Die Morgenröte, die sich durch den schmalen Spalt der wehenden Vorhänge auf das Gesicht von Mark legte, bildete ein tanzendes Schattenspiel, das ihn langsam erwachen ließ. Liegend in den letzten Wehen der vom Schlaf vernebelten Sinne, glaubte er sich an einem Strand unter Fächerpalmen im warmen Schein der Sonne zu befinden. Davon überzeugt, dass das gleichmäßige Rauschen, das dabei in seine Ohren drang, zu einem tiefblauen Ozean gehörte, dessen Wellen sich peitschend in der Bucht fingen und im Sand des Strandes verebbten, seufzte Mark zufrieden auf. Zunehmend schlich sich ein beflügelndes Gefühl in seine Magengegend, hervorgelockt durch sanfte Brisen, deren Überzeugung er war, dass sie direkt vom Meer aus zu ihm getragen wurden. Durch die weit entfernten Rufe der Seevögel, öffnete er bedächtig die Augen und blinzelte dem rötlich schimmernden Sonnenlicht entgegen, das sich tief in seinen Iriden fing. Als ihm bewusst wurde, dass er für eine längere Zeit auf diesem Wege geweckt werden würde, legte sich wie von selbst ein mildes Lächeln auf seine Lippen.
Träge klärten sich seine Sinne und die angenehme Wärme, die er auf seiner Haut spürte, begann allmählich zu kribbeln und breitete sich schlussendlich auf seinem ganzen Körper aus. Sich diesem wohligem Gefühl hingebend, sog er tief den Sauerstoff in seine Lungen und fuhr sich gedankenverloren mit der Hand über die Brust. Dabei stießen seine Finger gegen etwas Warmes, was augenblicklich ein Prickeln in seinen Fingerspitzen auslöste. Mit laut klopfendem Herzen, dessen Rhythmus sich schlagartig verschnellerte, neigte er seinen Kopf und entdeckte David, der sich eng an ihn geschmiegt hatte. Mark versuchte zum einen den dicken Kloß, der sich gebildet hatte, in seinem Hals herunterzuschlucken und zum anderen die Situation zu verarbeiten.
Dabei tauchte Melanie in seinen Gedanken auf. Mit ihr war er morgens ganz ähnlich aufgewacht; verschlungen unter einer Bettdecke, wenn sie bei ihm übernachtet hatte. Ihm graute es vor dem Gespräch, das er unbedingt noch mit ihr führen musste. Die Tatsache, dass sie noch immer bei seiner Mutter anrief und ihr Leid klagte, bereitete ihm ein unbehagliches Gefühl. Warum verstand sie nicht, dass die Beziehung beendet war? Es gab triftige Gründe, die ihn dazu bewogen hatten, diesen Schritt zu tun und Abstand zu nehmen. Er hatte ihr weder etwas vorgemacht, noch seine eigenen Beweggründe zurückgehalten. Vielleicht würde er sich einen Rat bei Dennis holen und mit dessen Hilfe einen Lösungsweg finden können.
Er wurde durch Stimmen, die durch die Fenster schallten, aus seinen Gedanken gerissen. Erneut legte er sein Augenmerk auf David. Aufwecken würde er ihn nicht. Warum auch? Schließlich schlummerte der Junge nur auf seiner Schulter und benutzte ihn gleichzeitig als Kopfkissen.
Die gleichmäßigen Atemzüge des Jungen wirkten auf ihn beruhigend, jedoch nicht die ausgestoßene Luft, die ihn heiß an der Halsbeuge traf und dabei ein erregendes Gefühl hinterließ, das er sich nicht erklären konnte, selbst wenn er es versuchen würde. Die plötzliche Regung des fremden Körpers ließ ihn den Atem anhalten und seinen Puls ins unermessliche schnellen.
Hatte er David versehentlich geweckt?
Er selbst wollte sowieso noch nicht aufstehen, also verhielt er sich besser ruhig, damit der andere weiterschlafen konnte.
