Esa war üblicherweise nicht schwer zu finden, aber manchmal war er wirklich weg. Er tauchte immer wieder auf, aber das konnte Stunden oder Wochen dauern. In der Regel machte Rat sich nach fünf Tagen Sorgen um ihn. Vielleicht war „Sorge“ das falsche Wort dafür; ihm passierte nichts, denn Esa war das, was anderen Leuten passierte.
Das letzte Mal hatte sie ihn vor acht Tagen gesehen, auf einer Feier von jemandem, den sie beide nicht kannten. Sie hatte sich früher verabschiedet, wegen Kopfschmerzen. Esa war geblieben, hatte gesagt, dass er mit ein paar Leuten auf eine andere Party gehen wollte, wo mehr los war. Einer davon war ein Demimensch mit Hörnern gewesen, aber sie konnte sich nicht an den Namen erinnern. Vielleicht etwas mit L? Die Kopfschmerzen an dem Abend hatten ihrem Gedächtnis nicht geholfen.
Üblicherweise begann es so, wenn Esa verschwand.
Rat war sich uneins, ob diese Typen mit seinem Abgehen zu tun hatten, andere Leute, oder ob Esa einfach vergessen hatte, dass sie auf ihn wartete. Letzteres hatte sie schwer verletzt, als sie es das erste Mal erlebt hatte. Nun war sie gewohnt, dass Esa vergesslich war — egal, wie offensichtlich eine Sache, wie wichtig ein Versprechen oder wie einprägsam ein Erlebnis war.
Die letzten paar Tage hatte sie damit verbracht, am Markt auszuhelfen und ein wenig Geld zu verdienen. Sie schlief auf der Straße, weil sie für sich allein kein Zimmer brauchte; eine trockene Nische reichte ihr. Sie war gut darin, sich in Orte zu zwängen, an denen sie nicht sein sollte – etwas, was Esa nicht konnte.
Als Rat beschloss, dass es Zeit war, aktiv nach Esa zu suchen, hörte sie sich in der Suppenküche um. Die Leute dort kannten Esa, und wenn nicht — ein großer barfüßiger Mann mit langen Haaren, der wahrscheinlich etwas Außerordentliches angestellt hatte, fiel auf und Leute sprachen über solch eine Gestalt. Einmal hatte eine solche Spur sie zu einem anderen Kerl geführt, aber sie bezweifelte, dass das oft passieren würde.
Dieses Mal redeten die Leute über einen mit getrocknetem Blut und Erde bedeckten Hünen, der am Rand der Stadt herumirrte. Das klang nach Esa, und selbst, wenn er es nicht war … Das wollte sie sehen.
Rat machte sich sofort auf den Weg zu den Lagerhallen, von denen die Rede gewesen war. Falls das Gerücht nicht frisch genug war, konnte sie die Arbeitenden dort befragen, um auf eine frischere Spur zu kommen. Aber am Weg hörte sie die Warnung, dass ein gefährlicher Mann in der Richtung unterwegs war, in die sie ging. Darauf lief sie schneller.
Als sie endlich eine große, breitschultrige Gestalt sah, die durch das Labyrinth aus Lagerhallen schlurfte und eine Spur aus getrocknetem Schlamm und Blut hinter sich ließ, sprintete Rat auf Esa zu und rief seinen Namen.
Der zuckte erschrocken zusammen und sah sich panisch um, bis er offenbar ihre Stimme erkannte und ihr entgegenlief. „Rat! Ich habe nach dir gesucht!“
„Gerade hier?“, sagte sie lachend und umarmte ihm, obwohl das eine wirklich schlechte Idee war. „Was ist mit dir passiert?“
Esa umfasste ihre Taille und hob sie hoch, damit sie ihm in die tiefschwarzen Augen blickten konnte. „Zwei Typen wollten mich begraben“, erklärte er in ernstem Ton.
Er sah aus, als wäre er aus einem Grab geklettert. „Das ist neu.“ Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, während sie überlegte, in welches Bad sie Esa zwingen würde.
„Sie haben mir den Schädel gebrochen und dachten, das hätte mich umgebracht.“ Er ließ sie zurück auf den Boden und deutete auf seinen Hinterkopf, bevor er mit den Händen eine Explosion mimte. „Ich weiß nicht, wie oder warum das passiert ist. Die Frage haben sie mir nicht beantwortet, aber aus ihnen herausprügeln wollte ich es auch nicht.“
„Wo sind sie jetzt?“, fragte Rat vorsichtig.
