Rating: P12 [CN: Rassismus und Separation]
Datum: etwa 1740 nach Bernstein
Nach dem Prompt „Kornnatter/Versuchstier“ der Gruppe „Crikey!“
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Pheti nahm es nicht gut auf, als sie das Dorf verlassen mussten. Ka drückte die Hand ihres kleinen Bruders, nachdem sie sich von ihren Eltern verabschiedet hatten, und versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen.
"Du darfst nicht weinen", flüsterte sie. "Du musst jetzt stark sein."
Immerhin hörte Pheti auf, zu schluchzen. Doch noch immer rannen Tränen über seine Wange, nun eben stumm.
Sie stiegen in die Kutsche der Fremdlinge. Eine der reich gekleideten Frauen, die von irgendeinem fernen Kontinent hierher gekommen waren, beugte sich vor und reichte Pheti eine kleine, bunte Süßigkeit. Er schüttelte den Kopf.
"Nimm sie an", flüsterte Ka. "Du darfst die Fremdlinge nicht wütend machen."
Also streckte der kleine Junge die Hand aus und nahm das harte Stück Essen in Empfang. Er steckte es in den Mund und lutschte. Sie konnte hören, wie das Ding gegen seine Zähne stieß.
Ka erhielt eine Puppe aus Schilf und Stoff. Sie stellte eine grünhäutige, grünhaarige Elfe dar, so wie die meisten Fremdlinge aussahen. Ka lächelte artig und drückte weiterhin die Hand ihres Bruders.
⁂
Sie kamen in einer der neuen Städte, wo sich überall die weißen Gebäude der Siedler erhoben, keine Lehmhäuser wie in Kas Heimat. Hier trafen sie andere Kinder, keines älter als zwölf, die genau wie sie aus den Reservaten geholt worden waren.
Sie blieben einige Tage. Die Kinder schliefen in zwei großen Sälen. Ka musste Pheti zu den Jungen gehen lassen, aber er weinte und sie bat die Aufseher, dass er bei ihr bleiben konnte.
"Er ist noch so klein. Er braucht mich."
Der Elf, einer der Ritter, die hier die Gesetze machten, nickte. "In Ordnung. Aber du kriegst heute kein Abendessen - du hast Indianisch gesprochen."
Ka akzeptierte die Strafe mit einem Nicken. Die Fremdlinge hatten ihnen gesagt, dass sie kein Assai Sawhet sprechen durften. Da es hier auch Kinder aus anderen Stämmen gab, war es sowieso am leichtesten, die Gemeinsprache der Fremdlinge zu benutzen. Oder die Zeichensprache, die jeder auf dem Kontinent kannte, wenn die Aufseher nicht hinsahen.
Sie hatte es vergessen. Aber das spielte keine Rolle. Wichtiger war, dass ihr kleiner Bruder mit in ihrem Bett schlafen durfte.
In der Stadt wurden sie auch umgezogen. Zunächst öffneten die Fremdlinge bei jedem Kind die winzigen Zöpfe, die ihre Eltern ihnen geflochten hatten und die das rote Haar der Assaikinder in Form hielten. Der kupferne Haarschmuck wurde ihnen weggenommen, und auch alles weitere, was sie von Zuhause mitgebracht hatten.
Sie erhielten Kleidung der Fremdlinge. Für die Mädchen gab es helle Leinenkleider, die ungewohnt eng saßen, und kratzige Strumpfhosen. Und Schuhe, die aus hartem, unnachgiebigem Leder waren und die Zehen quetschten. Die Jungen erhielten Hosen mit Hosenträgern, Hemden und eine Fliege.
"Die Taschen sind toll. Da passt sooo viel Süßkram rein!" Pheti grinste zum ersten Mal, als er die Hände darin vergraben konnte. "Jetzt brauche ich nur noch den Süßkram ..."
Ka rückte den dunklen Stoff zurecht, der wie ein Schmetterling an Phetis Hals ruhte.
"Das ist eng." Der Junge verzog das Gesicht.