Schmunzelnd dachte er an Marias Worte zurück. Die Bedienung vom Café hatte ihn doch tatsächlich für den festen Freund von David gehalten. Und nun lag ebendieser genau neben ihm. Verrückt.
Es war für ihn kein Problem mit einem anderen Mann in einem Bett zu schlafen. Das hatte er im Kindes- und Jugendalter schon oft genug mit seinem besten Freund Dennis getan. Allerdings war die Situation dort eine andere gewesen, als die, die gerade herrschte.
Blinzelnd öffnete David die Augen und richtete sich langsam auf. Er rieb sich durchs Gesicht und sah sich um. Daraufhin bemerkte er Mark.
»Morgen«, kam die verschlafene Begrüßung des Jungen. Mit dem Blick zur Uhr gerichtet, stöhnte er leise auf und ließ sich zurück ins Bett fallen. Acht Uhr war viel zu früh, um jetzt schon aufzustehen.
»Guten Morgen, du Kuschelbär«, neckte Mark ihn und betonte den Kosenamen. Der verwirrte Ausdruck, der sich im Gesicht des Jungen bildete, ließ ihn schmunzeln.
»Sorry. Hab’ dich als Kopfkissen missbraucht. Warum hast du mich nicht einfach weggeschubst? Wenn du bei mir gelegen hättest, ich hätte es getan.«
Mark unterdrückte ein Lachen, stattdessen schob er eine Unterlippe vor und machte ein trauriges Gesicht. »Wie nett von dir«, gab er gespielt beleidigt von sich. »Aber irgendwie habe ich auch nichts anderes von dir erwartet.« Sich durch die Haare fahrend wandte er den Kopf zur David, der an die Decke zu starren schien. Von der Seite erkannte Mark Grübchen um dessen Mundwinkel, die im nächsten Moment verschwanden, als David erneut zu sprechen begann.
»So bin ich. Immer frei raus und ehrlich.«
Entfernte Rufe der Möwen drangen durch die Fenster.
»Und vorlaut«, ergänzte Mark gedanklich. »Jetzt hast du mich aber getroffen. Du solltest netter zu mir sein, wenn du schon in meinem Bett liegst.« Er betonte deutlich, dass es sich um seine Schlafstelle handelte, denn damit würde er David den Wind aus den Segel nehmen. Der Junge legte den Kopf zur Seite und sah ihn breit grinsend an.
»Ja, das sollte ich. Dein Bett ist bequemer als die Klappcouch.«
»Sollte? Willst du dich jetzt jeden Abend hier einnisten?« Für Mark klang Davids Aussage definitiv nach einer fest angekündigten Wiederholung. Er fragte sich, weshalb der Junge keinen eigenen Bungalow gemietet hatte. Immerhin ging der doch arbeiten und verdiente damit Geld.
»Kein Plan. Aber wenn die da drüben wieder ’ne Nummer schieben sollten, schlafe ich lieber im Sand oder sonstwo, oder hier.«
»Denkst du, ich lasse dich hier noch einmal rein, nachdem du mich gekränkt hast?«, fragte Mark gespielt echauffiert. Er drehte sich mit dem Körper auf die zum Jungen gewandte Seite und winkelte den rechten Arm an, den Kopf legte er stützend in die Handfläche.
»Sei nicht so empfindlich. Du kennst mich gerade mal ein paar Stunden. Und als ich dir erzählt hab’, dass ich alle auf die Palme bringen würde, meinte ich das vollkommen ernst. Also gewöhn’ dich lieber dran«, sagte David lapidar und rollte sich zu Mark herum.
Ein vorbeifahrendes Autos schallte von draußen in den Raum.
Beide sahen sich zugleich herausfordernd und amüsiert in die Augen.