„Vielleicht noch dort?“ Esa neigte den Kopf. „Darüber habe ich nicht nachgedacht. Ich habe ihre Gesichter im Dunkeln nicht gesehen. Falls wir sie wieder treffen, würde ich sie nicht erkennen.“
Rat atmete tief durch. Sie wusste, dass Esa gewaltbereit war und dass er ihr dadurch schon geholfen hatte, aber sie wollte nicht darüber nachdenken, was er manchen Leuten schon angetan hatte.
„Alles in Ordnung, also“, sagte sie. „Brauchst du etwas außer einem Bad?“
Er rieb sein Kinn, worauf aus seinem Bart Erde und getrocknetes Blut rieselten. „Sie haben mich ausgeraubt, also habe ich gerade nichts außer Zigaretten und Streichhölzern.“
„Die haben sie dir gelassen?“ Rat überlegte, ob sie ihm etwas geborgt hatte, aber ihr fiel nichts ein, was ihr fehlte.
„Nein, die haben sie mir gegeben, nachdem ich nett danach gefragt habe.“ Esa lachte. „Du hast etwas von einem Bad gesagt?“
„Ich bin mir sicher, dass du richtig freundlich zu ihnen warst“, sagte Rat mit einem Grinsen. „Und klar. Wenn du nicht da bist, habe ich Zeit arbeiten zu gehen, also können wir uns etwas Nettes leisten und deine Sachen waschen. Vielleicht wollen die Leute dich nicht mehr lebendig begraben, wenn du sauber bist!“
Er fuhr sich mit den Fingern durch das zottelige Haar und verzog den Mund. „Dort, wo mein Schädel offen war, habe ich eine Kruste, in der meine Haare festhängen. Das ist furchtbar.“
„Ach, auf einmal fühlst du Schmerzen?“ Rat lachte, als Esa ihr über das kurz geschorene Haar strich.
Mit den Schultern zuckend steckte er sich eine krumme Zigarette zwischen die Lippen. „Ist etwas passiert, als ich weg war?“
„Hmmm.“ Sie schippte mit den Fingern und erzeugte eine kleine Flamme, an der Esa die Kippe entzündete. „Beim Hafen ist ein Haus abgebrannt, aber niemandem ist etwas passiert.“
„Hat dich dort jemand gesehen?“, fragte er leise.
„Ich war nicht dort“, sagte sie. „Als das passiert ist, war ich am Markt und habe Fische ausgeweidet.“
„Falls dich trotzdem jemand verdächtig, kümmere ich mich darum“, brummte Esa und spannte die Fäuste an.
Rat fühlte sich warm, wenn er ihr versprach, sie zu verteidigen, obwohl sie nicht wollte, dass er sich ihretwegen Probleme machte. Notwendig war es dieses Mal wahrscheinlich nicht — als weiblicher Feuerteufel war sie unscheinbar im Gegensatz zu den männlichen ihrer Art. Einer von denen würde die Strafe absitzen müssen, wenn die Justiz nicht nach der waren Ursache suchen wollte.
Fast wollte sie sich vornehmen, den Beschuldigten zu finden und zu befreien, aber es schien sinnlos. Esa würde mitmachen, aber sie mochte ihr unscheinbares Leben.
Unbewusst streichelte sie über die Narbe an ihrem Bauch, als Esa eine schwere Hand auf ihre Schulter legte.
„Also, wir war das mit Baden?“, fragte er. „Dann brauche ich auch etwas zu essen … Zigaretten und ein neues Feuerzeug sind auch notwendig.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob die Zigaretten im Budget sind. Außerdem hast du mich für Feuer.“ Sie kicherte. „Aber ich bringe das alles unter, weil ich dich gernhabe.“
Esa steckte die Hände in die erdigen Manteltaschen und senkte den Kopf. „Ich zahl dir das schon wieder zurück, versprochen.“
„Mach dir keine Sorgen“, sagte sie. Er würde das Versprechen vergessen, aber irgendwie machte er für sie alles wieder gut. „Sag, am Markt gibt es diesen neuen Stand, die machen so ein Ding mit Sauerkraut, das musst du probieren. Hört sich das gut an?“
Er nickte. „Großartig.“