»Kommst du? Ich möchte jetzt etwas trinken.«
»Jip, sofort«, erwiderte David. Er verabschiedete sich mit einem Handschlag von Ilias und Carlos. »Was hast du es denn jetzt so eilig?«
»Ich habe Salzwasser geschluckt und brauche jetzt was, um den komischen Geschmack loszuwerden.« Und vielleicht half ihm ein kühles Wasser auch dabei, die wirren Gedanken um David in seinem Kopf zu sortieren.
»Hey, Jungs!«, hörte Mark Marias Stimme und sah auf. Sie lehnte mit beiden Armen auf dem Geländer der Terrasse. Ihre Haare trug sie heute offen. »Ihr seht ganz schön nass aus. Wart ihr mit den Klamotten im Wasser?«
»Auch. Wir haben gerade ne hammergeile Fahrt mit der Banane gehabt. Stimmt's, Markiboy?«
»Kann man so sagen, ja.«
»Ach, wie schön. Dann wart ihr bei Carlos, meinem Cousin. Kommt rauf, aber macht mir bitte nicht alles nass.« Maria pendelte ihren ausgestreckten Zeigefinger hin und her. Diese Gestik kannte Mark von seiner Mutter, wenn er als Kind etwas angestellt hatte. Streng hatte sie vor ihm gestanden und ihm die Leviten gelesen, während sein Vater, im Türrahmen stehend, sich ein Schmunzeln nicht verwehren konnte. Und eben dieses bildete sich auf Marias Lippen, als sie sich aufrichtete und kurzum aus seinem Blickfeld verschwand.
Plötzlich stieß David einen Laut aus. Mark sah reflexartig zu ihm und reagierte schnell. Er schnappte nach dem Jungen, der offensichtlich gestolpert war, und zog ihn an sich. Mark verlor dabei ebenfalls den Halt, kam ins Straucheln und landete schlussendlich mit seinem Gesäß auf einer der Treppenstufen, während eine weitere sich schmerzlich in seinen Rücken drückte. Geflissentlich ignorierte er den Schmerz, der sich pulsierend an den betroffenen Stellen ausbreitete. Schmerzunterdrückung war eine reine Übungssache, die Mark beim Fußball gelernt hatte. Jedoch war er nicht darauf geschult worden, wie man sich verhielte, wenn sinnliche Lippen direkt vor seinen ruhten und ihm ozeanblaue Augen direkt in seine sahen. So nah hatte er sie noch nie betrachten können. Dabei fielen ihm türkis schimmernde Strahlen auf, die sternförmig die Iris umrahmten. Automatisch bahnte sich Marks Hand einen Weg zu Davids Wange, zog sie zurück, noch bevor sie die Haut erreichen konnte, als er bemerkte, was sein Körper gerade tat. Ein Adrenalinstoß durchfuhr seinen Körper. David musste zwangsläufig seinen rasenden Herzschlag spüren können, so dicht, wie er auf ihm lag. Was tat er gerade hier? Und warum sah David ihm forschend ins Gesicht? Was suchte er?
Ein Knarzen riss Mark ins Hier und Jetzt. Ein junger Mann stieg neben ihm die Stufen herauf, bedachte ihn mit einem Schmunzeln, bevor er aus seinem Gesichtsfeld verschwand. Mit dieser Reaktion hätte er nicht gerechnet, obwohl die aktuelle Situation, in der er sich noch immer befand, eindeutig für den Mann ausgesehen haben musste.
»Danke, Mark«, hauchte David. Unsicherheit lag in seinem Blick, als Mark zu ihm zurücksah. Seine Augen wechselten stetig die Richtung, so als wüsste er nicht, wohin er sehen sollte.
Verdammt! Was tue ich hier gerade?
Das Gewicht auf seinem Körper verringerte sich, als David sich am Treppengeländer haltend aufraffte.
»Langsam glaub ich, du bist mein Schutzengel«, fuhr David fort. »Wie machst du das?« Er beugte sich zu Mark herunter und bot ihm seine Hand an. »Kannst du etwa hellsehen?« Und da war es wieder, dieses verschmitzte Grinsen, das David ausmachte.