Mark kam der Gedanke, dass der Junge das Gesagte absolut humorfrei gemeint hatte. Wäre da nicht die vergnügte Miene gewesen, die ihm entgegenblickte. »So schnell bringt mich nichts aus der Ruhe. Das schafft nicht einmal meine Mutter. Und das soll schon was heißen«, witzelte er und schaute über seine Schulter zur Uhr. »Sollen wir aufstehen? Wir müssen uns auch noch fertig machen und frühstücken. Du wolltest doch um elf in die Stadt, richtig?«, fragte er.
David ließ sich zurück ins Kissen fallen. »Kommt auf die Minute nicht an. Ich will nur weg von den beiden, bevor ich Amok laufe und mit Seesternen nach ihnen werfe«, erklärte er. Wiederholend vollführte er eine werfende Handbewegung, die er mit fauchenden Lauten begleitete.
Mark prustete ungehalten los, als ihm vor seinem inneren Auge das Bild eines Ninjas erschien. »Oh Mann, David, du bist mir ’ne Marke«, gurgelte er zwischen seinem Gegacker, das sich zu einem offenen Lachen entwickelte.
Er begrüßte die erfrischende Art des Jungen, die ihn einen Moment lang alles vergessen ließ. Keine sich sorgende Mutter, keine penetrant störende Exfreundin und erst recht keine zeitraubende Arbeit.
David wiederholte seine Ninja-Bewegungen und stieg in das Gelächter mit ein. Er neigte dabei den Kopf zur Seite und sah zu dem Mann, der so herzhaft über seine eigenen Blödeleien lachen konnte. Hatte er mit Mark jemanden gefunden, den er nicht gleich mit seiner Art vergraulen würde? Irgendwie fand er gefallen an dem Blonden mit den smaragdfarbenen Augen.
»Los, lass’ uns aufstehen. Ich habe Hunger«, sagte Mark. Er lag noch in den letzten Wehen seines Lachens. Um seine Forderung zu untermalen setzte er sich auf und schwang die Beine vom Bett. »Ach, ich weiß ja nicht, ob du mit den anderen frühstücken möchtest, aber hättest du Lust mich zum Café zu begleiten? Ich habe nämlich noch nichts Essbares hier.«
»Klar. Alles ist besser, als bei den beiden Bekloppten zu hocken, die sich womöglich in Klebstoff gewälzt haben.«
Mark winkte grinsend mit der Hand ab und blickte zu der noch feuchten Kleidung von David. »Gut, ich gehe jetzt duschen. Du solltest dir noch Klamotten holen, deine sind noch nicht ganz trocken.« Er streckte sich und erhob sich vom Bett, lief auf das Fenster zu und zog die Vorhänge zur Seite. Er betrachtete blinzelnd gegen die Sonne das lebendige Wellenbrechen. Im Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung, die er betrachtete.
Mit knirschenden Schritten lief ein älteres Liebespaar über den Schotterweg sich unterhaltend vorbei. Die Frau zeigte in die Ferne, der Mann sagte etwas und im nächsten Moment küsste er sie.
Mark seufzte und fragte sich, ob er irgendwann auch so eine glückliche Zweisamkeit genießen dürfte, wie die beiden.
»Jup. Ich hau’ gleich ab und warte dann vor deiner Karre«, sagte David. Er betonte in bekannt frecher Manier das letzte Wort. Sich aufsetzend schob er sich an das Kopfende des Bettes und lehnte sich rücklings dagegen.
»Ich haue dich gleich«, witzelte Mark und wandte sich dem Jungen zu. »Und jetzt komm’ aus den Federn. Wenn ich hungrig bin, kann ich ziemlich ungenießbar werden.« Wie auf ein Stichwort knurrte sein Magen laut auf.
