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Datum: 1721 nach Bernstein
Zum Prompt „Gartenhummel“ der Gruppe „Crikey!“
Basiert auf den Expeditionen von John Frémont:
https://de.wikipedia.org/wiki/John_C._Fr%C3%A9mont
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"Nicht so schnell, Caspian!" Thimeric keuchte schwer.
"Ich gehe nicht schnell", brummte Caspian nach hinten.
"Du gehst viel zu schnell!"
Grimmig blieb Caspian stehen und sah zurück. Er hatte im Grunde nur etwas Abstand haben wollen. Eigentlich mochte er Thimeric, sogar sehr. Er liebte es, mit ihm durch Wajbaqwinat zu reisen. Doch das hier, dieser Aufstieg, war nicht gerade die sinnvolle Erschließung der Nandi, die er sich erhofft hatte.
Thimeric hatte es sich in den Kopf gesetzt, den höchsten Gipfel der Bergkette zu ersteigen. Der aus Celyvar stammende Vermesser hatte einen Blick auf den Berg geworfen und gesagt: "Ich muss da rauf!"
Das war ja noch ganz in Ordnung. Sie würden die Höhe des Berges vermessen können, sicherlich ein guter Beitrag zur Erschließung des Wüstenkontinents. Aber Thrakk hatte den Verdacht geäußert, dass Thimeric das nur tat, um später damit prahlen zu können, auf dem höchsten Gipfel gestanden zu haben - und nicht für die Wissenschaft.
Und außerdem hatte die verdammte Kanone mitgemusst.
Die Männer, die sich dem Vermessungskorps angeschlossen hatten, keuchten mit der schweren, bronzenen Kanone bergauf, über die steile, unwegsame Bergflanke. Das Ding brauchte auf ebenem Gelände schon vier Maultiere, die es zogen, hier oben war es nur umso schlimmer. Die Maultiere hatten sie bereits weiter unten zurücklassen müssen.
In dieser Hinsicht hatte Thimeric aber nicht mit sich reden lassen. Die Kanone musste mit. Vielleicht erhoffte er sich ein gutes Motiv, wenn er mit der Waffe oben auf dem Gipfel stehen würde, in der einen Hand die Flagge der vereinten Nationen von Wajbaq, stolz posierend wie der Held, als der er sich sah.
Für gewöhnlich konnte Caspian seinem Freund diese Marotten verzeihen. Heute nicht.
"Du kannst ja auch nicht den schnellsten Mann als Führer vorschicken!", grollte Thrakk, dem es offenbar ähnlich ging. Die Laune des Zwergs war auf einem Tiefpunkt. "Das habe ich dir schon so oft gesagt, Thimeric!"
"Wisst ihr was?" Gereizt warf ihr junger Expeditionsleiter die Arme hoch. "Dann gehen wir halt wieder!"
Er drehte auf dem Absatz um und marschierte über das Ockergestein hinab.
Die Soldaten an der Kanone sahen ihrem Anführer ratlos nach.
"Ihr habt ihn gehört", meinte Caspian seufzend. "Und wieder runter."
⁂
Doch Thimeric war noch nicht bereit, seinen Traum aufzugeben. Thrakk glaubte, nicht recht zu hören, als er am nächsten Morgen aufstand.
"Er ist bereits losgezogen. Mit Caspian und zwölf Mann für die Kanone", wiederholte der junge Soldat.
"Und die sind alle einfach mitgegangen?" Eilig streifte sich Thrakk die schweren Stiefel über. Dieser verdammte Bengel!
"Na ja ... die meisten wären lieber hier geblieben, aber Thimeric hat ihnen keine Wahl gelassen."
Dieser verdammte Bengel!
Atemlos hetzte er den Berg hinauf. Es war noch früh, aber bereits drückend heiß. Die Männer mit der Kanone würden sich noch zu Tode schleppen!
Grimmig, teilweise nur von seiner Wut angetrieben, kämpfte sich Thrakk weiter herauf. Außerdem hätte Thimeric ihm Bescheidgeben müssen. Der Bursche war doch längst kein Vermesser mehr! Nein, diese langweilige Arbeit überließ er mit Freude Thrakk. Aber der Halbork war sich sicher, wer im Osten den Lohn für diese Arbeit einfahren würde.
Thimeric. Natürlich.
Die Ader an seiner Schläfe pochte. Er könnte diesem Bürschchen den Hals umdrehen. Und er würde es tun, wenn man ihn nur ließe!
Er hob den Blick, als er sah, dass ihm jemand entgegen kam. Es war ein junger Soldat.
"Wie weit ist Thimeric voraus?"
"Er kommt wieder nach unten", antwortete der Soldat. "Hat Kopfschmerzen."
Kopfschmerzen? Thrakk musste ein Stöhnen unterdrücken. Kopfschmerzen?!
"Wir können hier auf ihn warten", bot der junge Soldat an.
