Langsam füllte sich das Café mit weiteren Gästen und das Stimmengewirr wurde lauter. Mark hatte sich gemütlich im Stuhl zurückgelehnt und besah sich seelenruhig das rege Treiben am Strand. Während einige der Badegäste längst im Schutz der Sonnenschirme lagen, versuchten andere sich an dem Aufbau dieser mehrfarbigen Muschelzelte, was anscheinend nicht so einfach war. Am Wasser waren das Mädchen und ihr Freund Sascha, die in unterschiedlichen Posen reichlich Fotos von sich machten. Der dritte im Bunde saß noch immer am selben Tisch wie zuvor und starrte auf sein Smartphone. Gelegentlich grinste er dabei oder strich sich wiederkehrend ein paar Haarsträhnen aus der Stirn, die sich dorthin verirrt hatten. Vielleicht berichtete er seinen Freunden von dem heutigen Tag oder musste sich mit neidischen Nachrichten herumschlagen. Um seine Begleiter schien er sich jedenfalls nicht weiter zu kümmern. Wahrscheinlich war er froh darüber, dem Glück der beiden anderen nicht ständig beiwohnen zu müssen und genoss die vorübergehende Ruhe, um selbst entspannen zu können. Mark fragte sich, ob der Typ sich kontinuierlich so aufällig benahm oder ob der nur einen schlechten Tag gehabt hatte. Noch nie hatte er einen zugleich witzigen und unmöglichen Menschen erlebt, der ihn auf eine unbekannte Art und Weise faszinierte.
»Da bin ich wieder. Puh, einiges los heute. Sind Sie noch glücklich und zufrieden oder darf ich Ihnen noch etwas bringen?« Während Maria sprach, folgte sie Marks Blick und ihre Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln.
»Ich bin auf dem besten Weg dorthin. Ist wirklich schön hier.« Er löste den Blick von David und schenkte der Bedienung ein Lächeln.
»Sind Sie noch nie hier oben gewesen?« Der Unglaube stand ihr im Gesicht geschrieben.
»Doch, aber da war ich fünf oder sechs Jahre alt. Ist also schon ewig her.«
»Na, dann haben Sie ja noch einiges zu entdecken. Hat sich viel verändert. Ich heiße übrigens Maria, dann können wir das Sie weglassen. Das klingt immer so, als wäre ich schon steinalt.« Lachend stupste sie ihn mit dem Ellenbogen an die Schulter.
»Mark.«
»Also Mark, hast du noch einen Wunsch?«
»Nein, aber ich möchte gerne zahlen.«
»Sehr gerne.«
Während Maria auf ihrem Block zu rechnen begann, suchte Mark seinen Geldbeutel und griff ins Leere. Es kam alles auf einmal. Schlagartig lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken, gefolgt von einer Hitzewelle, die seine Wangen unerträglich brennen ließ, derweil sein Herz einen ungesund schnellen Rhythmus annahm.
Das kann doch nicht wahr sein!
Sein Geldbeutel lag in der Tasche und diese war im Bungalow auf dem Bett. Verdammt! Das ihm das nicht schon früher aufgefallen war.
»So, das sind acht Euro vierzig, bitte.« Sie zückte das riesige Portmonee, das die Größe einer kleinen Handtasche besaß, hervor.
Wie kam er jetzt an Geld? Unbezahlt einfach weglaufen kam gar nicht infrage.
»Entschuldigung, einen Moment, bitte.« Er stand auf und schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch, bis er den Platz von David erreichte und den jungen Mann ansprach.
»Entschuldigung? David, richtig?«
Der junge Mann sah verdutzt auf und legte den Kopf schief.
»Wer will das wissen?«
»Der Typ, dessen Auto du Karre genannt hast.«
»Davon gibt es viele.« Grinsend lehnte sich David zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Dachte ich mir …«, nuschelte Mark in seinen nicht vorhandenen Bart. »Hör’ mal, ich habe mein Geld im Bungalow vergessen. Würdest du mir bitte zehn Euro leihen? Die bekommst du heute Abend wieder.«
»Kannst du es nicht einfach eben holen? Oder bist du zu faul zum Laufen. Ist ja nicht so, dass wir hier kilometerweit vom Park entfernt sind.« David erhob eine Braue und musterte ihn abschätzig.
Mark stieß geräuschvoll den Atem aus und fuhr sich fahrig durch die Haare.
»Ich habe eine lange Fahrt hinter mir und wollte mich etwas hinlegen. Aber gut, ich spreche mit der Bedienung.« Er war im Begriff zu gehen, als er plötzlich am Handgelenk festgehalten wurde.
