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Datum: etwa 1800 nach Bernstein
Nach dem Prompt „Kalifornischer Seelöwe [Tierische Geschichten mit Tanz]“ der Gruppe „Crikey!“
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Die Blüten verteilten sich auf den blauen Wogen der Bucht. Keli'ai streute die letzten Blätter aus und betrachtete dann, wie die bunten Dreiecke vom Wellengang gewogen wurden. Sie suchte nach Formen, Gestalten, flehte Naair stumm um einen Hinweis an.
Dies waren dunkle Zeiten. Ewelikos Stirn wurde mit jedem Tag gefurchter vor Sorge. Der junge Häuptling bemühte sich sehr, doch sein Volk verlor den Glauben an ihn. Seitdem er seinem Vater so früh auf den Thron gefolgt war - nein, seitdem die Krone verloren war. Sie hatten gesucht und gesucht, aber die seltenen Bäume waren fort. Ein Zeichen, dass die Geister zürnten. Viele glaubten, dass es Ewelikos Schuld sein musste, schließlich war er der Häuptling. Einige Monaairu hatten sich bereits abgewandt und eigene Gruppen gebildet. Sie packten ihre Sachen und reisten an andere Stellen der Insel. Ihre Fähigkeiten, die einst der gesamten Gesellschaft gedient hatten, nahmen sie weg. Natürlich waren es die guten Fischer, die talentierten Handwerker, die besten Jäger, die gingen. Für den Rest wurde das Leben so schwieriger, was mehr und mehr ihres Stammes überzeugte, dass Eweliko wirklich nicht der richtige Anführer wäre.
Keli'ai glaubte fest an ihn, nicht nur ihrer Freundschaft wegen oder weil es ihre Aufgabe als Medizinfrau war, den Häuptling zu unterstützen.
Eweliko hatte ein gutes Herz. Er achtete auf sein Volk, er arbeitete härter als jeder von ihnen, damit die Schwächsten weiterhin Nahrung und Unterkunft hatten. Es war nicht seine Schuld, dass die Zeiten schwer waren.
Wehmütig dachte sie zurück an den Rochentanz. Damals hatten die Zeichen gut ausgesehen. Wieder richtete sie den Blick auf die Blüten, die mit den kühlen Wellen um ihre Waden spülten.
"Bitte, Naair." Ihr Volk, das sich am Strand versammelt hatte, konnte sie nicht mehr hören. "Bitte sag mir, wie ich unser Volk beschützen kann!"
Vielleicht war es Zufall, dass der Wind gerade jetzt über die Wellen strich. Vor Keli'ais Augen wirbelten die Blütenblätter durcheinander, drängten sich zusammen, wurden zu einem neuen Bild. Blinzelnd starrte sie auf das Tier, das sich mit einem Mal bildete, nur für einen Herzschlag, ehe Strömung und Wind die Blätter auseinanderrissen und die Gaben an Naair unter den Wellen versanken.
Dann drehte sie sich um und rannte an den Strand. Eweliko sah sie fragend an, als das Wasser spritzte.
"Ich weiß es! Ich weiß es!" Sie strahlte ihn an und fasste seine Hände. "Du musst mit mir kommen, sofort!"
"Aber ... die Feier ..." Er riss sich nicht los, schalt sie nicht, weil sie die Tradition brach. Einige der Alten schüttelten missbilligend die Köpfe. Solche, die zu gebrechlich waren, um mit den Jägern und Fischern zu gehen, die nur blieben, weil die Not es befahl, nicht weil sie Eweliko glaubten. Die Zahl derer, die ihm trotz aller Widrigkeiten vertrauten, war gering.
Eigentlich stand es ihr nicht zu, den Häuptling überhaupt ungefragt zu berühren. Doch im Herzen waren sie wohl immer noch die Kinder, die früher gemeinsam gespielt hatten. So folgte Eweliko ihr, rief nur über die Schulter, dass das Volk ohne sie mit dem Mahl beginnen sollte.
Er wusste, dass alle hungrig waren. Ob sie essen würden, oder warten, aus Furcht, die Geister weiter zu erzürnen, war Keli'ai egal.
Sie führte Eweliko zu den Klippen, wo jene Tiere wohnten, die sie im Blütenmeer gesehen hatte. Eheu Kai, die geflügelten Seelöwen, deren Kolonie sich auf den Steilklippen verteilte.
"Was hast du vor?", fragte Eweliko, als Keli'ai zu klettern begann. Dennoch folgte er ihr.
"Ich weiß es nicht genau", gab sie zu. "Doch ich habe die Eheu Kai gesehen. Sie werden uns helfen, ich weiß es!"
Eweliko nickte. Das Wort einer Medizinfrau zweifelte man schließlich nicht an. In seinem Blick sah sie das alte Vertrauen, von früher, wenn sie ihn zu geheimen Verstecken tief in den Wäldern der Insel geführt hatte.
Die Seelöwen hoben die Köpfe und bellten, als sie die Eindringlinge bemerkten. Im Gegensatz zu anderen Seelöwen besaßen diese Chimären zwei goldene Kämme auf dem Rücken, kaum behaart und gespannt auf beweglichen Rippenbögen. Einige Tiere spannten diese Flügel nun auf und stießen sich von der Klippe, um zu den Wellen unter sich zu segeln.
Keli'ai sah sich um und bemerkte drei Tiere, die sie nahezu reglos beobachteten. Rasch stieg sie zu den beiden herauf, die die Ankunft zweier Menschen lediglich mit einem Schnauben zur Kenntnis nahmen.
