut, riss den Bogen hoch und feuerte einen Schuss direkt in sein Auge. Tobend warf das Untier sich herum. Sein schrecklicher Schrei ließ Rinden splittern, warf mich zur Erde und in eine tiefe Ohnmacht.
Als ich erwachte, war es Nacht. Über mir sah ich Sterne, denn die Bäume im Umkreis waren umgeworfen. Windigo hatte in seinem Toben unzählige alte Stämme entwurzelt, doch ich war wie durch ein Wunder unversehrt geblieben. Das Monster selbst war nicht zu sehen, doch erblickte ich im Schein der Monde seine Spur, die tiefer in den Wald führte.
Müde und entkräftet humpelte ich zu meinem Haus zwischen den aufragenden Gipfeln. An diesem Tage lockte mich keine Stimme vom Waldrand, still lagen Hain und Berge unter dem Himmelszelt. Ich erreichte unsere Hütte, es muss auf Mitternacht zugegangen sein.
Kein Licht brannte. Wohl waren Frau und Kinder schlafen gegangen, ohne zu wissen, ob ich zurückkehren würde. Ich öffnete die Tür und wollte sie wecken, um ihre Sorgen zu lindern.
„Ich bin es“, sagte ich, doch keine Antwort kam mir aus der Düsternis.
Ich tat einen Schritt in die Stube, da traf mein Fuß mit Schmatzen auf eine Pfütze. Ich sah hinab und erstarrte, denn eine Flüssigkeit bedeckte den Boden mit feiner Schicht. In der Stille hörte ich ein Tropfen.
Meine Augen gewöhnten sich an die Finsternis, nur erhellt von den blassen Monden, die durch die Türöffnung schienen, und ich erblickte Frau und Kinder, hingeschlachtet auf der Erde und zerfetzt. Ich erstarrte, nur mein Blick vermochte, weiterzuwandern. Da sah ich den Ursprung des Tropfens, denn es war Blut, das hinuntertropfte, hinunter von einem schrecklichen Kiefer.
Aus der Hütte funkelten mich zwei Augen an, blutunterlaufen, blass und gelb wie sterbende Gestirne, und ich vernahm eine Stimme, die klang wie die meine.
„Komm … komm …“