An diesem Morgen erwachte Mark durch ein lautes Poltern und Fluchen. Aufgeschreckt drehte er sich auf den Rücken und suchte nach der Ursache, die er auch sogleich fand: David stand nach vorne gebeugt, leise fluchend vor dem Bett und rieb sich das Knie. Als er aufsah, hielt er inne.
»Moin«, sagte dieser. »Sorry, ich wollte dich nicht wecken.«
Mark rieb sich verschlafen übers Gesicht. »Morgen. Was hast du gemacht?«
Hast du etwa wieder gewütet, kleiner Wirbelwind?
»Wenn ich dir das erzähle, glaubst du es mir doch nicht.«
Mark sah David abwartend an und bedeutete mit einer Handgeste fortzufahren. Wahrscheinlich würde er ihm nicht glauben, aber auf dessen Erklärung war er mehr als gespannt. Innerlich machte er sich auf alles gefasst.
Geräuschvoll stieß David seinen Atem aus. »Na schön, ich habe eine neue Technik in Karate ausprobiert«
Du machst Kampfsport am Morgen? Nie im Leben.
»Und?«
»Ich war kurz davor zu gewinnen«, sagte David und wirkte dabei genervt. »Hör auf, so dämlich zu grinsen.«
»Und wer hat jetzt gewonnen?«
»Das Bett.« David ließ die Schultern hängen und seufzte.
Die ganze Situation war für Mark urkomisch. Am liebsten würde er dem anderen einen Lolli in die Hand drücken, wie es Erwachsene bei kleinen Kindern taten, wenn diese schmollten. Marks Hand zuckte schon.
»Also musst du noch an deiner neuen Technik feilen, hm?« Mark überlegte, ob etwas Süßes in seiner Tasche war. Dabei fiel ihm ein, dass noch einer dieser Müsliriegel in seiner Tasche lag , den er zuhause für den Hinweg eingepackt hatte. Er stellte sich vor, wie er ihm diesen gab und ihm mit den Worten »Hast du trotzdem toll gemacht« über den Kopf streicheln würde. Dies ließ ihn innerlich laut auflachen.
»Jup. Aber nächstes Mal klappt es.«
»Nächstes Mal? Wolltest du nicht heute mit deiner Schwester sprechen, weil du schon die letzten beiden Nächte hier geschlafen hast? Haben wir doch gestern Abend noch drüber gesprochen.« Hatte David ihm etwa versteckt mitgeteilt, dass dieser sich ein weiteres Mal bei ihm einnisten würde? Gedanklich nahm er ihm den Müsliriegel wieder ab.
David fuhr herum und sah ihn an. »Wollte ich?«
»Ja, wolltest du.«
David brummte. »Ich lass mir was einfallen, ja?«
Gleich wandte er sich wieder um und nahm seine Kleidung vom gestrigen Tag vom Stuhl. Mit einer fließenden Bewegung zog er sich das Oberteil, das er in der Nacht getragen hatte, über den Kopf.
»Was hast du vor?« Mark setzte sich auf und konnte den Blick nicht vom nackten Oberkörper abwenden, als wäre dieser ein Magnet, der seine Augen magisch anzog.
»Siehst du doch. Ich zieh mich um.«
»Witzbold. Wohin willst du?« Mark sah dabei zu, wie David sich die Hose von den Beinen abstreifte und starrte auf die freigelegte Kehrseite. Hitze stieg ihm ins Gesicht und ruckartig löste er sich von diesem Anblick.
