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Datum: Sommer im Jahr 1576 nach Bernstein
Nach dem Prompt „Leistenkrokodil“ der Gruppe „Crikey!“
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Vorsichtig schob sich Kalaris auf dem Bauch über den Sand. Sobald er in den Schatten des quaderförmigen Eingangs eintauchte, wich die Hitze der Wüste einer beunruhigend stillen und kalten Luft. Sogar der Sand unter ihm, den der Wind der Cherubi in die Öffnung der Pyramide getragen hatte, war kühl und feucht. In den Ecken des Eingangs tummelten sich große, schwarze Käfer und Skorpione, die Schutz vor der Hitze gefunden hatten.
Kalaris drehte den Kopf. „Und ihr geht nie hier rein?“
„Nein, da Mûma!“, rief der Führer besorgt, der sich weigerte, Kalaris zu folgen.
„Mûma?“, wiederholte der Zwerg. Dieses Wort kannte er noch nicht.
„Tutchamamon. Er tot, aber wer ihn stören … den er machen tot!“
„Ein Geist?“, rätselte Kalaris, während er sich ein weiteres Stück in die Dunkelheit schob. Seitdem er den merkwürdig gleichmäßigen Berg in der Wüste erblickt hatte, hatte dieser die Neugier des Entdeckers in seinen Bann geschlagen. Kalaris Kalaheeri hatte seinen jungen Führer gezwungen, vom eigentlichen Pfad abzuweichen und das Objekt zu untersuchen. Eine Pyramide, so hatte der Assai ihm erklärt. Ein Grabmal für ihre Gottkönige.
„Er dich tot machen!“, wimmerte der junge Assai draußen. Nephati war normalerweise ein sehr mutiger junger Mensch, doch die Pyramide jagte ihm sichtlich Angst an.
Kalaris robbte weiter. „Hier sind so Käfer … etwa handtellergroß, mit Kneifzangen. Was ist das?“
„Skarabäen!“, hauchte Nephati. „Sie heilig! Sie Tiere der Götter.“
„Heilige Käfer?“ Kalaris unterdrückte ein Lachen. „Aber sie werden mich nicht beißen oder vergiften?“
„Sie …“ Nephati verarbeitete seine Frage etwas länger. „Nein!“
„Dann ist ja gut“, murmelte Kalaris zu sich und schob sich mit einem kräftigen Schwung an den Skarabäen vorbei und durch die Türöffnung, die nur noch ein Stück aus dem Sand ragte. Der Sandstein zu beiden Seiten fühlte sich uralt und rissig an. Wie lange mochte dieses Bauwerk schon hier stehen, vergessen und versunken im gelben Sand der Cherubi? Kalaris wagte kaum zu fragen, welche andere Wunder verborgen in diesem Kontinent ruhen mochten. Nach seinen Reisen durch die al Taskmadhia, die Steppen und Dschungel hatte er eigentlich geglaubt, alles von diesem wunderlichen Reich mit Namen Wajbaqwinat gesehen zu haben.
Doch dann hatte er die Nandi überquert und in der Shakdee-Wüste hinter dem Gebirge eine völlig neue Welt entdeckt. Die versunkene Stadt Assaidaik.
Der Hügel hereingewehten Sands wurde flacher, als Kalaris sich in den Gang dahinter schob. Spinnweben hingen von der Decke. Wie weit der rechteckige Weg führte, konnte er nicht sehen, dazu war es zu dunkel.
Plötzlich hörte er ein Grollen. Die Quelle des Geräuschs war direkt vor ihm. Kalaris erstarrte.
„Nait Kalaris!“, rief Nephati panisch. „Tutchamamon! O, Tutchamamon!“ Der Assai verfiel in den merkwürdigen Singsang seiner Sprache.
Kalaris starrte in das Dunkel vor sich, um etwas zu erkennen. Dann sah er es: Einen Schatten dicht am Boden, der sich auf ihn zu bewegte.
Er warf sich zurück und kroch auf die Türöffnung zu. Sand rutschte unter seinen Händen und Füßen weg, hinein in die Finsternis der Pyramide.
„Nephati! Nephati, Hilfe!“, brüllte Kalaris. Er hörte ein Donnern, als würden dicht hinter ihm gewaltige Kiefer zusammenschlagen. Endlich bekam er Stein zu packen und zog sich am Rahmen der Türöffnung nach vorne.