"Sie haben keine Angst", stellte Eweliko fest, während er sich ehrfurchtsvoll vor den großen Seelöwen verneigte. Alle drei hatten die kleinen Ohrlappen aufmerksam aufgerichtet.
Auch Keli'ai verneigte sich. "Sie haben uns gerufen. Die Geister haben uns hergeführt."
Zwei Seelöwen neigten die Köpfe langsam. Keli'ai bemerkte, wie Eweliko erleichtert aufatmete, während er zu den großen Mäulern der Tiere schielte. Hätten sie sich gestört gefühlt, hätten sie ihnen auch einen Arm abbeißen können. Doch die beiden großen Löwen, die sich verneigt hatten, robbten nun neben sie und sahen zu der Medizinfrau und dem Häuptling. Erwartungsvoll.
Keli'ai kraulte das Tier vor ihr hinter den Augen, bis es genussvoll die Augen schloss. Dann strich sie ihm über den Rücken, ehe sie sich vorsichtig zwischen die beiden goldenen Kämme hockte.
"Du kannst gut mit ihnen umgehen", stellte Eweliko fest, der sie nachmachte.
"Sie waren Kahanas Seelentiere." Keli'ai lächelte zu dem dritten Tier, das an die Klippe robbte. Es trug zwar keinen Reiter - dennoch schien es sie anführen zu wollen.
Sobald beide Menschen saßen, stieß sich das dritte Tier ab und sprang in die Tiefe, entfaltete die Schwingen und ließ sich vom Schwung nach oben tragen. Die beiden berittenen Tiere folgten. Keli'ais Magen machte einen Satz, als sie sich plötzlich im Sturz befand. Sie klammerte sich an das längere Haar im Nacken des Seelöwens, seine Mähne, und machte sich so flach, wie es in der knienden Position ging. Ihr Reittier entfaltete die Kämme, fing sich, flog ein Stück höher. Hinter ihr ging Ewelikos panischer Schrei in Gelächter über.
Es war so lange her, dass er unbeschwert gelacht hatte!
Die beiden Seelöwen folgten dem dritten Tier etwas tiefer, da sie aufgrund der Reiter nicht so leicht aufsteigen konnten. Sie flogen nicht aus eigener Kraft, sondern getragen von jenem Schwung, den sie durch Sturzflüge aufnehmen konnten. In großen Wellen umkreisten sie die Klippen und sanken dabei langsam. Doch sie hatten weit oben gesessen.
Keli'ai betrachtete die Felswände. Es musste einen Grund geben, dass sie hier waren. Was wollten die Eheu Kai ihnen zeigen?
"Da!", rief Eweliko plötzlich "Keli, da vorne!"
Sie sah zu ihm, folgte seinem ausgestreckten Arm und Zeigefinger mit dem Blick, und schnappte nach Luft.
Niedrige Bäume wuchsen auf einer Klippe, klammerten sich an den Steinhang, die Wurzen nahezu nackt. In ihren Kronen leuchteten gelbrote Blüten.
Ein Schauer prickelte über Keli'ais Arme. "Naairs Krone!", hauchte sie ungläubig.
Die verlorengeglaubten Blüten - sie existierten noch. Zwischen den Klippen, halb in einem tiefen Tal versunken, waren sie auch vom Meer aus nicht zu sehen. Die drei Seelöwen glitten nacheinander in das Tal, kreisten um die heiligen Bäume und flogen wieder hinaus über die Wellen. Eweliko streckte den Arm und pflückte eine einzelne Blüte vom Strauch, ehe er vorbeiflog.
Die Seelöwen trugen sie tiefer, den Wellen zu, die im Licht der Sonne glitzerten. Dann tauchten die Tiere nacheinander ins kalte Wasser. Keli'ai und Eweliko mussten die Luft immer wieder anhalten, während die Seelöwen Delfinen gleich durch die Fluten pflügten. Sie keckerten und bellten während der Sprünge. Ihre 'Flügel' bewegten sich unter Wasser wellenartig, beschleunigten sie, und wurden über dem Wasser aufgespannt, um die Seelöwen segeln zu lassen.
Als der Strand nahte, wo das Volk versammelt war, tauchten die Seelöwen mit einem Mal gerade nach unten. Die beiden Reiter ließen los und strampelten an die Oberfläche, bis sie das Salzwasser durchbrachen. Mit langen Zügen schwammen sie zum Strand, wo die Stammesmitglieder sie mit aufgerissenen Augen erwarteten. Sie konnten nicht fassen, dass ihre Anführer einen Ritt auf den gefährlichen Raubtieren gewagt hatten.
Noch größer wurden ihre Augen, als sie die Blüte sahen, die Eweliko in beiden Händen so vorsichtig trug wie ein Vogelküken.
"Naairs Krone!", raunte die Menge.
"Die Geister haben uns ein Zeichen gesandt", verkündete der junge Häuptling. "Diese Zeiten mögen schwer sein, vieles ändert sich - auch unsere heiligen Bäume wachsen nun an einer anderen Stelle. Ein Zeichen, dass alles im Wandel ist. Doch Naair ist weiterhin mit uns!"
Keli'ai lächelte. Zum ersten Mal seit langem fühlte sie sich befreit und zuversichtlich. Ja, alles veränderte sich. Doch nicht nur zum Schlechten! Auch in dieser neuen Welt verbarg sich Hoffnung. Manchmal benötigte es allerdings einen Sprung ins Ungewisse, um diese zu finden.