"Du gewöhnst dich daran."
⁂
Am nächsten Tag stiegen sie in einen Zug. Die Eisenbahn fuhr schnaufend und ratternd nach Norden. Durch das Fenster beobachtete Ka, wie der Fluss vorbeizog. Auf der einen Seite lag das grüne Land am Wasser, mit Palmen, Feldern und Städten, sowohl von Siedlern als auch von Assai. Boote fuhren auf der Strömung, Tiere grasten auf den Weiden.
Auf der anderen Seite des Zuges wellten sich die Dünen der Cherubi-Wüste.
Pheti saß auf dem Sitz neben ihr und weinte.
"Lass uns ein Spiel spielen", schlug Ka ihm vor.
"Aber wir dürfen doch nicht rennen."
"Es ist ein Spiel, das man im Sitzen spielen kann. Ohne laut zu sein. Aber es macht trotzdem viel Spaß."
Neugierig sah er sie an. "Und wir kriegen keinen Ärger dafür?"
Ka stockte. "Vielleicht ... spielen wir besser doch nicht."
⁂
Sie kamen in ein weiteres großes Gebäude, wo es riesige Schlafsäle gab. Aber für einige Kinder gab es auch Einzelzimmer. Ka und Pheti hatten Glück, sie durften eines davon beziehen. Jedoch nur, solange sie kein Assai Sawhet sprachen und in der Schule gut aufpassten.
Ka versprach all das und drückte Phetis Hand ganz fest, damit er weder weinte noch etwas Dummes sagte. Erst als sie im Zimmer lagen, unter der Decke zusammengekuschelt, erlaubte sie ihrem kleinen Bruder, zu weinen.
"Warum sind die Fremdlinge so gemein?", fragte er sie unglücklich. "Warum dürfen wir nicht zu Hause bleiben? Ich hasse es hier!"
"Du musst Fremdlingssprache sprechen, Pheti. Vergiss das nicht."
"Auch, wenn wir nur zu zweit sind?"
"Am besten immer."
"Ich hasse es."
"Du gewöhnst dich daran", sagte sie leise. "Du magst die Schule doch, oder? Die Lehrerin ist nett. Und wenn wir dann nach Hause zurückkommen, wissen wir ganz viel darüber, wie man Geld verdient. Wir können unseren Eltern dann helfen. Sie werden so stolz auf uns sein!"
"Aber wie sollen wir ihnen das sagen? Sie sprechen keine Fremdlingssprache."
"Wir können ja immer noch Sawhet mit ihnen reden." Doch Kas Gedanken kreisten besorgt um die Zukunft. Wenn die Kinder erwachsen waren, mussten sie wieder aus der Schule gehen. Was würde dann aus Pheti werden, wenn sie zu alt war?
⁂
Als sie an diesem Tag aus der Schule kamen, mussten sich die Jungen und Mädchen in zwei langen Schlangen zum Waschen anstellen. Ka war unter den ersten, die sich von den Aufseherinnen ins Band führen ließen. Dort wurde ihr Haar mit einer speziellem Mixtur behandelt, die das kräftige Rot der Assai nach und nach abmildern und grün färben würden. Kinder, die schon länger hier waren, sahen tatsächlich fast wie die Puppe aus, die Ka geschenkt bekommen hatte. Andere, die noch länger hier waren, besaßen dank der Färbung braunes Haar, weil sie ein älteres Mittel bekommen hatten.
"Damit habe ihr es später leichter", sagten die Aufseherinnen.
Ka sollte auch einen neuen Namen erhalten. Vielleicht Katrina, hatte eine der Frauen gesagt. Ein Name, der später nicht mehr auffallen würde.
Das Färbemittel brannte auf ihrer Haut, aber sie sagte nichts. Nachdem sie fertig war, ging sie nach draußen, wo ihr feuchtes Haar in der Sonne trocknen würde. Sie setzte sich auf einen Stein hinter dem Badehaus der Jungen und wartete auf Pheti.
