(Content Note: Gewalt, Blut)
An einem ungewohnten Ort aufzuwachen war nichts Neues für Esa. Etwas auf seinem Gesicht war ebenfalls nicht ungewohnt. Seltsam war, dass der kalte, feuchte Ort, an dem er sich wiederfand, nach frischer Erde roch.
Mit einem Ächzen wischte er das Etwas aus seinen Augen und zerrieb es zwischen den Fingern; das war die Erde, die er wahrnahm. Bevor er folgern konnte, was das bedeutete, trag ihn ein weiterer Schwall Erde im Gesicht — darunter ein Stein, der ihn an der Stirn traf.
Sein Kopf fühlte sich an wie mit Watte gefühlt. Wie so oft tastete Esa seinen Schädel ab und fand am Hinterkopf eine blutige Kruste um eine fast verheilte Wunde. Als er seine Finger in die Öffnung stocherte, fühlte er Knochensplitter und sah bunte Sterne. Das erklärte, wieso er sich nicht erinnern konnte, wie er hier gelandet war.
Nun musste er herausfinden, wo er war. Wieder wischte er sich die Erde vom Gesicht und versuchte, seine Augen zu fokussieren. Die bunten Schlieren machten es schwer, aber über sich erkannte er den Nachthimmel, davor zwei dunkle Schemen und die Wände eines Loches. Einer der Schemen schaufelte mehr Erde auf ihn.
Esa spuckte einen Mundvoll Schlamm aus, als er sich aufsetzte. Seinen Beinen traute er noch nicht zu aufzustehen, aber sitzend konnte er den Kopf aus dem Grab stecken.
„Hey, was zum Fick“, sagte einer der beiden Schemen mit einer tiefen, maskulinen Stimme.
Durch die Schlieren der Kopfverletzung erahnte Esa, dass der Hörner hatte.
„Wir haben das nicht so gemeint.“ Die Stimme des zweiten war ebenfalls männlich, wenn auch heller. Diese Silhouette schien rein menschlich. „Das ist ein Missverständnis. Das waren wir nicht.“
Der streckte ihm die Hand entgegen. Esa nahm diese nicht an, rieb sich stattdessen die Augen und versuchte sich zu entsinnen, wo er gewesen war, bevor er in einem Loch aufgewacht war. Sein Mund schmeckte nach Galle und Blut, aber da waren noch Spuren von Bier und Zigaretten. Ein Wirtshaus oder eine Party? Solche Abende hatten schon oft unerwartet geendet, aber noch nie in einem Grab.
Er schniefte und rieb seine Nase, aus der es warm tropfte. Vielleicht war es Blut, aber da sein Schädel gebrochen war, war es wohl etwas anderes.
„Wart ihr das?“, fragte er rau.
„Äh“, machte der mit den Hörnern, der Demimensch.
„N-nein, das waren zwei andere Typen“, sagte der andere.
Esa nahm das hin, nickte und richtete sich unsicher auf. Seine Beine schienen nicht mehr richtig mit seinem Hirn verbunden zu sein. Ohne darüber nachzudenken, stützte er sich an der Schulter des Menschen ab, als er sich umsah. Um ihn war es dunkler, als es sein sollte. In Innenstadt waren selbst in der Nacht die Straßen erhellt — richtig, er war nicht in der Stadt. Um ihn herum waren Felder und anstatt des urbanen Hintergrundlärms hörte er das entfernte Rufen von Rindern.
„Aus welcher Richtung seid ihr gekommen?“, fragte Esa. „Ich muss wirklich zurück zu Rat, kennt ihr sie vielleicht?“
Die beiden sagten nichts, aber der kalte Stahl, der sich in Esas Niere schob, war Antwort genug. Er hatte nicht die nötige Koordination, um dem Kerl mit den Hörnern in die Augen zu blicken, deswegen blieb er entspannt und sah auf den Menschen hinab, der einen Kopf kleiner war als er.
Da Messer war nicht lang. Der Demimensch zog es aus Esa und stach weiter zu. Der blieb entspannt und wartete, wie lange das weitergehen würde.
Selbst in der Dunkelheit konnte Esa das Funkeln der Panik in den Augen des Mannes sehen, der entweder unter seinem Gewicht oder vor Furcht bebte.
Er wusste, dass ein normaler Mensch welcher Art auch immer nun schreiben und zusammenbrechen sollte. Es störte ihn, dass sein Mantel und sein Hemd mit jedem Stich mehr Löcher hatten, aber ihm fehlte die Energie, etwas dagegen zu unternehmen.
„Ich glaube, ihr habt mich eben angelogen“, stellte Esa fest.
Der Mensch wand sich aus seinem Griff und hechtete ein paar Schritte davon. „Was für ein Monster bist du?“ Seine Stimme überschlug sich.
„Ein Mensch.“ Esa zuckte mit den Schultern und drehte sich um, um dort den Gehörnten zu sehen, dessen Hand und Ärmel von seinem Blut bedeckt waren. Das Messer steckte noch in Esas Rücken. „Soweit ich weiß. Schwer zu sagen.“
„Verarsch uns nicht“, keifte der Gehörnte. „Du warst tot! Dein Schädel war zertrümmert!“
„So einfach ist das nicht.“ Esa rieb sein Kinn, fühlte die Krusten von Blut und anderen Körpersäften in seinem Bart. „Ich halte ziemlich viel aus.“
Mittlerweile konnte er ohne Hilfe geradestehen. Gerade eine Linie entlangzulaufen, schien ihm wie noch keine gute Idee, aber sein Kopf fühlte sich besser an.