»Wirst du gleich sehen. Bleib einfach liegen.« David schlüpfte in die andere Kleidung, schnappte sich den Schlüssel von der Kommode und lief zur Tür. »Tschöö!«
Mark sah wie David hinter der Tür verschwand und fragte sich, was der nur wieder vorhatte. Entgegen der Aufforderung liegen zu bleiben stand er auf und lief zum Fenster, öffnete die Vorhänge und die Terrassentür. Die frische Luft tat gut und ließ sein vor Scham erhitztes Gesicht abkühlen. Er fuhr sich fahrig durch die zerzausten Haare und zum Meer blickend stieß er geräuschvoll den Atem aus. Wie würde sich Davids Haut unter seinen Fingern anfühlen? Er verdrängte den Gedanken schnell und schüttelte kaum merklich den Kopf. Das war doch alles irrsinnig. Aber die Bilder, die gerade in seinem Kopf herumschwirrten, ließen sich nicht so einfach abschütteln. So sehr er sich auch bemühte. Er musste auf andere Gedanken kommen und fixierte in der Ferne ein Frachtschiff, das wahrscheinlich irgendwelche Waren aus China importierte. Irgendwoher mussten doch die ganzen Souvenirs herkommen, die hier an der Küste zu erwerben waren. Leuchttürme aus Kunststoff, deren Äußeres an eine Qual der Augen grenzte und den Geschmack der Menschen, die sie kauften, infrage stellte. Ganz zu schweigen von den unzähligen Schlüsselanhängern und Tassen, die mit Namen und Meerestieren bedruckt waren. In diesem Moment begann sein Smartphone zu brummen und Mark überlegte augenblicklich eine Ausrede. Zur Uhr blickend rollte er mit den Augen und nahm das nervige Gerät in seine Hand. Noch keine neun Uhr und schon rief ihn seine Mutter an. Er drückte den grünen Hörer.
»Moin, Mama. Was gibt's?« Er setzte sich auf die Bettkante und ließ sich rücklings auf die Matratze fallen.
»Guten Morgen, mein Spatz. Ich wollte nur mal hören, ob alles gut ist und dein Vater sagte eben beim Frühstück, dass du dir unbedingt Sylt ansehen solltest, wenn du schon mal da oben bist. Kannst du dich noch dran erinnern, als wir mit dir dort waren?«
Mark seufzte. »Ja, Mama, es ist alles gut. Was soll auch schon sein? Hier scheint die Sonne und das Meer ist immer noch da, wo es hingehört. Hier passiert nichts«, sagte er und wurde unterbrochen.
»Das sagst du so. Heute Morgen kam in den Nachrichten, dass irgendwo ein Tsunami eine ganze Feriensiedlung weggeschwemmt hat. Drei Tote und vier sind noch nicht gefunden worden. Schrecklich. Mir wäre es lieber, wenn du nicht da oben wärst. Stell dir nur mal vor, dass das auch bei dir passieren könnte. Und ich bekäme das in den Nachrichten mit und kann dich nicht mehr erreichen. Du bist doch ganz alleine gefahren. Hättest besser Melanie mitnehmen können.«
»Mama, ich weiß auf mich aufzupassen, okay? Und hör bitte damit auf, mir ständig mit Melanie um die Kurve zu kommen. Begreife es bitte, dass ich nicht mehr mit ihr zusammen bin und es auch nicht weiter möchte und « Mark stockte, als er das Öffnen der Tür hörte und aus seinen Augenwinkeln David hereinkommen sah.
»Hi Schatz, ich bin wieder da und habe uns Frühstück mitgebracht«, sagte dieser fröhlich und Mark sah zu ihm herüber. In der Hand trug David eine weiße Papiertüte und der Geruch von frisch gebackenen Brötchen wehte um Marks Nase.
Schatz?
»Wer ist das? Und wieso nennt er dich Schatz? Bist du doch nicht alleine gefahren?«, hörte Mark seine Mutter fragen und sah sich in Erklärungsnot.
»Das ist nur David und der hat sich einen Scherz erlaubt. Ich habe ihn hier kennengelernt und er hat bei mir geschlafen, weil er Stress mit seiner Schwester hat.«
»Aha. Und der nennt dich einfach so Schatz? Hast du mir etwas zu sagen, mein Sohn?«
Mark schloss die Augen und rieb sich die Nase. Ihre Worte klangen für ihn wie eine Verhör aus seiner Kindheit, als wollte sie von ihm wissen, was er angestellt hatte. »Nein, ich habe nichts zu sagen. Wie ich bereits sagte, er hat nur einen Spaß gemacht. Ist sonst noch was?«
David trat zu ihm ans Bett und machte ein fragendes Gesicht. Mark deutete diesem mit einer Handbewegung an, ruhig zu sein.