Kind um Kind kam aus dem Waschraum. Ein paar Mal hörte sie diese weinen, dann sah sie auf - doch es war niemals Pheti.
Schließlich kamen die Aufseher heraus. Kas Herz zog sich zusammen. Sie sprang auf und lief zu den Erwachsenen.
"Verzeihung ... ich warte auf meinen Bruder. Ist er noch drinnen?"
"Wir sind mit allen durch", sagte der Elf und musterte sie. "Dachten wir jedenfalls. Du sagst, dein Bruder war noch nicht dran?"
"Ich muss ihn verpasst haben", rief sie hastig. Dann drehte sie sich um und rannte zu ihrem Zimmer, so schnell sie konnte, obwohl dann Staub ihre Schuhe verschmutzte und die Aufseher schimpfen würden.
Atemlos kam sie im Gebäude an und riss die Tür zum Einzelzimmer auf, das sie sich mit Pheti teilte.
Ka sah sofort, dass er nicht hier gewesen war. Die Decke lag noch immer ordentlich über dem Bett, wie sie sie hinlegte, wenn sie morgens aufbrachen. Pheti konnte eine Decke gar nicht so glatt streichen.
Kas Atem wurde schneller. Auf dem Gang erklangen Schritte. Sie wartete nicht ab, bis sie die Erwachsenen sehen konnten - dass es Erwachsene waren, hörte sie schon am lauten, selbstbewussten Klang der Schritte. Sicherlich hatten die Aufseher nachgezählt und festgestellt, dass Pheti fehlte. Ka musste ihn unbedingt vor den Aufsehern finden!
Sie rannte los, wieder auf den Hof, wo die Kinder spielten. Pheti war nicht hier. Also gab es nur eine Möglichkeit - er hatte sich hinter das Gebäude der Aufseher geschlichen und war, als alle vor dem Gebäude beschäftigt waren, in die Wüste gelaufen.
Sie betete zu Kotaamir, dass sie sich irrte. Oder sollte sie besser zu den Göttern der Fremdlinge beten?
Das Mädchen rannte. Das Gebäude der Aufseher war tabu, genauso wie das nicht einsehbare Land dahinter. Sie achtete jedoch kaum darauf, wer sie sah. Denn sofort erkannte sie die Fußspuren hinter dem Zaun, der die Kinder im Gelände halten sollte.
Aber Pheti konnte noch laufen und klettern, wie ihre Eltern es ihnen beigebracht hatte. Der Zaun war für ihn kein Problem. Und auch Ka hatte sich tief in ihrem Herzen das Wissen um die Kunst des Fährtenlesens bewahrt, versteckt in einem Winkel ihrer Erinnerung wie man Schmuck in einer Schatulle aufbewahrte.
Jetzt riss sie die Schachtel auf. Zum hämmernden Takt ihres Herzens strömten alle Erinnerungen wieder auf sie ein. Sie nahm Anlauf, setzte über den Zaun und sprang dahinter in den Staub. Die ledernen Schuhe drückten, also riss sie sich von den Füßen und nahm sie in die Hand. Sie konnte nicht riskieren, Spuren zu hinterlassen. Nur auf den Socken der Strumpfhose rannte sie los. Im Hinterkopf hörte sie bereits das wütende Schimpfen der Aufseher, weil sie ihre Kleidung ruiniert hatte. Aber sie konnte nur an Pheti denken, der vielleicht schon seit Stunden allein in der Steppe war.
Er war viel zu jung. Wusste er überhaupt, wie man Wasser und Schatten fand? Ka hielt einen Moment inne. Sie hatte kein Wasser dabei! Sie hatte gar nichts. Doch sie entschied sich dagegen, zurückzugehen und etwas zu holen. Die Aufseher würden sie erwischen und aufhalten.
