„Wenn wir es in drei Tagen über den Pass schaffen, ist der Schnee kein Problem.”
Das hatte Wim vor zwei Tagen gesagt, aber der Schnee hatte sich als Problem herausgestellt. Tristan schätzte ab, ob es sich lohnen würde, beide seiner Mäntel auszuziehen, um sich ein weiteres Hemd überzustreifen. Wim in den Kohlen des Feuers stocherte. Das war der Rest des Feuerholzes, den die vorherigen Leute in diesem Schutzhaus zurückgelassen hatten.
„Solltest du dich nicht in den Bergen auskennen?”, fragte Tristan heiser.
Wim drückte eine seiner Hände gegen seine Stirn und atmete tief durch. „Der Winter bricht hier manchmal früher ein. Egal, wie gut ich mich auskenne, das ist nicht berechenbar.“
Schnaufend drückte Tristan seine Beine enger an seinen Körper und gab den Gedanken auf, sich noch eine Schicht überzuziehen. Wenn er seinen äußersten Mantel öffnete, würde er bloß schneller erfrieren.
„Ich sollte Holz hacken gehen, aber …“ Wim richtete sich mit einem Ächzen auf und öffnete die Tür einen Spalt, was aber ausreichte, um eine kleine Lawine aus Schnee in die Hütte zu lassen. Die Schneedecke draußen war etwa so hoch wie Tristans Hüfte. Wim schloss die Tür wieder.
„Was hat uns das jetzt gebracht?“, fragte Tristan mit saurem Ton.
„Eigentlich sollten wir das Schutzhaus so zurücklassen, wie wir es betreten haben. Das heißt, dass wir nicht einfach das Feuerholz aufbrauchen und wieder gehen“, sagte Wim und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht können wir das beim Rückweg der Garde sagen. Wenn der Winter so beginnt, kommen wir dieses Jahr ohnehin nicht über den Pass.“
Tristan biss auf seine Unterlippe, als er überlegte, was ihn an dieser Aussage am meisten störte. Er wollte es schaffen – er hatte sich darauf gefreut, Wims Familie wiederzusehen. Die gehörten zu den wenigen Leuten, bei denen er sich wie eine normale Person fühlte. Aber im Moment konnte er sich keine emotionale Schwäche leisten.
„Du sagst das, als ob wir hier lebend herauskommen würden.“
„Red‘ doch keinen Unsinn.“ Wim rollte mit den Augen. „Es ist ein bisschen kalt, aber das überstehen wir.“
„Du überstehst das, du fürchterlicher Bergmensch.“ Es fiel Tristan nicht schwer, ein theatralisches Zittern zu mimen. „Mein Nachname ist ‚Winter‘, aber das bedeutet nicht, dass ich mit der Kälte klarkomme.“
„Es ist ganz einfach“, sagte Wim, der seine Arme vor der Brust verschränkte. „Wir schlafen gemeinsam mit einer Decke und halten uns gegenseitig warm.“
„Was?“ Für einen Moment war Tristan froh darüber, dass ihm zu kalt war, um rot anzulaufen. Wim konnte das nicht ernst meinen, er war nicht … oder doch? Vielleicht erfüllten sich jetzt alle Träume seiner einsamen Nächte.
„Das habe ich oft genug mit meinen Schwestern gemacht, wenn wir für ein paar Nächte im Tiefschnee festgesteckt sind“, erklärte Wim. „Das lernt man hier als Kind. Sogar Leute, die sich nicht ausstehen können, teilen manchmal Körperwärme.“
„Oh.“ Und damit hatte Wim jede Hoffnung zerschlagen – der Kerl stand weiterhin nicht auf Männer, und Tristan suchte nach irgendeinem Argument, wie er dieser Situation entkommen konnte. Wollte er lieber in der Nacht erfrieren oder eine Unpässlichkeit riskieren, während Wim ihn vollkommen unromantisch an sich drückte?
„Es bedeutet wirklich nichts“, sagte Wim, anscheinend vollkommen unwissend, dass eben das das Problem war.