»Dann bin ich erleichtert. Ich dachte schon, du wärst jetzt plötzlich schwul geworden. Nicht auszudenken, wie schlimm das wäre und was sollen die ganzen Nachbarn erst denken wenn du mit einem Mann …«
Wie bitte?
»Mama! Jetzt reicht es aber!«, platzte es aus ihm heraus. »Und selbst wenn es so wäre, ich bin alt genug, um selbst zu entscheiden. Sonst noch was?« Er setzte sich abrupt auf und blickte wahllos durch den Raum, bis er bei David hängenblieb, der ihn erschrocken ansah.
»Nein. Und es tut mir leid, Spatz. Ich weiß doch, dass mein Junge nicht vom anderen Ufer ist«, sagte sie und klang dabei versöhnlich. »WAS? NEIN, IST ER NICHT. HÄ? JA, HABE ICH IHM GESAGT! Dein Vater sagte eben nochmal, dass du Sylt nicht vergessen sollst.«
Die Worte seiner Mutter ließen den Boden unter Marks Füßen schwanken. Nie hatte er gedacht, dass sie zu so einer Reaktion fähig war.
»Ja, ich habe mir alles gemerkt. So, ich lege jetzt auf. Grüß Papa von mir«, sagte er in einem Tonfall, der ihm selbst fremd vorkam.
»Alles klar, Spatz. Viel Spaß. Hab dich lieb.«
»Ich dich … auch.« Mark legte auf und ließ sich mit geschlossenen Augen zurück aufs Bett sinken.
»Was ist? War das Mutti?«
Neben ihm senkte sich die Matratze und als Mark aufsah, saß David neben ihm. »Ja, und wegen deines ‚Hi Schatz glaubte sie, ich wäre plötzlich schwul.«
»Ja, und?«
»Wie, ja und? Ich bin es nicht«, echauffierte sich Mark.
David legte seine Hand auf Marks Schulter. »Reg dich nicht so auf. Ist doch jetzt alles geklärt. Komm, lass uns frühstücken.« Er erhob sich vom Bett, lief zur Küchennische und durchsuchte dort alle Schränke, bis er Teller, Tassen sowie Besteck gefunden hatte und begann danach, den Tisch einzudecken. Mark beobachtete ihn dabei und seine Gedanken kreisten fortwährend um das Gespräch mit seiner Mutter. Ihre Stimme hatte entsetzt geklungen. Dachte sie wirklich so negativ über homosexuelle Menschen? David hingegen schien das weniger gestört zu haben, so wie der reagiert hatte. Bevor Mark sich noch weiter den Kopf zerbrach, stand er auf und setzte sich an den Tisch, den David mit erstaunlich viel Auswahl an Aufschnitt und Marmelade gedeckt hatte. Selbst Teebeutel hingen bereits in den Tassen. Ein komisches Gefühl breitete sich in ihm aus, als er David, eine Melodie summend, am Wasserkocher stehen sah. ‚Hi Schatz, kam ihm seine Begrüßung erneut in den Sinn. Noch nie hatte ihn ein Mann mit solchen Worten angesprochen, genauso wenig daraufhin ein Frühstück für ihn gemacht. Selbst Dennis nicht.
»Wenn du das Brötchen essen willst, dann nimm es dir. Von alleine kommt es nicht zu dir«, sagte David, als er zum Tisch kam und Mark damit aus seinen Gedanken riss.
David schüttete das dampfende Wasser in die Tassen und Mark folgte den aufsteigenden Schwaden, die ihm wie seine momentanen Gedanken vorkamen, welche in alle möglichen Richtungen zu gehen schienen. In seinem Kopf blieb eine Leere zurück, die sich zunehmend mit einem Bild von David füllte.