⁂
Zuerst lief sie einfach geradeaus, überzeugt, dass auch Pheti hierher gelaufen war. Als die Gebäude hinter ihr außer Sicht gerieten und sie sich allein von Steppe und Sand umringt sah, wurde sie langsamer und suchte Spuren. Zum Glück dauerte es nicht lange, Phetis Fußabdrücke zu finden, die in einem Bogen nach Osten führten.
Ka lächelte erleichtert. Das war die Richtung zur Schule. Vielleicht hoffte er, bei der freundlichen Lehrerin unterzukommen. Diese, eine Bergelfe, hatte den Kindern immer gesagt, dass sie zu ihr kommen könnten, wenn etwas sein sollte.
Aber es war ein Marsch von mehreren Stunden bis zur Schule. Und Ka sah an den Fußabdrücken, dass Pheti langsam gegangen war.
Sie lief weiter. "Pheti? Pheti!" Was sollte sie den Aufsehern nur sagen, um ihren Bruder vor einer Strafe zu schützen?
⁂
Sie fand Pheti schließlich nicht allzu weit von der Schule entfernt, wo er weinend auf der Erde saß. Er bemerkte sie nicht einmal, als sie näherkam. Die Schuhe hatte er ausgezogen, aber erst hier, das wusste sie aus den Spuren. Nun massierte er sich die schmerzenden Füße und murmelte "Mama ..." unter Tränen.
"Pheti."
Er drehte sich um und schluchzte lauter. "Ka!"
Als sie in die Hocke ging, warf er sich in ihre Arme. "Ich will nach Hause! Ich will zu Mama und Papa!"
"Ich weiß." Sie drückte ihn hilflos an sich.
"Nein, du weißt gar nichts! Du sagst immer, dass wir uns schon daran gewöhnen werden. Und dass alles halb so schlimm ist. Du bist fast Klassenbeste!" Er schniefte. "Du magst es hier."
Sie schluckte schwer. "Es ist ja nicht alles furchtbar ... Komm, bringen wir dich erst einmal aus der Sonne." Sie hob ihren Bruder auf den Arm, obwohl er inzwischen etwas zu groß wurde, um ihn zu tragen. Sie machte ein paar Schritte, ehe sie ihn absetzen musste.
Den Rückweg würde sie sicherlich nicht schaffen. Die Sonne sank bereits. Sie würden die Nacht in der Steppe verbringen müssen - und dort gab es Raubtiere und es war nachts auch viel zu kalt.
Ka sah in die andere Richtung. Die Schule war nicht mehr allzu weit.
"Kannst du auf meinen Rücken klettern?", bat sie Pheti. "Und halt dich gut fest."
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Das Schulhaus war ein einfacher Bau aus Brettern und einigen Steinen. Er lag in der Wildnis, weitab von den Siedlungen, im Einzugsgebiet mehrerer Unterkünfte wie der, in der Ka und Pheti lebten. Es gab einen Brunnen und einen einfachen Kräutergarten sowie ein paar Dromedare und Ziegen, und natürlich das Haus der Lehrerin.
Während sie sich näherten, schärfte Ka Pheti noch einmal alle Regeln ein. "Wir sagen, dass ich eine Hausaufgabe liegengelassen habe. Ich lasse mir da was einfallen. Du bist losgelaufen und wolltest sie für mich holen. Dann können sie nicht schimpfen."
Sie schreckte auf, als die Tür der Schule geöffnet wurde. Die dunkelhaarige Elfe sah heraus.
"Und denk daran, dass du Siedlersprache sprechen musst", flüsterte sie. Dann senkte sie den Blick und überwand das letzte Stück, wo sie Pheti absetzte.
"Aber Kinder!", sagte die Elfe. "Wie seht ihr denn aus?"
Die Elfe sprach Assai Sawhet. Das war der Moment, in dem all die Tränen aus Ka herausbrachen, die sie zurückgehalten hatte. Pheti starrte sie verwundert an.
"Kommt erst mal herein. Seid ihr den ganzen Weg zu Fuß gelaufen? Ihr habt sicher Durst. Habt ihr euch verletzt? Habt ihr Hunger?" Die Lehrerin nahm Pheti auf den Arm, legte die Hand auf Kas Rücken und schob sie ins Kühle.