»Der blaue Wagen vor der vierunddreißig?«, fragte David.
»Oceanblue metallic, ja.«
»Wie heißt du?«
»Mark.«
»Okay, Mark«, sagte David und zog den Namen künstlich in die Länge. »Unter einer Voraussetzung: Du fährst mich morgen in die Stadt.«
»Ähm … eine Hand wäscht die andere, was?«
»So sieht's aus, Markiboy. Also … Deal?«
»Deal!« Mark musste bei dem Spitznamen, der ihm soeben verpasst wurde, unweigerlich schmunzeln.
Der Euroschein wechselte den Besitzer und Mark fiel eine große Last von den Schultern. Ein weiteres Mal würde er seine Taschen nicht vergessen und schrieb sich diesen Gedanken sprichwörtlich hinter die Ohren.
»Hier steckst du. Ich dachte schon, du wärst mir durch die Lappen gegangen.« Die Bedienung blickte zwischen den beiden Jungs hin und her, konzentrierte sich dann auf Mark.
»Es tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat. Es ist eben nicht leicht, an Geld zu kommen«, erwiderte er flachsend und überreichte Maria die Banknote, »Passt so.«
»Vielen Dank.« Das Geld steckte sie mit flinken Fingern in den Geldbeutel. »Und ihr kennt euch?«
»Nope«, »Flüchtig«, kam es von beiden Jungs gleichzeitig.
Maria schien die knappen Antworten falsch gedeutet zu haben. »Ach, verstehe. Ihr werdet euch schon noch entspannen und dann wieder zueinanderfinden. Bisher hat das bei allen geklappt, die eine Beziehungskrise hatten.« Die entsetzten Gesichter der jungen Männer brachte Maria zum Lachen.
»Wir sind nicht zusammen. Wir machen getrennt voneinander Urlaub«, erklärte Mark und schüttelte vehement mit dem Kopf, um seine Aussage zu unterstreichen. Ein roter Schimmer legte sich auf seine Wangen. Wie kam Maria auf so eine absurde Idee, er wäre mit einem Mann zusammen? Hatte er falsche Signale gesendet? Die alleinige Vorstellung, dass es so gewesen wäre, hätte abwegiger nicht sein können.
»Genau. Wir kennen uns eigentlich gar nicht.« David musterte die Bedienung mit einem schiefen Grinsen.
»Oh, ich bitte um Entschuldigung. Aber was noch nicht ist, kann ja noch werden. Okay Jungs, ich muss weiter. Tschüss Mark.« Grinsend verließ sie die beiden Männer, die sich verdutzt ansahen und mit den Schultern zuckten.
»Was war das denn?« Mark fand zuerst die Worte wieder. Der Unglaube stand ihm im Gesicht geschrieben.
»Kein Plan. Also, morgen um elf. Ich stehe dann vor deiner Karre«, erwiderte David amüsiert und betonte das letzte Wort deutlich, um den Anderen damit zu foppen.
»Ja, ist in Ordnung. Und hey, sprich nicht so über mein Auto. Der hat Sonderausstattung. Also, dann bis heute Abend. Tschüss.«
»Tschöö, mit Ö.«
Als Mark an den zahlreichen Tischen vorbeilief, um zur Treppe zu gelangen, fasste er keinen klaren Gedanken. Wie kam Maria darauf, dass er mit David zusammen gewesen wäre? Den Kopf schüttelnd, verharrte er auf der ersten Stufe und blickte noch einmal zurück zu dem Jungen. »Als wenn …«, sagte er tonlos und trat den Weg zum Ferienhaus an. Auf seinem Weg dorthin machte sich sein Mobiltelefon bemerkbar und im Handumdrehen holte er das vibrierende Gerät hervor. Melanie. Den Anruf drückte er, ohne mit der Wimper zu zucken, weg. Im Gegenzug machte er ein paar Fotos vom Meer und den Dünen. Diese Aufnahmen schickte er seiner Mama und seinem besten Freund. Seine Mutter würde damit hoffentlich beruhigt sein, dass es keine Anzeichen von Gewitter auf den Bildern gab und Dennis würde ihm, so mutmaßte er, nur mit einem weinenden Emoji und einem Mittelfinger antworten.
Mark entschied den Rückweg am Wasser entlangzulaufen und nahm die Flipflops in die Hand. Die anfängliche Kälte, als seine Füße in die Nässe eintauchten, bescherte ihm eine Gänsehaut und er machte einen Schritt zurück. Gefühlt waren es zehn Grad oder weniger, aber zu dieser Jahreszeit war das sehr unwahrscheinlich.