»Ja, ja, schon gut. Bevor du dich noch selbst verdaust oder an mir knabberst, mache ich die Biege.« Mit Schwung stieß David die Decke von den Beinen und stieg aus dem Bett. Sich streckend begab er sich zu Mark ans Fenster, beugte sich vor, um an Marks Bauch zu lauschen. »Okay, ich beeile mich. Das klingt ja gefährlich bei dir«, flachste er und richtete sich auf. Zur Tür gehend flötete er: »Tschöö mit Ö.«
Verdutzt sah Mark dem Jungen hinterher und rieb sich währenddessen die kribbelnde Stelle an seinem Bauch, an der David eben noch seinen Kopf hatte. Als die Tür ins Schloss gefallen war, kehrte Mark sich um zum Fenster und sah ihm nach.
Erneut knurrte sein Bauch.
Er sollte sich jetzt wirklich beeilen, damit er endlich etwas in den Magen bekäme.
Nachdem Mark frisch geduscht und angezogen im Wohnraum stand, bemerkte er das dumpfe vibrieren seines Smartphone. Melanie. Er drückte den Anruf seiner Exfreundin weg.
Auf seinem Weg zur Tür, an der es im nächsten Moment trommelartig zu klopfen begann, öffnete er sie daraufhin und blickte geradezu in Davids amüsierte Miene. Dieselben rhythmischen Bewegungen spürte er im nächsten Moment auf seinem Bauch, als David ihm dagegen klopfte. »Dir geht es gut?«, wollte er lachend wissen. Er packte Davids Hände, um sie vom Klopfen abzuhalten, und trat nach draußen in die frische Morgenluft.
»Jup. Bestens. Bist du fertig? Ich steh’ hier nämlich schon länger«, teilte David mit und befreite seine Hände aus Marks Griff.
»Und da dachtest du, du versuchst mich mit deinem Trommelwirbel auf die Palme zu bringen?« Er drückte eine Hand gegen Davids Brustbein und schob ihn vor sich her.
Beide betraten den Schotterweg, auf dem eine blondgelockte Frau gerade einen mahnenden Monolog mit ihrem Bernhardiner hielt.
»Das gehört zwar nicht dazu, aber gut zu wissen. Ach nee, ich muss ja nett zu dir sein«, witzelte David.
»Solltest du, ja.«
Auf dem Weg zum Café führten sie belanglose Gespräche und erreichten wenig später ihr Ziel. Beide ließen sich an einem Tisch im Halbschatten nieder und warfen einen Blick in die Karte. Kurz darauf trat Maria zu ihnen.
»Moin, Jungs. Habt ihr schon gewählt?«
»Wir nehmen zweimal "Proviant für echte Seebären"«, sagte Mark und schenkte ihr ein Lächeln.
»Sehr gerne. Bis gleich.« Mit diesen Worten verschwand sie und brachte wenig später das Frühstück.
Während Mark stillschweigend aß, sah er immer wieder zu David und fühlte sich ertappt, wenn der Junge aufsah. Für einen Moment glaubte er ein weites Meer in den tiefblauen Augen zu erkennen und ihm überkam ein noch nie dagewesenes Verlangen, sie näher betrachten zu wollen.
Er versank in Gedanken. Dort sah er David tief in die meeresgleichen Iriden, während er sich ihm näherte und zaghaft die sinnlichen Lippen küsste. Er stellte sich vor, dass ihn der Junge umarmte und fest an sich drückte. Danach legte er David seine Hände ihn den Nacken und vertiefte den Kuss.
Als Mark eine winkende Bewegung registrierte, wurde er dadurch aus seinen Gedanken gerissen. Sein Blick schärfte sich augenblicklich und dann sah er direkt in das Gesicht des Jungen. Er spürte eine brennende Hitze in sich aufsteigen. Seinen rasenden Herzschlag spürte er bis in den Hals pochen. Augenblicklich senkte er den Kopf und sah auf den Tisch. Was ging nur in ihm vor? Wieso stellte er sich einen Kuss mit David vor? Hatte er noch immer den Alkohol vom Vorabend im Blut, der ihm die Sinne vernebelte?