»Witzbold. Also wenn ich das hier«, Mark gestikulierte mit seiner Hand zum Tisch, »jetzt jeden Morgen bekomme, dann darfst du gerne jede Nacht hier schlafen.«
»Ich nehm dich beim Wort, aber gewöhn dich nicht dran. Sieh es als kleines Dankeschön, weil ich hier pennen durfte. Und jetzt hau rein, sonst sind die Brötchen gleich ganz kalt.«
Schmunzelnd wollte Mark nach einem Brötchen greifen, als David es ihm gleichtat und dabei seine Hand streifte. Es war nur eine flüchtige Berührung, jedoch begann die Stelle auf seiner Haut sofort zu kribbeln. Er sah daraufhin zu David auf. »Kämpfen wir jetzt schon um die Brötchen, Schatz?« Er betonte den Kosenamen und setzte ein verschmitztes Lächeln auf.
»Soll ich dir deine Hälfte mit Käse oder Wurst belegen, Schatzi?«, entgegnete David mit zuckersüßer Stimme und zog mit einer raschen Bewegung das Objekt der Begierde aus Marks Händen.
»Wenn uns einer hören könnte, dann «
»Dann was?«, wollte David wissen.
»Ja, was dann, David?«, drang eine weibliche Stimme zu ihnen herüber.
Beide fuhren herum und blickten zur Terrassentür, in der Davids Schwester mit hochgezogener Augenbraue stand. Sie strahlte übers ganze Gesicht wie ein Honigkuchenpferd.
»Man könnte glatt denken, ihr seid ein Paar«, fuhr sie fort.
»Was machst du hier?«, wollte David patzig wissen, stand auf und stellte sich zu ihr.
»Ich wollte dich fragen, ob du mit nach Sylt möchtest. Sascha und ich wollten gleich los. Ich habe dich mehrmals angerufen, aber du gehst ja nie an dein Handy. Also?«
»Nein, ich hab schon was vor. Aber viel Spaß euch.«
»Okay, dann nicht. Und du bist?« Sie wandte sich an Mark.
»Mark.« Er stand auf, um der Schwester zur Begrüßung die Hand zu reichen. »Schleichst du dich immer auf fremde Terrassen?«
»Manuela«, stellte sie sich vor und schüttelte Marks Hand. »Nein, eigentlich nicht, aber ich habe euch von dort gesehen und bin gleich hereingekommen. Mark also und ihr kennt euch?« Sie deutete mit ihrem manikürten Zeigefinger zwischen beiden Männern hin und her.
»Seit zwei Tagen erst«, sagte Mark.
»Genau. Ist sonst noch was? Wir wollen nämlich frühstücken und du hältst uns davon ab.«
Manuela hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut, schon gut. Ich will euch gar nicht weiter stören. Es kann aber sein, dass wir erst morgen wieder zurück sind. Eventuell bleiben wir spontan in einer Pension, wenn es uns dort gut gefällt. Gibt einiges zu sehen. Ich schreib dir dann.«
»Jup. Und jetzt mach `ne Fliege bevor ich dich mit dem Brötchen bewerfe.«
Manuela stöhnte. »Beruhig dich mal, Junge. Mark, hast du auch so freundliche Geschwister?«, fragte sie betont ironisch.
»Nein, warum?« Marks Mundwinkel zuckten bereits, als er sah, wie Davids Miene sich verfinsterte.
»Ach, hätte ja sein können, dass deine weitaus umgänglicher sind als die Satansbrut neben mir«, sagte sie und schrie im nächsten Moment auf, als David ein Brötchen nach ihr geworfen hatte. »Hey! Mit Essen spielt man nicht, du Arsch.« Sie rieb sich den Bauch. »Außerdem hätte ich auch Schwanger sein können, du Monster.«
»Hättest du nicht. Bei deinem Gestöhne ergreifen Saschas Spermien doch sofort die Flucht, und nicht nur die«, warf David ihr an den Kopf.