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Ka wusste kaum, wie ihr geschah. Die Lehrerin machte ihnen Mahale, kleine Fischchen in einem Teigmantel, was Ka nicht mehr gegessen hatte, seitdem sie ihr Dorf verlassen hatte. Die Elfe machte den Kindern auch keine Vorwürfe, sondern suchte ihnen Ersatzkleidung heraus und versprach, die kaputten Strümpfe zu flicken. Als Ka leise von der Ausrede berichtete, die sie sich ausgedacht hatte, legte ihr die Lehrerin Papier und Zettel hin.
"Ich schicke euren Aufsehern eine Botschaft", sagte die Elfe dann. "Heute bleibt ihr beide hier, es ist viel zu gefährlich, um noch zurückzureisen. Selbst mit einer Kutsche! Wir haben also bis Morgen Zeit, um uns eine Aufgabe zu überlegen."
Ka hätte beinahe erneut geweint. Es tat so gut, Assai Sawhet zu hören. Zwar hatte die Fremdlingsfrau einen Akzent, aber es waren die vertrauten Worte. Ka war es, als könnte sie die Stimmen ihrer Eltern hören. Es nahm ihr den Atem, wie sehr sie die beiden vermisste.
"Ich verstehe einfach nicht, wieso wir weg müssen", sagte sie unglücklich. "Wieso konnten wir nicht bei unseren Eltern bleiben?"
Pheti sah sie mit großen Augen an. Sie hatte vor ihm noch nie zugegeben, wie unglücklich sie war. Aber jetzt, wo sich die Lehrerin um ihren kleinen Bruder kümmerte, konnte sie gar nicht mehr aufhören zu zittern.
"Die Siedler versuchen, euch zu ihresgleichen zu erziehen", erklärte die Elfe ihnen. "Sie wollen euch das Indianersein austreiben. Aber ich denke nicht, dass ihnen das gelingen wird. Ich hoffe, sie geben es bald auf."
Ka nickte. Das hoffte sie ebenfalls. Sie wollte kein Versuchstier sein. Und sie wollte auch nicht das verlernen, was ihre Eltern ihr beigebracht hatten. Dieses Wissen war im Moment alles, was sie hatte.
"Ich denke, ich weiß, welche Aufgabe wir zusammen machen", sagte die Elfe unvermittelt. "Komm, nimm dein Blatt mit."
Verdutzt wischte Ka sich die Tränen ab und folgte der Elfe und ihrem Bruder in das Zimmer neben dem Klassenraum. Hier lagen verschiedene Materialien herum. Es gab auch ein Regal mit Büchern, die von Märchen und Vorlesegeschichten bis zu dicken, wissenschaftlichen Werken reichten. Und im hinteren Teil befanden sich Terrarien. An eines davon trat ihre Lehrerin nun. Drinnen tummelten sich einige Kornnattern in verschiedenen Farben. Zuhause waren sie sehr häufig. Man traf die Schlangen in alten Schobern, in den flussnahen Feldern, in den trockenen Regionen der Wüste. Doch so viele Farben hatte sie noch nie gesehen: Es gab ganz weiße Schlangen und welche mit geringelten Streifen und andere mit Punkten.
"Ka, dein Name bedeutet doch Schlange, oder?", fragte die Elfe.
Ka nickte.
"Dann kannst du einen kleinen Aufsatz über sie schreiben, den du deinen Aufsehern zeigen kannst. Magst du eine von ihnen mal halten? Sie sind nicht giftig."
"Das weiß ich." Normalerweise flohen die Schlangen vor Menschen, doch diese ließen sich aufnehmen, ganz ohne zu zischen und mit rasselnden Schwänzen zu drohen. Ka wählte eine rotorange Schlange und sah zu, wie sie sich um ihre Finger wand. Neugierig züngelte sie.