Tristan nickte nur und blickte auf seine Knie, als er versuchte zu ignorieren, wie Wim seinen Mantel über seinen zusammengekauerten Körper warf, sich neben ihn auf die Bank setzte und sich die beeindruckenden Oberarme rieb.
„Es ist doch ziemlich kalt.“
Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Tristan den Atem, der vor seinem Gesicht kondensierte. „Wieso schmilzt du eigentlich im Sommer nicht?“
Wim lachte. „Als ob es dir im Sommer besser geht als mir.“
„Ach, ich bin mir bewusst, dass mein Körper nicht optimal gebaut ist.“ Er seufzte übertrieben. „Dafür habe ich andere Talente.“
„Kannst du die wirklich nicht dazu benutzen, um dich ein wenig aufzuwärmen?“, fragte Wim, während er eine seiner Pranken auf Tristans Schulter legte.
Der biss auf seine Unterlippe. „Wenn es so einfach wäre, würde ich nicht so hier sitzen.“
„Aber Marcelle …“, begann Wim.
„Marcie ist die talentierteste Heilerin dieser Generation“, zischte er. „Vergleich mich bitte nicht mit ihr. Das tut uns beiden Unrecht.“
„Sie hat gesagt, dass du außerordentlich bist“, sagte Wim leise und rieb seinen Hals.
„Vielleicht bin ich das, aber in den falschen Dingen und die helfen uns hier nicht.“ Tristan schniefte. „Was auch immer … Du bist hier der Experte.“
Wim brummte unzufrieden. „Wenn du nicht mit mir unter einer Decke schlafen willst, dann können wir uns etwas anderes überlegen.“
Tristan presste seine Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. „Du hast recht, das ist die einzig logische Handlung.“ Es war auch das, was er sich am meisten wünschte, weswegen er es hasste.
„Es erinnert mich daran, wie ich und Isolde Kinder waren“, sagte Wim. „Und dass ich sie und die anderen für ein Jahr länger nicht sehe.“
Die Hand an Tristans Schulter ballte sich zur Faust, wodurch ihm aus einem unerfindlichen Grund warm wurde. „Im Frühling versuchen wir es noch einmal, sobald der Pass frei wird“, sagte er.
„Wenn es so früh friert, dann dauert es auch lange, bis der Frühling kommt“, sagte Wim dunkel. „Es ist Sommer, bis wir wieder durchkönnen.“
„Solange es nicht Sommer werden muss, bis wir wieder aus dieser Hütte können.“ Tristan lachte nervös. „Vor allem, wenn wir kein Holz mehr haben.“
„Wenn es wirklich nötig ist, dann nehme ich dich Huckepack und gehe einfach so den Berg hinunter.“ Wims Arm löste sich von Tristans Schulter, als er aufstand, um weiter im Feuer zu stochern. „Vielleicht muss ich auch wirklich nach draußen für Holz, egal, wie tief der Schnee ist.“
„Vielleicht kann ich meine Talente ja benutzen, um zumindest das Holz zu trocken“, sagte Tristan.
Wim wandte sich um. „Wirklich? Aber … wie? Das hat nichts mit Körpern zu tun.“
Tristan rollte mit den Augen. „Wie oft soll ich es noch sagen? Es ist komplexer als das. Bäume sind auch Lebewesen.“
„Na dann!“ Mit einem selbstsicheren Lachen richtete Wim sich auf und zog seinen Mantel von Tristans Schultern.
Der wiederum bereute, dass er etwas gesagt hatte. Ihm war für eine kurze Weile weniger kalt gewesen.
„Ich bin bald wieder hier. Stell einfach nichts in, solange ich weg bin, in Ordnung?“, sagte Wim, während er sich den Mantel überstreifte und die Tür öffnete. Als er sich nach draußen drängte, versuchte er vergeblich, den Schnee wieder aus der Hütte zu treten.
Tristan seufzte tief und schüttelte den Kopf, als er allein in der Hütte war. Wieso musste das der Mann sein, in den er sich verliebt hatte?