„Dann müssen wir uns mehr Mühe geben“, sagte der Gehörnte mit zittriger Stimme. „Fredrik, tu doch endlich etwas!“
Der Mensch, Fredrik, zog einen Spaten aus dem Boden und näherte sich Esa, schielte dabei aber immer wieder zu seinem Kumpan.
Das war für Esa der richtige Zeitpunkt, das Messer aus seinem Fleisch zu ziehen und es nach den beiden zu werfen, wobei er verfehlte. Das Messer prallte am Boden ab und fiel in das Loch.
Fredrik murmelte etwas, worauf die Schaufel an den Rändern zu funkeln begann – Magie.
„Das wird dir nicht viel bringen“, brummte Esa. „Wisst ihr was? Sagt mir, wieso ihr mich hier verbuddeln wolltet, dann gehe ich einfach.“
„Einen Scheiß werden wir dich gehen lassen“, krächzte Fredrik.
Der Gehörnte hob die Fäuste. „Du weißt ganz genau, was du getan hast, du Schweinehund!“
Eigentlich war es Esa egal; er hatte sich schon so oft in ähnlichen Situationen befunden, und die Erklärung stellte sich sehr selten als interessant heraus. Was auch immer der Grund war, Rat konnte es ihm später erzählen. Wenn Rat es nicht wusste, dann war es nicht wichtig.
„Nein“, sagte er. „Ihr habt mir den Schädel eingeschlagen. Ich erinnere mich an nichts.“
Fredrik jaulte und schlug mit dem Spaten nach Esa, der das Spatenblatt mit dem linken Unterarm abfing. Einer der Knochen darin brach knackend, aber solang der andere heil war, hielt sein Arm stand. Vom Stiel stoben Funken, was wohl ein magischer Effekt sein sollte, den Esa nicht spürte. Mit der anderen Hand ergriff er den Spaten und riss ihm dem Menschen aus den Händen.
„L-Leo“, stammelte Fredrik, als er rückwärts stolperte.
Der gehörnte Demimensch – Leo – trat nach vorne, um seinem Kumpan zu helfen, aber Esa warf die Schaufel nach ihm und stützte seinen gebrochenen Arm, damit der gerade heilte. Das Fleisch fügte sich in nur wenigen Atemzügen zusammen, der Knochen blieb eine Weile länger fragil.
Als Esa den beiden Männern wieder Beachtung schenkte, sah er Fredrik, der neben einem blutenden Leo auf dem Boden saß und dessen verletztes Schienbein betastete, während ersterer wimmerte. Eigentlich der perfekte Moment, den beiden den Spaten um die Ohren zu schlagen und sie in ihrem eigenen Loch zu verschütten — aber Esa war müde und hatte im Moment genug von Gewalt.
„Neues Angebot“, sagte er. „Ihr erzählt niemandem, was hier passiert ist. Dafür versenke ich euch nicht in der Grube dort.“
Fredrik blickte zu ihm auf und nickte.
Esa steckte die Hände in die Taschen seines Mantels, aber in denen fand er bloß Erde. Was er wohl alles auf diesem Abenteuer verloren hatte? Das konnte er später herausfinden, jetzt vermisste er bloß etwas Bestimmtes. „Eine Sache noch. Habt ihr Tabak und Feuer?“
Der Mensch zog eine Packung billigster Zigaretten und schmuddelige Streichhölzer aus der Tasche und warf sie Esa zu, der nichts davon auffangen konnte. Obwohl er keine Schmerzen fühlen konnte, pochte seine Kopfwunde, als er auf allen vieren in der Dunkelheit nach den Zigaretten suchte. Das war wahrscheinlich ein grandioser Zeitpunkt, um ein weiteres Mal von den beiden überfallen zu werden, aber die waren wohl mit sich selbst beschäftigt.
Während die beiden jämmerlichen Gestalten sich um Leos Bein kümmerte, zündete Esa mit viel Mühe eine verbogene Zigarette mit einem feuchten Streichholz an. Er nahm einen tiefen Zug; Nikotin hatte auf ihn keine Wirkung, wie auch Alkohol und Magie ihn nicht beeinflussten. Der Rauch schmeckte furchtbar. Esa war glücklich.
„Ich bin dann mal weg“, teilte er Fredrik und Leo laut mit, bevor er in eine zufällige Richtung stapfte. Die beiden verabschiedeten sich nicht von ihm, was er trotz allem als unhöflich empfand.
Als er rauchend durch die Dunkelheit marschierte, dachte er an Rat. Die wusste vielleicht doch nicht, wie alles angefangen hatte. Wäre die dabei gewesen, hätten die zwei nicht die Gelegenheit gehabt, ihn in der Wildnis zu verscharren.
Aber wenn sie nichts davon wusste, dann konnte er ihr die Geschichte erzählen und sie konnten zusammen darüber lachen — aber vorher musste er sie wiederfinden. Darüber machte er sich keine Sorgen, denn sie hatten sich immer irgendwie gefunden. Er fand sich oft an einem unbekannten Ort wieder, Rat brauchte eine Pause und verschwand für eine Weile; sie waren oft getrennt.
Esa genoss einfach die frische Nachtluft und den scheußlichen Tabak. Das Leben war schön.