Im Auto erkannte Mark bereits in der Ferne viele flackernde Lichter, die über den Dächern der Stadt das Hafenfest ankündigten. Zwischen den wenigen Bäumen, die sich in das Stadtpanorama einreihten, jedoch wie fehl am Platz wirkten, waren bunte Leichtreklamen der Fahrgeschäfte zu erkennen. Links daneben vermutete er den Hafen, da hinter einer Hecke zahlreiche mit Lichterketten bestückte Segelmasten diese überragten. Ihm kam es so vor, als habe sich die örtliche Verwaltung dazu hinreißen lassen, sämtliche Register zu ziehen, um die Feierlichkeit im besten Licht zu präsentieren. Davon konnten er und David sich bald überzeugen, als sie wenig später die Veranstaltung betraten. Sie schlenderten durch die schmalen Gassen und ließen sich von der einen oder anderen Bude zu einer kleinen, deftigen Mahlzeit oder einer Süßigkeit verleiten. Mark genoss die gemütliche Atmosphäre und er bekam Lust, eines der Fahrgeschäfte zu besuchen. Seine Idee teilte er David mit, der daraufhin begeistert auf eine schaurig wirkende Geisterbahn zeigte, zu der sie sich aufmachten. Skelette mit rot glühenden Augen hingen an der Fassade der Attraktion und eine im dunkelbraunen Gewand gekleidete Gestalt wog eine flackernde Laterne hin und her. Die freie Hand vollführte mit dem knochigen Zeigefinger eine lockende Geste. Fasziniert betrachtete Mark die aufwendig gestalteten Figuren und erschrak, als eine tiefe Stimme ihn mit seinem Namen ansprach und dazu aufforderte, den richtigen Weg zu wählen. Die skelettierte Hand der düsteren Gestalt deutete auf eine massive Holztür mit robusten Eisenbeschlägen, auf der mit triefend roter Farbe sein eigener Name stand. Direkt darunter ein wie aus glühender Lava bestehendes Kruzifix.
Ihm entglitten augenblicklich sämtliche Gesichtszüge.
Was zur Hölle …?
Sich davon abwendend, weil sich ein ungutes Gefühl in ihm ausbreitete, wollte er David gerade bitten, woanders hinzugehen, jedoch stand er nicht mehr neben ihm.
»David?« Er sah sich besorgt um, jedoch konnte er ihn nicht ausfindig machen. Einige der Besucher reagierten auf seinen Ruf und musterten ihn daraufhin aufmerksam. Andere hingegen schienen keine Notiz von ihm genommen zu haben und ließen sich in ihrem Dialog mit einer anderen Person nicht stören.
»David? Wo bist du?« Er trat aus der Warteschlange und wirbelte ängstlich herum. Nichts.
»Hier bin ich!«, schallte es zu ihm herüber. Abrupt versuchte er die Quelle auszumachen.
»Wo denn?«
»Hier oben!«
Er hob den Kopf und suchte zwischen den mechanischen Horror-Gestalten und lodernden Fackeln nach dem Jungen. Dann fand er ihn, hoch oben auf einem Podest sitzend und grinsend.
»Was machst du da?«
»Na, was wohl? Traust du dich zu mir zu kommen? Du weißt, dass der Weg für dich nicht einfach ist, aber dazu zwingen kann ich dich auch nicht!«
»Wie meinst du das?« Die Stelle, an der David saß, war für Mark in einer schwindelerregenden Höhe und es führte nur eine nicht vertrauenswürdige Strickleiter zu ihm hinauf.
»Spatz, bleib schön hier unten, hörst du? Das ist viel zu gefährlich für dich. Was sollen nur die Leute denken, wenn du hier den Klettermax spielst, nur um zu diesem Jungen zu kommen? Stell dir mal vor, das würde in der Zeitung stehen. Jeder wüsste, was du getan hast.«
Die Stimme seiner Mutter! Wo kam die her? Wieso war sie hier? Und was mischte sie sich schon wieder ein? Was hatte sie alles mitbekommen?
Er fuhr mit dem Kopf herum und ihm lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als er seine Mutter in einem Stuhl sitzend neben dem Eingang vorfand. Sie blickte ihn tadelnd an, dabei schüttelte sie mit dem Kopf, als würde sie sich über sein Verhalten ärgern.
»Mama? Wie kommst du hierher?«
»Ach, mein Junge, Melanie war so nett und hat mich mitgenommen. Sie ist ja so ein entzückendes Mädchen und sie liebt dich. Ihr seid füreinander bestimmt, sieh es ein, Spatz.«
»Was? …« Der Rest blieb ihm im Hals stecken, als er eine andere aber ihm sehr bekannte Stimme vernahm.
»Genau, Mark. Hör’ auf deine Mutter. Ich liebe dich und jetzt komm’ zu mir, du hast mir so sehr gefehlt.«
Hektisch wirbelte er herum. Melanie. Das konnte doch nicht wahr sein!
»Warum kannst du mich nicht endlich in Ruhe lassen?«, schrie er ihr entgegen und stolperte dabei mehrere Schritte zurück. Hilfe suchend blickte er zwischen zu seiner Mutter, seiner Ex-Freundin und David hin und her.