"Das ist ein Wildtyp", erklärte die Lehrerin, welche zum Regal trat und einen der dicken Wälzer hervorzog. "Hier hat ein Forscher alle bekannten Farbmorphe aufgeführt und auf welchem Weg sie gezüchtet wurden oder ob sie auf natürliche Weise auftreten." Sie blätterte auf eine Seite mit vielen Zeichnungen von Mustern und Farben. Staunend beugten sich Ka und Pheti vor.
"Wusstet ihr, dass ich den Forscher einmal getroffen habe? Leider nur sehr flüchtig. Itore Maxakiyo. Ein großer Mann." Die Elfe lächelte. "Und ein wahrer Forscher. Er hat herausgefunden, dass Kornnattern unfassbar intelligent sind. Sie können Labyrinthe lösen, um an Futter zu kommen, und sie arbeiten zusammen. Es gab dieses Gerücht, dass die Nattern sich immer nur an ihre eigenen Farbmorphe halten und andere Farbvarianten nicht ausstehen können. Aber Itore hat das widerlegen können. Sie sind nur im ersten Moment vorsichtig, wenn sie eine Schlange treffen, deren Farbe sie nicht kennen. Er hat gezeigt, dass die Kornnattern friedlich miteinander auskommen. Viel friedlicher als andere Schlangenarten! In der Hinsicht sind sie vielleicht sogar schlauer als Erdvölker. Sie brauchen ein wenig, aber dann erkennen sie, dass sie unter der Haut alle die gleichen Schlangen sind."
Die Kornnatter auf Kas Hand hatte sich aufgerichtet und sah aufmerksam zu den Zweibeinern. Vielleicht hoffte sie auf eine kleine Maus.
Ka lächelte. Ja, über die freundlichen Schlangen könnte sie etwas schreiben! Dann gab es einen Aufsatz, den sie zeigen konnte, und Pheti würde keinen Ärger bekommen. Denn dann würden sie sagen, dass er ihr nur hatte helfen wollen, besser zu lernen.
Es gab nur das Problem, dass er am nächsten Waschtag nicht weglaufen durfte. Er musste sich die Haare färben lassen.
Sie setzte die Schlange zurück und begann damit, eine Liste der Varianten zu erstellen. Vieles konnte sie aus dem Werk von diesem wichtigen Forscher abschreiben.
Inzwischen wurde es draußen dunkler, doch sie fühlten sich noch nicht müde. Die Lehrerin ging mit Pheti durch das Lager und zeigte ihm verschiedene Stücke, die er im Klassenraum noch nicht aus der Nähe hatte sehen können. Schließlich kamen beide zu Ka zurück und die Elfe legte zwei Ketten vor die Kinder.
"Die sind für euch."
Ka nahm den Anhänger in die Hand. Er war oval und rot. Unter einer Glasschicht war etwas eingeschlossen, dass von einem netzartigen Muster durchzogen war. Sie weitete die Augen, als sie Schuppen erkannte.
"Schlangenhaut!"
"Genau. Die ist von der Schlange, die du eben auf dem Arm hattest. Keine Angst, ich habe ihr nicht wehgetan. Schlangen häuten sich regelmäßig." Die Elfe streifte die Kette über Kas Kopf. Dann sah sie Pheti ernst an. "Das ist eine wichtige Möglichkeit für die Schlange, sich zu heilen. Wenn sie verletzt sind oder etwas Giftiges auf ihre Schuppen gekommen ist, können sie das einfach abstreifen. So, wie wir ein Hemd ausziehen würden." Sie legte auch Pheti die Kette um und ließ die Hand einen Moment über dem Anhänger auf der Brust des Jungen verharren. "Es dauert manchmal etwas, aber sie können alles hinter sich lassen, was ihnen von Außen angetan wird. Im Inneren bleiben sie immer sie selbst, egal, was mit ihnen passiert. Selbst wenn man sie ganz einfärbt, das kommt nie unter ihre Haut. Und wenn sie sich erst einmal gehäutet haben, strahlen ihre Schuppen viel intensiver als zuvor."