Es war nun das gefühlt hundertste Telefonat, das Mark gerade mit seiner Mutter führte. Und jedes Mal machte sie sich Sorgen. Seit vier Jahren wohnte er bereits in einer eigenen Wohnung, die gar nicht so weit von seinem Elternhaus entfernt lag. Als er damals den Entschluss gefasst hatte, auf eigenen Beinen stehen zu wollen, hatte er gehofft, dass die täglichen Gespräche ausbleiben würden. Doch belehrte ihn das Schicksal eines Besseren. Erst Recht, als Mark sich vor vier Wochen von seiner Freundin Melanie getrennt hatte. Sogar auf der Arbeit hatte er keine Ruhe vor den Diskussionen mit seiner Mutter. Auch Melanie ließ nicht locker und bombardierte Mark mit unzähligen Nachrichten, dass es für sie noch lange nicht vorbei wäre. Allmählich begannen wieder diese Kopfschmerzen, die Mark immer dann bekam, wenn er keine Ruhe vor den Anderen fand. Deshalb war ihm vergangene Woche die Idee gekommen, an die See zu fahren, um abzuschalten. Nur er und die Natur, so der Plan.
»Mama, ich lege jetzt auf, ja? Ich melde mich morgen, wenn ich angekommen bin.« Mark saß am Küchentisch, den Kopf auf der Platte abgelegt mit dem Telefon in der linken Hand. Wie lange das Gespräch schon andauerte, wusste er nicht. Aber es kam ihm vor wie Stunden.
»Hast du auch alles eingepackt? Vergiss die Sonnenmilch nicht, mein Spatz. Denk dran, dass die Sonne am Meer ganz anders ist. Du wirst dich sonst nur verbrennen …«, gab Marita, seine Mutter, fürsorglich zum Besten. Mark entfloh ein Seufzen.
»Ja, Mama. Ich habe alles in den Taschen. Und bevor du fragst: Die Unterlagen habe ich als erstes eingepackt.« Ein Schmunzeln legte sich auf Marks Lippen. Er war sich sicher, dass sie danach als nächstes gefragt hätte.
»Ach, mein kleiner Junge, ich mache mir doch nur Gedanken. Und wehe, du verdrehst jetzt wieder die Augen … es reicht schon, wenn dein Vater das immer macht.«
Und genau das tat Mark in diesem Moment und richtete sich wieder auf, blickte abwesend durch das Fenster nach draußen. Morgen würde er eine bessere Aussicht genießen, da war er sich ganz sicher. Der Bungalow, den er für drei Wochen gemietet hatte, lag direkt am Strand zwischen verwegenen Dünen, glaubte er dem Prospekt aus dem Reisebüro. Die Dame am Schalter hatte ihm versichert und sogar geschworen, dass das Bild der Realität entsprach.
»So, ich mache jetzt Schluss, Mama. Grüß Papa von mir, ja? Ich möchte mich gleich schlafen legen, weil ich gegen drei Uhr losfahren werde.«
»Um Himmels willen … so früh? Da ist es ja noch stockdunkel. Fahre doch lieber bei Sonnenaufgang. Dein Vater hat letztens noch eine Ausfahrt verpasst, weil wir noch so spät unterwegs waren. Überleg …«
»Tschüss Mama«, sagte Mark lachend und wartete noch auf eine Verabschiedung seiner Mutter.
»Okay, Spatz. Ich hab’ Dich lieb. Pass auf dich auf, ja? Und melde dich doch einmal bei Melanie. Das Mädchen ist todunglücklich. Vielleicht renkt sich das zwischen euch wieder ein …«
»Nein. Wir haben uns auseinandergelebt und ich möchte im Moment mit niemandem darüber reden, verstanden? So, ich lege jetzt wirklich auf.«
Im Lautsprecher vernahm Mark ein Seufzen.
»Okay, mein Junge, dann höre ich morgen von dir. Dicken Kuss und fühl dich gedrückt. WAS? … dein Vater drückt dich auch, soll ich ausrichten. Also, dann bis morgen.«
Mark legte auf und grinste, als er sich seine Mutter in der Küche sitzend vorstellte, während sein Papa im Wohnzimmer auf der Couch vor dem Fernseher saß und einem Fußballspiel folgte. Früher hatte er mit ihm zusammen die Spiele angesehen, während seine Mutter in der Küche das Essen zubereitete und nebenbei mit einer Freundin telefonierte. Eine Gabe, die Mark nicht in die Wiege gelegt wurde. Entweder führte er ein Gespräch oder sah sich etwas an. Aber beides zusammen war unmöglich. Sein Papa hatte ihm einmal verraten, da war Mark noch klein gewesen, dass das nicht nur die Frauen können, sondern auch Männer. Allerdings wäre es ein ungeschriebenes Gesetz gewesen, dass nur unter ihresgleichen bestand. Würden es die weiblichen Wesen wissen, hätten sie ihre Gatten quer durch die Bude gejagt und mit Aufgaben bombardiert.