Augenblicklich wurde Manuela vor Scham Puterrot und im nächsten Moment verengte sie ihre Augen zu Schlitzen. »Du bist unmöglich, David.« Sie wandte sich schließlich mit aufgehellter Miene Mark zu. »War nett, dich kennengelernt zu haben, Mark. Ich muss mich für meinen Bruder entschuldigen. Aber so ist er nun mal, nicht wahr, Bruderherz?«
Mark lachte auf. »Ja, so in etwa habe ich ihn schon kennengelernt.«
»Fall mir gefälligst nicht in den Rücken, oder du bekommst nichts zu essen.« David verschränkte die Arme vor der Brust, in seinem Gesicht war eine Spur Trotz zu erkennen.
»In welchen Rücken? Aliens haben nur Panzer, du Spast.« Sie sah ihren Bruder herausfordernd an.
Wo bin ich hier nur gelandet?
»Und du bist `ne Schlangenbrut, die hoffentlich an ihrer Beute ersticken wird.«
»Hey, Leute, könnt ihr euch mal wieder beruhigen?«, rief Mark zwischen die beiden Streithähne und hob besänftigend die Hände. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber wolltest du nicht mit deinem Freund nach Sylt?«
»Ja, wollte ich. Sorry, aber so ist es immer zwischen uns. Okay, ich bin jetzt weg. Und Mark«, sie trat an ihn heran und beugte sich zu seinem Ohr, »wenn dir dein Urlaub lieb und heilig ist, dann halte dich von ihm fern. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.«
»Ich kann ganz gut auf mich aufpassen«, sagte Mark. »Aber danke für die Warnung.« Zwinkernd erwiderte er Manuelas Blick.
»Schön, ich bin dann weg. Also, wenn wir auf der Insel bleiben, dann melde ich mich. Tschüssi.« Sie winkte und verschwand durch die Tür.
»Die ist so nervig. Aber hast du gesehen, wie rot sie geworden ist, als ich ihr gesagt hab, dass sie stöhnt?« David lachte und setzte sich lässig zurück auf den Stuhl. »Das war ihr richtig unangenehm. Egal. Hunger, Schatz?« Er sah Mark abwartend an, während er ein Brötchen aus dem Korb nahm und es danach vor sich in die Höhe hielt.
»Ich glaube, ihr gebt euch beide nichts.« Mark setzte sich David gegenüber und holte den Teebeutel aus seiner Tasse, deren Inhalt bereits dunkelrot durchgezogen war.
»Du hast keine Ahnung«, hörte er David motzen, der ihm währenddessen eine Brötchenhälfte herüberreichte. »Also, für morgen reicht das Essen noch, aber wir sollten noch einkaufen, bevor wir zum Strand gehen.«
Mark schüttelte amüsiert den Kopf und begann sich das Brötchen zu belegen. Er kam nicht umhin sich zu fragen, wie David sich das vorstellte, wenn er sich weiterhin ungefragt bei ihm einnistete. Wollte der jetzt die ganzen drei Wochen bei ihm im Bett schlafen und den Bungalow mit beanspruchen? Mark beobachtete David beim Essen und ihm fielen drei Möglichkeiten ein. Die erste war eine Luftmatratze, die noch besorgt werden musste, die zweite Option war, an der Rezeption zu fragen, ob in der Zwischenzeit eine andere Unterkunft freigeworden war und die dritte Aussicht hieß für David, dass der mit seiner Schwester sprechen musste. Mark fühlte sich während dieser Überlegungen unwohl, legte das Brötchen an die Seite und trank etwas von dem Früchtetee, der einen säuerlich bitteren Geschmack auf der Zunge hinterließ. Mit dem Blick auf David gerichtet, kam das schlechte Gewissen in Mark hoch, da er diesen mit seinen Erwägungen mehr oder weniger vor die Tür setzen würde. Mark war innerlich zerissen. Eine seiner inneren Stimmen sagte, er solle David bei sich wohnen lassen und näher kennenlernen, die andere hingegen rief laut und deutlich, er solle sich schnellstmöglich von ihm losreißen und entfernen, weil der Junge eine Gefahr war und Mark ins Verderben führen würde. Was, wenn die Vermutung seiner Mutter zutraf? Mark beschloss, den Tag erst einmal abzuwarten, um zu sehen, wie er sich gestaltete.