Er fuhr sich fahrig durch die Haare. »Was sagtest du?«, wollte er unsicher wissen.
»Das letzte war Möwenschiss. Davor hab’ ich dich beleidigt und davor wollte ich wissen, ob es dir gut geht. Du hast mich angesehen, wie Sascha meine Schwester, bevor sie zusammen im Schlafzimmer verschwinden. Ich dachte schon, du springst gleich über’n Tisch. Gruselig«, sagte David.
Mark hielt den Blick gesenkt. Er konnte ihm nicht in die Augen sehen. Dennoch schmunzelte er über die unsinnigen Worte. »Möwenschiss? Echt jetzt?«, fragte er und sah auf. Auf die anderen Worte ging er bewusst nicht ein. Hatte er David wirklich so betrachtet?
Der Junge lehnte sich vor und folgte dem Blick des anderen. »Jip. Also, ich bin fertig. Wie sieht's bei dir aus? Können wir los oder isst du das Frühstück jetzt mit den Augen weiter?«, flachste er und deutete auf den vollen Teller.
Bei der Vorstellung lachte Mark auf und vergaß die Vorstellung mit dem Kuss mit David, die er eben noch hatte. Die freche und vorlaute Art, die ihm der andere unverblümt entgegenbrachte, gefiel ihm. »Ja, wir können gehen. Hör mal, ich sage nicht oft sowas zu jemandem, aber irgendwie gefällst du mir. Ich hoffe nur, dass ich es nicht bereuen werde«, gab er ehrlich von sich und erntete ein überraschten und schelmischen Gesichtsausdruck. Die Hand hebend winkte er Maria zu sich, um zu zahlen.
Nachdem sie bezahlt hatten, liefen sie zurück und stiegen Marks blaues Auto. Die Hitze, die sie im Inneren empfing, ließ David zwei Knöpfe seines Hemdes öffnen. Er fächerte sich mit beiden Händen Luft ins Gesicht. Als der Wagen gestartet wurde, sprang das Radio mit einem älteren Sommerhit aus den Neunzigern an. Während ihrer Fahrt auf den holprigen Straßen zwischen Feldern und Wiesen, sagte niemand etwas.
David sah mehrmals zur Seite und musterte das Profil des anderen. Hatte er tatsächlich jemanden gefunden, der ihm seine Späße und Albernheiten nicht übel nahm? Er dachte zurück an das Frühstück und den merkwürdigen Blick, mit dem Mark ihn angesehen hatte. Was hatte der Mann wohl in jenem Augenblick nur gedacht? Er hatte keinen Reim darauf. Aber Marks stechender Blick, weckten in ihm eine unbekannte Neugier es zu erfahren.
Nach weiteren Minuten, kamen sie im nächsten Ortskern auf einem Parkplatz an und stiegen aus.
Mark sah sich um.
Die Umgebung war mit den blau-weiß gestrichenen Fachwerkhäuser typisch für den hohen Norden. Der Geruch von gebratenem Fisch lag in der Luft. Eine bunte Girlande, die auf ein Hafenfest in zwei Tagen hindeutete, hing zwischen zwei Häuserfassaden gespannt über der Einkaufsstraße.
Mark beschloss in diesem Moment, das Spektakel zu besuchen.
»Soll ich hier auf dich warten oder dauert es länger?«, erkundigte er sich und sah über das Dach des Wagens hinweg zu dem Jungen, der verdutzt dreinblickte.
»Wie jetzt? Ich dachte du kommst mit? Ich will mir ein Buch holen und gleichzeitig vor den Turteltauben flüchten. Los, lass’ uns gehen«, forderte David enthusiastisch und schlug den Weg zur Passage ein.
Amüsiert schüttelte Mark den Kopf und lief dem Jungen hinterher. »Du bist unglaublich«, nuschelte er zu sich selbst und sah, wie der andere sich im Gehen zu ihm umdrehte und frech die Zunge herausstreckte.