»Mark, es liegt ganz allein bei dir!«, rief David zu ihm herunter. »Was ist dir wirklich wichtig? Willst du weiterhin deine Gefühle verstecken, um der brave Sohn zu bleiben? Vergiss es! Sieh es endlich ein: Du bist schwul und stehst auf mich.«
Wie konnte David davon wissen? Fahrig wischte er sich den Angstschweiß von der Stirn.
»Hörst du nicht, Spatz? Geh’ zu Melanie. Ich hab’ doch keinen Homo großgezogen!«
Plötzlich standen seine Mutter und Melanie neben ihm. Blitzschnell packten sie schmerzhaft seine Arme. Er entriss sich impulsartig aus den Fängen und strauchelte zurück. Dabei stieß er gegen eine Wand aus Menschen.
Ihre Gesichter kamen ihm erschreckend bekannt vor und ihm gefror das Blut in den Adern. Das waren seine früheren Nachbarn.
»Das kann nicht sein«, entflohen ihm die Worte, während er panisch nach einer Fluchtmöglichkeit suchte.
»David, hilf mir!«
»Ich kann dir nicht helfen, Markiboy, so gern ich es auch tun würde. Das musst du ganz allein schaffen.«
Bedrohlich näherten ihm sich die Nachbarn. Umzingelten ihn. Kein Entkommen. Sein Puls raste.
»David, bitte! Mach doch was!« Er fühlte sich in die Enge getrieben.
»Ich kann nicht, Mark. Mir sind die Hände gebunden.«
Irritiert sah er auf. Blankes Entsetzen überkam ihn, als er zwei Furcht erweckende Männer neben David vorfand. Sie banden dem Jungen die Hände hinter seinem Rücken zusammen und stülpten einen Sack über seinen Kopf. Ihr hämisches Lachen drang tief in seine Ohren und er erschauderte dabei so sehr, dass er sich schüttelte, um diesen Klang aus seinem Inneren zu verbannen.
»Nein, lasst ihn in Ruhe!«
Gegen die aufkommenden Panik kam er nicht an. »Hört auf damit. Mama, sag’ doch was!«
»Es ist nur zu deinem Besten, Spatz. Komm her zu mir, ich tröste dich. So wie früher … weißt du noch?«
Seine Mutter trat auf ihn zu und breitete ihre Arme aus. Er wich kopfschüttelnd zurück.
»Nein! Das kannst du nicht ernst meinen …«
»Mark, entscheide dich!«, kam es laut flehend von David. »Komm zu mir. Lass deine Mutti labern, sie weiß nicht, was gut für dich ist!«
Entgeistert musste Mark mit ansehen, wie beide Männer jeweils einen Schlagstock über Davids Kopf erhoben. Mark wurde sofort kreidebleich.
»Was habt ihr vor?«
Er folgte mit weit aufgerissenen Augen der Bewegung der Waffen. Noch ehe er einen Schritt vorwärts machen konnte, packten ihn überfallartig unzählige Hände. Sie waren überall und hielten ihn mit aller Gewalt gefangen. Jegliche Gegenwehr blieb erfolglos.
Plötzlich ein markerschütternder Aufschrei. Mark zuckte fürchterlich zusammen. Die blanke Angst übermannte ihn.
David.
»NEIN!«
Haltlos liefen ihm Tränen aus dem Auge. »Wieso tut ihr das?«, brüllte er schluchzend und versuchte sich aus dem Klammergriff zu befreien. Vergebens.
»Hilf mir, Mark!«, flehte David.
»Lasst ihn in Ruhe!«
»Vergiss es, Mark«, zischte Melanie verächtlich. »Du gehörst zu mir und nicht zu diesem Abschaum. Sieh es dir gut an, denn das ist die gerechte Strafe für diesen Bastard!«
»Du bist doch krank!«, spuckte er seiner Ex-Freundin entgegen.
Sie näherte sich ihm mit finsterer Miene, doch er schubste sie von sich.
Zuerst schien sie empört darüber, aber sogleich bildete sich ein teuflisches Grinsen auf ihren Lippen.
»Ganz wie du willst, Mark. Sieh nur …«, sie deutete auf David, »Sieh genau hin und präge es dir gut ein. Typen wie er haben es nicht anders verdient. Und wenn du nicht zu mir kommst, bist du der nächste.«
»Du bist krank, Melanie. Ihr alle seid krank!«, schrie er verächtlich.
Verzweifelt suchte er eine rettende Möglichkeit, um dem Jungen zu helfen. Davids Schreie verstummten, doch in Marks Ohren hallten sie wie ein immerwährendes Echo umher.
Seine Mutter schien etwas zu sagen, jedoch kam kein einziger Laut aus ihrem Mund.
Seine Sicht verschleierte und er wischte sich fahrig mit der Hand durchs Gesicht. Sein eigener Hilfeschrei blieb tonlos.
Nichts kam aus ihm heraus. Er fühlte sich machtlos und verzweifelt. Als David in sich zusammensackte und anschließend wie ein Stein von der Plattform herunterfiel, schlug Mark beide Hände über den Kopf zusammen und erstarrte. Der Körper traf auf das Kopfsteinpflaster auf und Mark sank kraftlos zu Boden, laut schluchzend. Seine Brust zog sich schmerzlich zusammen und als er zu ersticken glaubte, wurde alles um ihn herum schwarz.