Nach dem Frühstück fuhren sie in den nächsten Ort, um Lebensmittel zu besorgen und kamen wenig später zum Ferienpark zurück. Dort zogen sie sich beide in Marks Bungalow eine Schwimmshorts an und liefen zum Strand, wo sie sich einen Strandkorb mieteten.
»Welche Nummer haben wir?«
David blickte auf den Schlüsselanhänger. »Siebenundvierzig. Der soll weit vorne stehen.«
Blinzelnd hielt Mark seine Hand über die Augen und suchte den Strandkorb. »Hab ihn gefunden. Da vorne, beim Wellenbrecher.«
»Na dann, los.«
Mark spürte den heißen Sand an seinen Füßen und die brennende Sonne auf seiner Haut. Sich die Schweißtropfen von der Stirn wischend, schätzte er die Temperatur bereits auf dreißig Grad. Nach weiteren Metern durch die Hitze laufend, erreichten sie ihr Ziel. Die weiße Farbe des Geflechts schien erst kürzlich erneuert worden zu sein und reflektierte das Sonnenlicht nahezu wie ein Spiegel in Marks Gesicht.
David schloss den Strandkorb auf und entfernte das hölzerne Gitter. Nach einem kurzen Blick zog er die Fußstützen hervor und machte eine ausladende Handbewegung. »Ich präsentiere Euch meinen Thron. Mir beliebt die Gesellschaft von Euch, Mark dem Ratlosen. So nehmet zu meiner Linken Platz und geleitet mich durch den Tag bis Sonnenuntergang.« Seine Inszenierung beendete er mit einer angedeuteten Verbeugung und wies mit seiner Hand auf einen Sitzplatz.
Du meinst wohl die nächsten drei Wochen.
Mark verneigte sich tief und versuchte dabei, sein amüsiertes Gesicht zu verbergen. »Mein Herrscher, ich bitte untertänigst um Verzeihung, aber ihr solltet Euch in den Schutz Eures Thrones begeben. Die Sonne, mein Herrscher, tut Euch nicht gut.«
»So gehorchet Eurem Herrscher des hohen Nordens und füget Euch.« David setzte sich in den Strandkorb und klopfte auffordernd auf den freien Platz.
»Am besten bleibst du heute hier sitzen und meidest die Sonne«, sagte Mark lachend und setzte sich. Sogleich spürte er Davids nackte Schulter an seiner und die Stelle begann zu kribbeln.
»Nö, ich weiß was Besseres«, sagte David und sprang auf. »Ich gehe ins Wasser, kommst du mit?«
»Klar, ich brauche dringend eine Abkühlung.«
David rannte plötzlich los und sprang im nächsten Augenblick in die Wellen. Als er wieder auftauchte, stieß der einen Laut aus, worauf Mark belustigt mit dem Kopf schüttelte. Er tastete sich jedoch langsam vor und spürte sofort die Kälte an seinen Beinen, die ihm eine Gänsehaut bescherte.
»Jetzt komm rein, du stehst da wie ein Mädchen«, hörte er Davids Stimme und bekam sogleich eine Wasserfontäne ins Gesicht. Die Wasserperlen rannen wie Eiswürfel auf seiner erhitzten Haut herab und er sah, wie sich seine feinen Haare an den Armen aufstellten. »Das bekommst du wieder«, rief er keuchend, sprang unmittelbar darauf in die Fluten und schwamm hinter David her. »Ich krieg’ dich, du Sadist!«
David schrie lachend auf und schwamm wie von der Tarantel gestochen los, während er sich hin und wieder nach hinten umsah. Allerdings holte Mark zügig auf, erwischte David, der sich laut kichernd zu wehren versuchte und zog diesen am Bein zurück, um ihn unter Wasser zu drücken, bis er Gnade walten und David los ließ. Dieser tauchte wieder auf, schnappte nach Luft und schien mit seinen Albernheiten noch lange nicht fertig zu sein, denn plötzlich schlangen sich Beine um Marks Körper und David drückte ihn mit seinen Armen rücklings unter die Wasseroberfläche. Mark versuchte, sich zu wehren, doch David hielt ihn fest umklammert unten, bis Mark einen geeigneten Moment abpasste und sie beide drehte.