»Ich weiß. Nenn’ mich David der Allmächtige oder besser David der Auserwählte. Jup, nimm das zweite«, giggelte der Junge und blieb stehen.
Mark dachte, dass die zweite Äußerung des Jungen vollauf zutraf, da sein vorlautes Wesen ihn stets positiv stimmte und sich frei fühlen ließ. Wären da nicht diese seltsamen Tagträume gewesen, die sich um den Jungen drehten. »Oh großer David, du mein Auserwählter bist. Führe mich an und ich werde dich geleiten, wohin du auch gehen mögest«, witzelte er und verbeugte sich filmreif vor dem Jungen, dessen plötzliches Auflachen durch die Straße echote. Mark genoss das offene Lachen. Er fand es ehrlich und fröhlich. Echt.
»Das gefällt mir«, flötete der Junge.
»Bitte führe mich, ich vertraue dir mehr als meiner selbst. So lasse mich nicht ungeliebt zurück und allein’ durch die Gassen zieh’n«, spielte Mark weiter und erhob sich aus seiner Verbeugung zum Jungen blickend.
Eine brünette Dame blieb neben den beiden stehen und lächelte. »Ihr seid echt süß zusammen. Ich würde sofort >Ja< sagen, wenn ich du wäre«, sagte sie zuckersüß zu David und sah ihn auffordernd an.
Mark war perplex, als er sich im nächsten Moment in Davids Armen wiederfand, sogleich seine Lippen auf der eigenen Wange spürte. Er erstarrte. Augenblicklich stieg ihm eine Hitze ins Gesicht.
»Reicht das, als Antwort?«, wollte David lachend wissen. Er entließ Mark aus seinen Fängen.
»Ja. Viel Spaß noch euch beiden.«, wünschte ihre dunkelhaarige Beobachterin augenzwinkernd und nahm ihren Weg wieder auf.
»Siehste, so geht das. Und jetzt steh’ hier nicht so rum. Lass’ uns weitergehen«, drängte der Junge und legte Mark einen Arm um die Schulter. »Aber ist schon witzig, dass die uns alle für ein Paar halten. Sollen sie. Ist mir egal.«
»Du bist echt eine Nummer. Sag mal, ist dir das wirklich egal, dass die uns alle für schwul halten? Ich meine, bist du es? Nicht, dass ich ein Problem damit hätte, aber du siehst alles so locker«, wollte Mark wissen. Woher er die Worte nahm, die so aus ihm heraussprudelten, wusste er nicht. Es war einfach so über ihn gekommen.
»Warum sollte es mich stören? Mir ist es völlig egal, was andere von mir denken. Selbst wenn es so wäre, wäre es mir auch egal. Aber ich sag’ dir mal was. Selbst wenn ich plötzlich merken würde, schwul zu sein, wäre es mir genauso egal. Ich hatte zwar vor ein paar Jahren eine Freundin, aber das hat nur ’ne Woche gehalten. Und gelaufen ist da auch nicht viel. Irgendwie passten wir nicht zueinander. Warum? Bist du interessiert?« Ehrliches Interesse lag in Davids Blick und seine Stimme klang ernst.
»Was? Wie kommst du denn darauf?«, platzten Mark die Worte heraus. Wie kam der Junge nur auf diese absurde Idee? Nie hatte er daran gedacht, sich zu einem anderen Mann hingezogen zu fühlen. Erneut flackerten die Bilder des Kusses vor seinem inneren Auge auf. Er, wie er den Jungen küsste und zugleich dessen Erwiderung empfing. Das war doch alles konfus. Dennoch blieb eine gewisse Neugier verankert.
»Hast du irgendeine Krankheit oder so? Ständig bist du abwesend. Wartest du eben hier?«
»Wie? Tut mir leid. Mir gingen gerade ein paar Dinge durch den Kopf, die ich noch erledigen muss«, log Mark gekonnt und hoffte, dass seine Lüge unerkannt blieb.