»Oh Mann …«, sagte er tonlos und blickte auf das bereits erloschene Display seines Telefons. Wie jedes Mal, wenn er so lange telefonierte, fühlte sich sein Ohr heiß und taub an. Ein Grund mehr, das Handy in der nächsten Zeit zu ignorieren. Irgendwann würde sich sonst noch eine Hornhaut an der Ohrmuschel gebildet haben. Diese Gedanken ließen Mark amüsiert mit dem Kopf schütteln, während er sich vom Stuhl erhob und eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank nahm. Laut dem an der Wand hängendem Thermometer waren es fünfundzwanzig Grad in der Wohnung und die Luft stand, trotzdem alle Fenster angekippt waren. Das war auch so eine Marotte seiner Mutter. Immer wenn sie zu Besuch kam, öffnete sie alle mit der Begründung, dass Sauerstoffmangel ein weit verbreitetes Problem bei den Menschen wäre. Und ausgerechnet diese Eigenart hatte sich auf Mark übertragen.
Im nächsten Moment meldete sein Handy mit einem einfachen Piepton eine eingehende Nachricht und Mark warf nur einen flüchtigen Blick auf das aufleuchtende Display. Melanie. Wann würde sie endlich Ruhe geben und ihren eigenen Weg gehen? Es waren allein heute schon um die zwanzig Meldungen gewesen, mit dieser, eine weitere ihrer ständigen Vorwürfe, er hätte alles in den Sand gesetzt aber sie würde weiter um ihn kämpfen. Die Flasche an die Stirn haltend, rollte er sie mehrfach über die erhitzte Haut, in der Hoffnung, dass die Kopfschmerzen damit erträglicher würden. Kurzerhand stellte er das Mobilgerät auf Lautlos und ließ es ungeachtet auf dem Tisch liegen. Vielleicht würde ihm eine Dusche jetzt guttun, um den alten Ballast von sich abzuspülen. Keine Melanie, keine Arbeit und auch die ständigen Sorgen seiner Mutter würden durch den Abfluss verschwinden.
Unter dem lauwarmen Wasser kamen Mark erneut die Gedanken an Melanie und die einseitige Trennung seinerseits. Zwei Jahre waren sie zusammen gewesen. Ein ständiges Auf und Ab, dass irgendwann nicht mehr auszuhalten war. Mark versuchte sich an den Tag, an dem er Melanie das erste Mal gesehen hatte, zu erinnern. Sie hatte in ihrem weißen Sommerkleid wirklich gut ausgesehen und war sichtlich an ihm interessiert gewesen. Ihre freundliche und auch süße Art fand Mark damals interessant. Letztendlich hatte sein bester Freund Dennis eine Verkupplungsaktion gestartet und die beiden zusammengeführt.
Mit der jetzigen Erkenntnis, dass Melanie im Laufe ihrer Beziehung stetig anstrengender wurde und sie Mark mit ihrer rasenden Eifersucht in den Wahnsinn trieb, würde er seinem Kumpel am liebsten eine große Kopfnuss geben.
Mark kannte Dennis bereits aus der Grundschule. Der rothaarige Typ mit der vorlauten Klappe hatte ihn schon damals zum Lachen gebracht und irgendwann hatte sich daraus eine Freundschaft entwickelt, die bis heute anhielt. Dennis war während der Schulzeit der Klassenclown und Lehrerschreck gewesen und niemand war vor seinen Scherzen und Attentaten sicher. Nur ein einziges Mal hatte Mark die Schuld auf sich genommen, um Dennis zu entlasten. Andernfalls hätte der durch einen weiteren Verweis die Schule wechseln müssen und das kam für ihn überhaupt nicht infrage.
Er griff zu dem Duschgel und begann sich einzuseifen. Der frische Duft, der ihm in die Nase stieg, belebte seinen Körper und Geist gleichermaßen. Genau das, was er jetzt brauchte, um abzuschalten und herunterzukommen. Sich die blonden Haare aus dem Gesicht streichend, starrte Mark auf die weiß marmorierten Fliesen und schloss die Augen. Wie von selbst griff seine Hand zum Mischhebel und kurz darauf perlte kaltes Wasser von oben auf seinem Körper herab. Augenblicklich bildete sich eine Gänsehaut und Mark zuckte kurz zusammen, während ein überraschter Laut über seine Lippen kam. Seine Mundwinkel hoben sich automatisch nach oben zu einem Lächeln, als er an den kühlen Ozean dachte, den er morgen sehen würde.