Mark ergriff die Hand und ließ sich hochziehen. Was sollte er jetzt darauf antworten? War er Davids Schutzengel und konnte Dinge vorhersehen? Nein! Definitiv nicht. »Ich habe gute Reflexe, das ist alles. Und wenn ich in die Zukunft blicken könnte, dann …« Ja, was dann? Wäre er nie in den Urlaub gefahren, um nicht auf David zu treffen? Der David, der sich wie ein Wirbelwind in seine Gedanken geschlichen und dort verankert hatte, ohne sein eigentliches Zutun? Oder wäre er genau aus diesem Grund erst recht gefahren, um das beflügelnde Gefühl kennenzulernen? Auf das Fragenchaos fiel Mark keine Antwort ein, jedoch forderte David ihn auf, seinen Satz zu vollenden. »Also wenn ich es könnte, dann …«
»… Dann wüsstet du, dass zwei Latte Macchiato auf euch warten«, unterbrach Maria ihn. Innerlich dankte er ihr dafür, denn ihm fiel spontan keine Antwort ein. »Ach herrje, den muss ich vorhin verloren haben.« Sie bückte sich und hob einen Notizblock auf, dessen zerknitterte Seiten sie abriss und in ihrer Hand zu einer Kugel formte. Danach wedelte sie ihn mehrfach hin und her, dabei fielen einzelne Sandkörner heraus.
»Deswegen bin ich gefallen«, teilte David mit und musterte den Block eingehend.
»Wirklich? Das tut mir leid«, entschuldigte sich Maria. »Ich bin manchmal ein richtiger Schussel, müsst ihr wissen. Hast du dich verletzt?«
»Quatsch! Ich bin gut gelandet. Hart aber herzlich«, flachste David und klopfte auf Marks Bauch, ließ seine Hand dort ruhen. »Er hat seinen Herrscher gebührend vor Schmerzen bewahrt, wie es sich für einen Untertanen gehört.«
»Mensch, ihr zwei seid ja schon ein richtig eingespieltes Team, was?«, mutmaßte Maria. »Schön, dass ihr so harmonisiert. Mein Freund hätte mich sicherlich fallen gelassen und noch ausgelacht. Aber so ist das eben, wenn man schon ein paar Jährchen zusammen ist. Ihr werdet es noch sehen aber jetzt kommt erstmal mit nach oben, sonst wird der Kaffee kalt.«
Hatte sie Mark eben zugezwinkert, als sie an ihm vorbeiging? Perplex sah er ihr nach und ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Wie sollte er ihre Aussage, sie würden es noch sehen, deuten? Vor allem aber: Mit wem?
»Komm, Markiboy.« Davids Stimme holte ihn zurück aus seinen Gedanken. Nicht zuletzt die Hand, deren Anwesenheit Mark auf seinem Bauch spürte. Die Wärme drang durch seine nasse Kleidung direkt auf seine Haut und entfachte dort ein Kribbeln. Wann hatte er eigentlich die Kontrolle über seinen eigenen Körper verloren? Und irgendwie schien er seine Gedanken auch nicht mehr kontrollieren zu können. Er folgte dem anderen. Oben angekommen staunte er nicht schlecht. Sämtliche Tische und Stühle waren durch Strandkörbe ersetzt worden, die in einem Halbkreis angeordnet standen, sodass jeder Gast zum Meer blicken konnte. Das nächste, was ihm ins Auge fiel, waren zwei junge Frauen, die eine Girlande über dem Eingang des Cafés anbrachten. Anscheinend liefen bereits die ersten Vorbereitungen für die »Karibischen Nächte«.
»Ist ja geil! Die wissen genau, was Urlauber wollen«, sprach David sein Lob laut aus.
»Darauf kannst du einen lassen«, sagte Maria, die bunte Blumen an einem der Strandkörbe befestigte. »Schließlich mache ich meinen Job nicht erst seit gestern. Ihr habt die Nummer eins, links außen.« Sie deutete auf die Stelle, der Mark mit den Augen folgte. Wie angekündigt fand er vor auf einem Tisch vor dem äußeren Strandkorb zwei Gläser mit dampfender Flüssigkeit vor.