David seufzte auf. »Du hast Urlaub. Mach’ dich mal locker. Also, ich bin sofort wieder da.« Mit diesen Worten lief David in die Buchhandlung.
Noch immer stand Mark am selben Fleck und sah dem Jungen hinterher, bis er aus seinem Blickfeld geriet. Er zog das Smartphone aus der Tasche und sah auf das Display. Die Nachricht seiner Mutter, die fragen ließ, ob alles in Ordnung sei, beantwortete er mit einem lapidarem »Ja«. Vielleicht sollte er Davids Worte in die Tat umsetzen und loslassen, um auf andere Gedanken zu kommen und selbst mehr Spaß zu haben. Kurzerhand setzte er seine Exfreundin auf die Blockierliste seines Mobilegerätes, um einen ersten Schritt zu machen. Aber wie sollte er seiner Mutter beibringen, dass er den Urlaub ohne ständige Kontrollanrufe genießen wollte? Kein einfaches Unterfangen.
Nachdem er das Handy zurück in die Tasche gesteckt hatte, erkannte er im Augenwinkel David, der mit einer weißen Papiertüte auf ihn zugeschlendert kam.
»Die Sonne scheint, wir haben Urlaub und du ziehst ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Komm’ , da vorne ist ein Café. Brauchst wohl ’ne Ladung Koffein, was?«
Mark nickte zustimmend und trottete neben dem Jungen zum Lokal.
Dort setzten sie sich an einen Tisch, der im Schatten eines weißen Sonnenschimes stand. Sie bestellten sich beide einen Latte Macchiato und betrachteten die Passanten auf der Straße. David kommentierte deren Outfits mit flapsigen Sprüchen und Mark schmunzelte oder lachte darüber. Nach einem weiteren Getränk und einem Gespräch mit der Kellnerin, die den beiden den Tipp gab, das Hafenfest zu besuchen, fanden sie sich nach einem kurzen Einkaufsbummel und der Rückfahrt zum Ferienpark wieder vor dem Bungalow. Mark teilte dem Jungen mit, dass er sich ein wenig ausruhen würde, da ohnehin die Sonne unerträglich brannte. Sein Angebot, sich zu einem späteren Zeitpunkt am Strandcafé zu treffen, stimmte David zu.
Als Mark auf seinem Bett lag, nahm er das Buch aus der Schublade des Nachttisches und begann darin zu lesen. Es begann mit den Worten: »Man trifft sich immer zweimal im Leben«.
Der Anfang war sehr detailliert und schön ausgeschmückt. Aus einer spontanen Idee heraus, war die Protagonistin in den Urlaub geflogen. Sie hatte zuvor ihren Job gekündigt und bereits eine neue Stelle in Aussicht. Sie wollte an der kanarischen Insel Sonne tanken, um ihre verbrauchte Lebensenergie aufzufüllen. Dort wohnte sie in einem familiären Hotel, das unmittelbar am Strand seinen Standort hatte. Durch eine Strandparty, die von ihrem Reiseveranstalter organisiert wurde, lernte sie dort eine kleine Gruppe in ihrem Alter kennen, mit der sie die nächsten Tage verbrachte. Sie zogen durch Clubs und Bars, ließen sich tagsüber am Strand nieder und hatten jede Menge Spaß dabei. Isabella, die Protagonistin, lernte dabei den jungen Pascal etwas näher kennen. Der junge Mann, der nur eine Stadt von ihrem Wohnort entfernt beheimatet war, ließ sie ihre Sorgen durch seine charmante Art vergessen.
Von einem lauten Klopfen an der Tür, sprang Mark mit rasenden Herzen auf. Dabei rutschte das Buch von seiner Brust und fiel auf die Decke. Das pausenlose Klopfen ging munter weiter. Er sah zur Uhr und stellte fest, dass er eingeschlafen sein musste.