Thrakk nickte geistesabwesend und holte sein Gerät hervor. Achtsam erfasste er die Landschaft, stellte die Rädchen ein und berechnete dann. Sie waren etwa 300 Meter unterhalb der Bergspitze und er konnte ein paar wertvolle Daten über den Verlauf der Bergkette sammeln.
Schließlich, nach fast zwei Stunden, brach er mit dem jungen Soldaten auf. Wie sich herausstellte, hatte Thimeric einen anderen Weg nach unten genommen.
"Und? Wie hoch ist der Berg? Wenn wir fünf-, sechshundert Meter draufrechnen, müssten wir die Spitze haben!"
"Nicht wirklich", brummte Thrakk. Selbst Caspian rollte mit den Augen.
⁂
Er würde nicht aufgeben. Als Wegefinder war er bereits berühmt, doch nun wollte Thimeric auch noch Gipfelstürmer werden. Und danach ... das würde sich zeigen.
In aller Frühe brach er wieder auf. Diesmal hatten sie jedoch gut gefrühstückt, worauf Thrakk grummelig bestanden hatte. Der Halbork war vermutlich die letzten Tage einfach hungrig gewesen.
Frohen Mutes, die Kanone wieder im Schlepptau, stiegen sie hinauf. Diesmal war sich Thimeric sicher, dass es gelingen musste.
Und es gelang. Stolz posierte er auf dem höchsten Gipfel des Berges.
"Das wird der Thimeric-Gipfel!", verkündete er laut, während er neben der Kanone stand, in der einen Hand die Flagge der vereinten Nationen von Wajbaq. "Damit soll mein erstes Buch enden. Ach, ich kann es schon vor mir sehen!"
Thrakk und Caspian saßen etwas weiter unten, neben ihnen die erschöpften Soldaten. Der Zeichner fertigte gewissenhaft eine erste Skizze an.
"Seht mal!", murmelte einer der Soldaten plötzlich und deutete auf einen Punkt in der Luft.
Dieser Punkt flog näher und setzte sich auf das Knie eines der Sitzenden. Es war eine Hummel.
"Was machst du denn hier?", fragte der Soldat das Insekt zärtlich. "Bist du so hoch geflogen?"
"Hier war vor ihr sicherlich noch keine Hummel", warf ein anderer ein und lachte dann. "Sie ist ein Hummel-Pionier."
Gespannt beobachteten die jungen Soldaten, wie sich das flauschige Insekt eine Weile ausruhte, ehe es sich erhob und weiterflog, scheinbar unberührt von ihren erdvölkischen Kollegen, hinein in eine unerforschte Welt. Der Abend senkte sich über das Land.
"Wir sollten es ihr gleichtun!", verkündete Thimeric. Der Zeichner war ohnehin fertig. "An die Kanone, Männer! Wir ziehen wieder nach unten."
Keiner der Soldaten rührte sich.
"Ich sagte ..."
"Wir kriegen die Kanone nicht wieder nach unten."
Thimeric schnappte nach Luft. "Was?" So viele Meilen hatte die Waffe sie treu begleitet. "Ihr wollt sie einfach zurücklassen?"
"Es geht nicht anders", brummte Caspian. "Der Berg ist zu steil. Sie würde nur abrutschen und wir mit ihr. Wenn wir es noch vor der Dunkelheit schaffen wollen, müssen wir ohne sie los."
"Aber wie holen sie morgen doch wieder, oder?", fragte Thimeric. Er sah in die Runde. "Oder?"
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Die Informationen über Frémont entstammen dem Time-Life-Buch "Die Wegbereiter" von Bil Gilbert aus der Reihe über den Wilden Westen.
Frémont brach 1842 mit Kit Carson als Führer und dem mürrischen Techniker Charles Preuss auf, um einen Weg über die Rocky Mountains in den Westen zu vermessen. Dabei führten sowohl Frémont als auch Preuss Tagebücher, die sich im Tonfall und in der Meinung für den jeweils anderen stark unterschieden. Während Frémont den Westen später in allzu illusorischen Farben beschrieb und dadurch die Einwanderungswelle auslöste (was durchaus die Absicht dieser Expedition gewesen sein mag), bildet Preuss' Bericht vermutlich ein realistischeres Bild der Lage.
So erstieg Frémont einen Gipfel, den er für den höchsten der Rocky Mountains hielt, obwohl es knapp 60 höhere Gipfel in der näheren Umgebung gab. Eine Kanone ließ er ebenfalls mitnehmen, allerdings erst 1844 auf einer zweiten Expedition, die eine Eisenbahnstrecke durch die Rocky Mountains erschließen sollte. Auch so brachte er seine Gruppe immer wieder mit waghalsigen Abenteuern in Gefahr, die nicht immer glimpflich ausgingen.
Die Hummel ist übrigens wirklich auf dem Gipfel aufgetaucht und diese Szene - die menschlichen Pioniere und die Hummel-Pionierin auf den Rocky Mountains - war das große Finale von Frémonts erstem Roman über seine Abenteuer als Leiter des Vermessungskorps.