Morgen würde er im Meer schwimmen können, die Seele dabei baumeln lassen und sich ganz und gar auf den Urlaub konzentrieren. Er würde durch die Dünen schlendern, zu dem Café am Strand den Schutz vor der Sonne suchen und in die Welt der Worte eintauchen. »Das Buch«, entfloh es Mark siedend heiß. Das durfte er auf keinen Fall vergessen. Der neue Bestseller-Roman "Das Café am Meer" von Emeli Garden, den Mark erst letzte Woche erworben hatte, lag noch verpackt auf dem Nachttisch. Laut Klappentext ginge es um eine unerwartete Begegnung zweier Protagonisten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Mark kam ein Gedanke, den er aber schnell wieder verwarf. Unsinnig daran zu denken, dass ihm selbst einmal so etwas widerfahren könnte. Eigentlich las Mark nur Psychothriller, in denen ordentlich viel Blut floss. Aber für die geplante Auszeit hatte er sich zu einem ruhigen Genre hinreißen lassen, einer romantischen Liebesgeschichte. Eigentlich lasen solche Bücher nur die weiblichen Geschlechter, aber das schöne Cover mit dem abgebildeten Meer im Hintergrund und den zwei Kaffeetassen auf einem Tisch hatte etwas Beruhigendes ausgestrahlt.
Zum Mischhebel greifend, stellte Mark das Wasser ab und blinzelte nach dem weißen Handtuch, das er sich mit einer flinken Bewegung schnappte. Noch während er sich die Haare trocken rubbelte, stieg er aus der gläsernen Duschkabine. »Das Buch«, erinnerte er sich erneut und lief einmal quer durch die Wohnung in das Schlafzimmer. Dort fand er den Einband und packte ihn in die Umhängetasche, da sein gepackter Koffer bereits im Auto lag. Als er im Vorbeigehen an dem großen Schrankspiegel vorbeikam, betrachtete er sich einen Moment darin.
Ein wenig Bräune musste her, andernfalls würde er mit seiner sehr hellen Haut im Schein der Sonne die anderen Badegäste blenden. »Das wird schon«, sagte er zu sich selbst und fand sich danach im Badezimmer wieder. Ein letzter Blick folgte über die Ablagen am Waschbecken und die Regale neben dem Spiegel, damit er auch nichts vergessen würde. Seine Mutter hatte ihn vorhin dreimal nach der Kulturtasche gefragt und ob auch wirklich alles wichtige drin wäre. Außerdem hatte sie ihn mehrmals darauf hingewiesen, dass er sich doch bitte regelmäßig rasieren sollte. Mark dachte an seinen Vater, der bereits in früheren Urlauben selten zu dem Trimmer gegriffen hatte. Sehr zum Leidwesen von Vater und Sohn, wenn das Gezeter der Mutter einsetzte.
Nur mit einer kurzen Hose bekleidet, stand Mark wenige Minuten später in der Küche und nahm sein Handy zur Hand. Zwölf Nachrichten und drei verpasste Anrufe. Zehn Meldungen von Melanie, die Mark ungesehen löschte. Die Nächste war von Dennis. Er wünschte einen erholsamen und megageilen Urlaub und wäre beleidigt, dass sein doch allerbester Freund ihn nicht mitnehmen würde. Unter der Nachricht standen noch einige dieser grinsenden Grimassen, daneben einige Cocktailgläser und Bierkrüge. Weiter darunter stand noch, dass er sich eine Strandnixe anlachen sollte, um auf andere Gedanken zu kommen. »Du Vogel«, sagte Mark schmunzelnd und bedankte sich mit einem einfachen »Danke« und einem Emoji, das die Zunge herausstreckte.
Die letzte Nachricht war von seinem Vater. Auch er wünschte mit weitaus weniger Worten einen schönen Urlaub und dass Mark sich doch bitte regelmäßig melden sollte, sonst würde seine Mutter noch am Rad drehen. Mark bedankte sich und versicherte seinem Papa, dass er das machen würde.
Die Anrufe waren natürlich von Melanie. Einen Rückruf ersparte sich Mark.
Das Mobilgerät nahm er mit in das Schlafzimmer und stellte den Wecker auf halb drei Uhr morgens. Bis dahin waren es noch sieben Stunden und die würde er als Schlaf auch brauchen, da er eine längere Zeit auf der Autobahn sein würde.
Nachdem Mark sich in das Bett gelegt und die Decke nur zwischen den Knien geklemmt hatte, fragte er sich noch, was ihn wohl morgen alles erwarten würde. Sonne, Strand und Wasser. Aber wäre das wirklich schon alles?
Mit diesen Gedanken driftete er langsam in den wohlverdienten Schlaf.