Nephati stand auf der anderen Seite, totenblass. Er hatte sich in den winzigen Vorraum gelehnt, der größtenteils mit Sand gefüllt war. Skarabäen stiegen mit aufgeregtem Sirren in die Luft, als Nephati Kalaris die Hand reichte.
Kalaris griff zu und ließ sich nach draußen ziehen. Er spürte, wie der Sand hinter ihm unter etwas Großem nachgab und hörte ein lautes Fauchen, das er keinem ihm bekannten Lebewesen zuordnen konnte.
„Tutchamamon!“, schrie Nephati, als sie auf einer Welle Sand hinaus in die Wüstenhitze rutschten. Der junge Assai sprang auf und rannte los. Kalaris kämpfte sich auf die Füße und warf einen Blick zurück.
Ein Gesicht schob sich aus der Öffnung der Pyramide. Es glich in keinster Weise einem Erdvolk, das Kalaris kannte. Eine spitze, längliche Schnauze, schuppenbesetzt. Erst, als sie bereits eine Armlänge aus der Öffnung heraus war, erkannte Kalaris kleine Augen auf dem Kopf. Dann fiel sein Blick auf die Zähne, die im leicht geöffneten Maul zu sehen waren.
Er stolperte rückwärts auf die Kamele zu. Nephati hatte bereits einen gewaltigen Vorsprung. Das Riesenkrokodil – Kalaris hatte es endlich erkannt – erhob sich auf ungewöhnlich lange, schlanke Beine und glitt aus dem schattigen Versteck. Fauchend schnappte es erneut nach Kalaris‘ Füßen. Während er nach hinten stolperte, konnte er sehen, wie das Raubtier in voller Länge aus der Öffnung schnellte.
Doch in der Hitze hielt das Monstrum an, als die Schwanzspitze gerade aus der Höhle heraus war. Kalaris stolperte einige weitere Schritte und fiel in den Sand.
Das Krokodil ihm gegenüber war an die zehn Schritt lang. Er konnte den Blick nicht abwenden. Fauchend drohte ihm das Tier mit dem Schwanz, doch Kalaris‘ geübter Blick bemerkte Seltsamkeiten.
Zunächst einmal hatte das Krokodil lange, muschelförmige Ohrmuscheln, die momentan eng an den Kopf angelegt waren. Im Kiefer blitzten zwei kräftige vordere Reißzähne auf. Die Dornen auf dem Rücken waren länger und spitzer als bei normalen Krokodilen, die Beine länger, und die Schuppen wiesen ein leopardenähnliches Fleckenmuster auf.
Mit einem weiteren drohenden Knurren begann das Tier, sich rückwärts wieder in den Schatten zu schieben, während seine gelben Augen Kalaris musterten. Bei der kleinsten Bewegung des Entdeckers hielt das Tier an und öffnete das Maul warnend.
Dann glitzerten nur noch die Augen im Schatten und schließlich war die Kreatur endgültig fort.
Kalaris atmete auf und merkte, wie seine Hände zu zittern begannen. Er zuckte zusammen, als er eine Hand auf der Schulter spürte. Nephati war zurückgekehrt, ohne dass der Zwerg etwas bemerkt hatte.
„Du leben, Nait Kalaris! Tutchamamon dich verschonen.“
„Das war nicht Tutchamamon!“ Kalaris kicherte nervös. „Ein Skarrkodhi! Aber was für eines.“ Er wischte sich mit fahriger Hand Schweiß von der Stirn. „Hast du gesehen, wie seine Schnauze geformt war? Keine Keule an der Spitze, sie ist einfach nur breiter geworden. Weniger wie ein Gharial und mehr wie ein … hmm, ein Leistenkrokodil! Deswegen war es auch so groß und so weit hier draußen! Es lebt bestimmt am Meer oder in einem Seitenarm, wenn es nicht gerade übersommert. Und ich spaziere mitten in seine Höhle …“
„Nait Kalaris?“, unterbrach Nephati den nervösen Redeschwall des Entdeckers. „Du gut?“
Kalaris Kalaheeri nickte. „Aber das waren mir genug Pyramidenabenteuer für heute!“