»Netter Versuch, Kleiner, aber da musst du mir schon mehr bieten«, japste Mark und im Handumdrehen hatte er die Oberhand, doch David klammerte sich im nächsten Moment wie eine Klette an ihm fest.
»Vergiss es, ich, dein Herrscher, regiere über die Ozeane.« David streckte seinen Arm in die Höhe und rief: »Gib auf, du Wicht.«
»Niemals!« Mark lachte hämisch auf.
»Ich werde Euch meinen Zorn spüren lassen.«
So schnell konnte Mark nicht reagieren, wie David sich von ihm gelöst hatte und ihn dann erneut von hinten in die Mangel nahm.
»Sag Adieu, du Halunke«, forderte dieser.
»Adieu, du Halunke.« Mark griff nach Davids Armen und drückte sie auseinander, dann wandte er sich um und riss ihn zur Seite.
»Du widersetzt dich mir « weiter kam David nicht, denn sogleich verschwand er unter dem Wasser.
Während die beiden weiterhin herumalberten, trat eine dunkelhaarige Frau auf den Dielenweg und blieb stehen. Es schien, als würde sie die Jungs beobachten, dabei legte sie sich eine Hand vor die Stirn, da die Sonne blendete. Sie zückte etwas aus ihrer Tasche und es sah so aus, als würde sie in ein kleines Notizbuch schreiben, das sie daraufhin zurücksteckte. Danach hob sie ihren Blick und es sah sehr danach aus, als würde sie wieder in dieselbe Richtung sehen und sogar mit dem Kopf schütteln. Danach wandte sie sich um und lief den Weg, den sie gekommen war, mit schnellen Schritten zurück. Von alledem hatten Mark und David nichts mitbekommen. Sie stiegen laut kichernd und sich gegenseitig schubsend aus dem Wasser, bis sie ihren Strandkorb erreichten und sich auf die Sitze fallen ließen.
David kramte in der Kühltasche. »Ich hab genau das Richtige für jetzt.«
»Ja?« Im nächsten Moment bekam Mark eine eiskalte Dose gereicht. »Whisky-Cola? Jetzt schon?«
»Wann denn sonst? Wäre dir`ne Weinschorle lieber gewesen?« David öffnete die Dose und hielt sie sich an die Stirn.
»Ernsthaft? Nein.« Mark tat es ihm gleich. »Na dann: auf den Herrscher, der seinen Titel abgeben musste.«
David schnaufte. »Vergiss es. Ich war eindeutig besser.«
»Besser im Untergehen, da stimme ich dir zu.«
»Halt die Klappe und trink.«
Mark tat genau das und lehnte sich an den weichen Stoffe des Polsters zurück. Von dieser Position sah er genau auf die Wellenbrecher, vor denen kleine Kinder im feuchten Sand etwas zu suchen schienen und andere, die auf den verwitterten Holzpfählen balancierten.