»Guck’ mal, ich hab’ einen Krebs gefangen.« Ein kleiner Junge, ungefähr fünf Jahre alt, hielt Mark aufgeregt einen roten Plastikeimer entgegen. Und tatsächlich krabbelte dort eine ausgewachsene Strandkrabbe auf dem Boden herum. Etwas viel Sand am Grund, aber die Tiere waren es nicht anders gewöhnt.
»Ui, pass’ nur auf, dass er nicht kneift«, warnte er das Kind lächelnd.
»Neiiin, das tut der nicht. Ich habe ihn Robin getauft. MAAMAA! ICH HABE EINEN KREBS GEFANGEN!«
Ehe Mark antworten konnte, rannte der Junge auch schon an ihm vorbei und verschwand zwischen den vielen Sonnenschirmen und Strandmuscheln. Ein weiterer Ruf nach der Mutter schallte zu ihm herüber, bis die leiser werdenden Worte des Kindes in dem Getümmel und von dem Stimmengewirr der vielen Badegäste verschluckt wurden. Behutsam machte Mark zwei Schritte zurück ins Wasser und verharrte einen Moment auf der Stelle, damit er sich an die Kälte, die seine Füße umspülte, gewöhnen konnte. Im selben Moment kam ihm eine Kindheitserinnerung in den Sinn. Er musste fünf oder sechs gewesen sein, als seine Eltern mit ihm hier oben Urlaub gemacht hatten. Vierzehn Tage hatten sie zusammen in einem Hotel, das es anscheinend nicht mehr gab, gewohnt. Dort, wo Mark das Gebäude vermutete, stand eine weitere Feriensiedlung mit braunen Strandhäusern. Damals waren sie jeden Tag am Strand gewesen und er selbst hatte einige der Krabben gefangen und – genau wie der Junge eben – stolz präsentiert. Seine Mutter hatte geschimpft und gesagt, dass er die Tiere zurück ins Wasser setzen sollte. Sein Vater hingegen war stolz gewesen und hatte ihm mit lobenden Worten auf die Schulter geklopft.
Als Mark sich in Bewegung setzte und das Wasser seine Waden erreichte, fühlte es sich gar nicht mehr so kalt an. Er fand es herrlich erfrischend und als eine willkommene Abwechslung zu der brennenden Mittagssonne in seinem freien Nacken. Die Hand ins Wasser tauchend, verrieb er sich das glitzernd feuchte Element über Arme und Gesicht. Eine Wohltat an diesem Tag.
Nach weiteren Schritten traf er auf drei kleine Kinder. Die zwei Jungen, die mit dem Bau einer Sandburg beschäftigt waren, versuchten gleichzeitig ein danebenstehendes Mädchen davon abzuhalten, das Sandgebilde mit einer kleinen blauen Schüppe zu zerstören.
Plötzlich tauchte ein ganz ähnliches Szenario in Marks Erinnerungen auf. Ein Junge und ein Mädchen. Elli? Oli? Melli? Marvin? Nein, es war zu lange her, um es zu wissen.
Mit ihnen hatte er damals viel gespielt und ganze Schlösser aus den feinen Gesteinskörnchen erschaffen.
Später, als sie zusammen im Wasser getobt hatten, hatte sich Mark an einer Muschel geschnitten.
Von der Verletzung war jedoch nichts mehr zu sehen, aber nach zwanzig Jahren war das auch zu erwarten gewesen. In kurzer Entfernung fand Mark die Feriensiedlung und hinterließ, nachdem er aus dem Wasser getreten war, nasse Fußspuren auf dem Bretterweg, der zu den Dünen verlief. Die Gegend war wirklich schön, wie ein gemaltes Bild, das in früheren Zeiten, als die Fotografie noch nicht weit genug entwickelt war, an der Wand in jeder guten Wohnstube hing. Feiner heller Sand, der wellenartige Muster bildete, sobald Böen diesen aufwirbelten, und verwegene Dünen, die in den lebhaften Winden hin und her wehten, bildeten eine unglaublich faszinierende Landschaft. Es war echt und natürlich.
Im Bungalow angekommen, wischte Mark sich die restlichen Gesteinskörnchen von den Füßen und zog die Vorhänge zu, bevor er sich ins Bett legte. Eine ungewöhnliche Zeit für ihn, aber dafür würde er heute Abend wieder munter sein. Und wer weiß, was ihn am Abend noch alles würde erwarten. Mit den Bilder im Kopf vom Strand versank er in einen tiefen Schlaf.