»Also wenn ich es mir recht überlege, dann bleib ich einfach hier. Hast du einen Job und eine Bude für mich? Hier oben ist es viel schöner als in der Stadt.«
»Ich kann mich gerne umhören, David. Und was ist mit dir, Mark? Auch Lust, hier zu wohnen und zu knechten?«
»Wird das nicht auf die Dauer langweilig? Ich mein’, im Urlaub hier zu sein ist toll, aber wenn man dauerhaft hier ist, schleicht sich doch der Alltag ein und alles wird zur Normalität, oder?«
Empört stieß Maria einen Laut aus und fuhr herum. »Kannst du ihm bitte mal einen Schlag in den Nacken geben?«, sagte sie an David gewandt. »Hier ist das Paradies pur. Hier ist gar nichts alltäglich und erst recht nicht langweilig. Hast du schon mal einen Touristen gesehen, der mit hängendem Kopf am Strand spazieren geht?« Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr sie fort. »Siehst du, ich auch nicht. Und die, die hier hergezogen sind, wurden glücklich und sind es immer noch. Wir sind hier nicht der Ballermann, wo man hinfliegt und literweise Sangria in sich hineinkippt, nur um glücklich zu sein. Spätestens wenn der Rausch vorbei ist, erkennt jeder die Schattenseiten auch der schönsten Insel. Aber hier«, sie ließ ihren ausgestreckten Arm von rechts nach links gleiten, »wirst du nichts dergleichen erleben. Die Leute leben hier friedlich zusammen, haben sich zum Teil Geschäfte aufgebaut, oder arbeiten in den unterschiedlichsten Betrieben. Als ich damals hier herkam, war ich sofort Feuer und Flamme, habe meinen Traum vom eigenen Café verwirklicht und hier meinen Traummann gefunden. Und jetzt sag nochmal, das wäre langweilig … «
»Schon gut, ich habe es begriffen«, erwiderte Mark lachend. »Ich wollte nicht beleidigend sein. Ich überleg es mir, okay?« Tatsächlich war ihm der Gedanke hier herzuziehen schon gekommen. Nur ließe er damit sein geregeltes Leben zurück in der Stadt. Seine Familie, Freunde sowie seinen Fußballverein. Wollte er das alles aufgeben, nur um dauerhaft diesem Urlaubstraum nahe zu sein? Was würde die Protagonistin, Isabella, seines Buches an dieser Stelle tun? Sich dem Traum hingeben und neu anfangen? Pascal ihre Liebe gestehen?
Ein Klaps auf seinem Hinterkopf ließ Mark aufsehen. David grinste und zog seine Hand zurück, während Maria diesem zunickte und sich bedankte. »Wofür war der?«
»Dafür, dass du über so etwas Wundervolles noch überlegen musst«, teilte ihm Maria ernst mit, jedoch bröckelte ihre Fassade, bis sie schließlich lauthals loslachte. »Du müsstest mal dein Gesicht sehen … göttlich. Und jetzt ab mit euch beiden, denn kalte Latte schmeckt nicht.«
»Ihr habt euch doch gegen mich verschworen, oder?« Mark deutete abwechselnd auf Maria und David.
»Aber nicht doch, mein Lieber. Ich helfe nur, wo ich kann. Und als Tipp: Öffne deine Augen, denn manchmal liegt das Glück direkt vor dir. Du musst nur genau hinsehen, dann erkennst du es.« Mit diesen Worten zwinkerte sie Mark noch einmal zu und wandte sich ab, um ihre Arbeit fortzusetzen.
»Siehste Mark, sie hat recht. Schau dich um, es ist mega hier. Wir können auch eine WG gründen, oder so.«
Eine WG, wie es Freunde tun? Will ich das?
»Wenn du meinst … du willst doch nur deinen Diener bei dir haben, der dich von morgens bis abends bedient, oder?«
»Du hast es erfasst«, bestätigte David belustigt, drehte sich um und murmelte etwas, das Mark jedoch nicht verstand. Vermutlich plante der andere bereits alles gedanklich durch und ließ ihn bewusst nicht daran teilhaben.
Am Strandkorb angekommen setze sich Mark hinein und betrachtete die akkurat getrennten Schichten aus Milchschaum, Espresso und Sirup in den beiden Gläsern. Drei Dinge, die sich durch einfaches Umrühren zu einer Flüssigkeit vermischen ließen. So einfach wie es klang, so schwierig war es im wahren Leben. Marias Worte ließen ihn nicht los. Was hatte sie damit gemeint, er solle die Augen öffnen und genau hinsehen? Dann sah er zu David hinüber, der ihn still zu mustern schien. Das erste was Mark einfiel war ein Latte Macchiato, dessen Schichten aus David, ihm selbst und Glück bestand. Gedanklich verrührte er alles zu einer rosaroten Masse und kam zu dem Ergebnis, dass sein Kopf ihm völlig absurde Gedanken bescherte. Und je länger er in Davids Augen blickte, desto geringer wurde die Distanz zu ihnen. Bildete er sich das nur ein? Er bewegte sich doch gar nicht. Es schien, als verringerte sein Gegenüber die Distanz. Marks Gedanken gingen in sämtliche Richtungen, doch nur einer schrie in seinem Kopf am lautesten.
Verdammt! Küss mich endlich!