»Das habe ich früher auch mal gemacht sagte David. »Und dann bin ich ausgerutscht. Hier!« Er zog den Bund seiner Shorts etwas herunter. »Man sieht es nicht mehr deutlich, aber das hat geblutet ohne Ende. Da war ich sechs.«
Mark sah zu ihm herüber und fand an Davids Hüfte eine blasse Narbe. Er wollte einmal darüberfassen, zügelte sich aber sofort, weil es ihm falsch vorkam. »Als ich so alt war, bin ich in eine Muschel getreten, aber davon sieht man nichts mehr. Danach durfte ich nicht mehr ins Wasser, weil meine Mutter Angst hatte, dass es sich entzündet.«
»Auch toll.« David holte zwei weitere Dosen hervor und reichte eine davon an Mark. Seine öffnete er sogleich. »Du kämpfst nicht nur wie ein Mädchen, du trinkst auch wie eins.«
»Hey, ich bin ein Genießer», sagte Mark. »Willst du dich heute abfüllen?«
»So der Plan. Sonne, Wasser und Sprit. Letzteres macht locker. Genau das Richtige für dich.«
»Wenn du meinst …«
»Meine ich. Und jetzt hopp, hopp, hopp, die Schoppe in den Kopp.«
Lachend stieß Mark mit David an und es kam ihm so vor, als würde er mit jedem weiteren Schluck des alkoholischen Getränks gelassener werden. Allerdings empfand er die zufälligen Berührungen mit David viel intensiver als zuvor, denn das Kribbeln schien seinen ganzen Körper einzunehmen und seine Neugier, die Haut des anderen bewusst zu berühren, wuchs rasant. Wie ein Magnet fanden Marks Augen den Weg zu Davids Lippen. Er schluckte nervös und sah abrubt zurück zum Wellenbrecher, wo er ein Paar fand, das sich küssend in den Armen lag. Das musste wohl Schicksal sein, dachte er und folgte stattdessen einer Möwe, die sich im Wattenmeer niederließ und mit dem Schnabel darin herumstocherte. Ein kleiner Junge mit roten Haaren und einer hellblauen Badehose rannte auf diese zu und schien nach jemandem zu rufen. Mark konnte nicht verstehen, was er rief, aber im nächsten Moment ergriff die Möwe die Flucht, noch bevor das Kind sie erreichte. Mark sah ihr beim Fliegen zu, bis sie nur unweit von ihm auf einer Sandburgruine landete und mehrere Laute von sich gab, als würde sie sich beschweren wollen. Eine zweite kam hinzu und schien den Platz verteidigen zu wollen, so wie sie die Flügel spreizte und die andere anschrie. Mark lachte innerlich über seine eigenen Gedanken und stempelte sich selbst als verrückt ab. Durch eine Regung und das Knarzen des Korbgeflechtes neben sich löste er den Blick von den Tieren und wandte sich zu David um, der ihn ganz unverholen musterte. »Was ist?«
»Nichts. Ich habe mich nur gefragt, wo du schon wieder mit dem Kopp bist. Du warst so still auf einmal.«
Ich war gar nicht so weit weg.
»Ja und? Ich genieße das hier gerade sehr. Es gibt so viel zu sehen und niemand stört mich dabei. Das muss ich ausnutzen.«
»Na, ich bin ja auch neben dir, da man sich auch nur wohlfühlen«, frotzelte David und grinste schief.
»Du bist echt eine Fall für sich, weißt du das?«
»Na, momentan bin ich ja wohl dein Fall.«
Wie bitte?
»Was?« stieß Mark etwas lauter als gewollt heraus. »Wie meinst du das?«
»Na, dein Fall. Ich sitze neben dir und ich penne bei dir. Also bin ich dein Fall«, sagte David. »Was guckst du denn jetzt so, als hättest du an irgendwelchen Fröschen geleckt?« Er neigte sich zu Mark, der daraufhin zurückwich. »Hast du?«
Mark schüttelte mit dem Kopf. »Siehst du hier welche? Du hast merkwürdige Einfälle.«
»Hätte doch sein können. Pilze?«
»Nein.«
»Pillen?«
»Nein. Hör auf jetzt«, giggelte Mark und schubste David an der Schulter zurück.
»Ich mach doch gar nichts.«
»Doch«, hielt Mark dagegen und wurde ohne Übergang ernst. »Du machst eine ganze Menge. Und dafür danke ich dir.« Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte diese einmal.
David hielt inne. »Was hab ich denn gemacht?«
»Du wahrscheinlich nichts. Aber dass du bist wie du bist, reicht mir vollkommen aus. Und jetzt guckst du selbst wie so ein Auto.«
Ein feines Lächeln schlich sich auf Davids Lippen, das auch seine Augen erreichte. Er öffnete seinen Mund und schloss ihn im nächsten Moment gleich wieder.
Mark bemerkte eine Veränderung in Davids Blick, die er aber nicht richtig zu deuten wusste, aber einem Impuls folgend beugte er sich zu David vor.